4. Sonntag nach Trinitatis (17.7.2011)

Predigt über 1. Mose 50, 15-21 gehalten in der Thomaskirche in Grünwald
am 4. Sonntag nach Trinitatis (17.7.2011)
Lothar Malkwitz

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen, AMEN.

„Erlösung kann zu einem Menschen nicht kommen, ehe er die Schäden seiner Seele sieht und sie zurechtzubringen unternimmt. Erlösung kann zu einem Volke nicht kommen, ehe es die Schäden seiner Seele sieht und sie zurechtzubringen unternimmt. Wer, Mensch oder Volk, der Erkenntnis seiner Mängel keinen Zutritt gewährt, zu dem hat die Erlösung keinen Zutritt. Wir werden in  dem Maße erlösbar, in dem wir uns selber sichtbar werden.“

Mit diesen Worten von Rabbi David von Lelow (gestorben 1813) überliefert von Martin Bu-ber in seinen chassidischen Geschichten, möchte ich Sie, liebe Gemeinde, einladen, sich mit mir auf den Weg zu begeben.

Sie erinnern sich: das heutige Evangelium handelte von dem bekannten Ausspruch Jesu: „Was siehst du den Splitter im Auge deines Nächsten und den Balken in deinem eigenen Au-ge siehst du nicht.“ Das „Schauen“, das Jesus hier anspricht, ist ein „Projektives“: ich „stürze“ mich auf die Fehler und Mängel der Anderen, was in jedem Fall von meinen eigenen Fehlern und Mängeln ablenkt. Tragik-Komischerweise verhält es sich oft so, dass ich genau die „Splitter“ bei Anderen bekämpfe, die ich bei mir selbst unter keinen Umständen wahrnehmen möchte. Gerade die eigenen Kinder eignen sich übrigens hervorragend dafür, das eigene Un-vermögen nicht da wahrzunehmen, wo es hingehört – nämlich bei mir selbst! – sondern es im Anderen zu zementieren. Aber natürlich geschehen Projektionen am laufenden Band, überall da, wo Beziehungen sind.

„Erlösung kann zu einem Menschen nicht kommen, ehe er die Schäden seiner Seele sieht und sie zurechtzubringen unternimmt.“  

Anders ausgedrückt: ein gelöstes, ein entspanntes Leben kann ich erst dann führen, wenn ich die Schäden meiner Seele bei mir (und nicht mehr bei anderen) sehe und sie lerne zu beheben. Das ist die andere Bewegung: ich werfe nicht mehr das, was ich bei mir nicht sehen will, nach außen, sondern nehme es in mich hinein, erkenne es als Teil meiner selbst an.

Nun ist das leichter gesagt, als getan: denn es gibt einen heftigen Widerwillen in uns Men-schen, uns mit uns selbst zu beschäftigen. Warum das so ist, weiß ich auch nicht; ich vermute, es hat damit zu tun hat, dass es ziemlich unangenehm ist, die unweigerlich vorhandenen Bal-ken im eigenen Auge kennen zu lernen.
Es geht ja schon damit an, dass wir zwar unsere Mitmenschen, unseren Nächsten sehen kön-nen, aber uns selbst, unser eigenes Antlitz nicht.

Wir sehen unser eigenes Antlitz nur mit Hilfe eines Hilfsmittels: dem Spiegel. Die Verwen-dung eines Spiegels scheint übrigens so alt wie die Menschheit selbst zu sein. Und das, was wir sehen, ist das, was der Spiegel uns zurück- wirft: re-flektiert. Wir sehen uns nur durch Re-Flexion! Ich meine das nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich: die Fähigkeit, das eigene Leben zu reflektieren, ermöglicht erst ein Sich-Auseinandersetzen mit sich selbst. Und nur wer es wagt, sich mit sich selbst auseinander zu setzen, kann die Schäden seiner Seele sehen lernen. Und da ist es doch sehr verständlich, wenn man sagt: ich will das gar nicht so genau wissen: meine Schattenseiten, meine Mängel, meine Fehler…

Aber dann ist es halt auch schwierig mit der Erlösung, mit dem Los-Lassen.
Was wir nicht erinnern können, können wir auch nicht vergessen. Es quält.

Unser heutiger Predigttext ist ein wunderschönes Beispiel dafür, wie Erlösung zu einem Men-schen, zu einer Gruppe von Menschen kommen kann. Es ist das Ende der Ihnen bekannten Josefsgeschichte. Josef hatte seine Familie, seine Brüder und seinen Vater nach Ägypten ge-holt und es hatte auch Versöhnung gegeben. Aber durch den Tod des Vaters, durch den Tod von Jakob, kamen bei den Brüdern alte Unsicherheiten und Ängste wieder auf.

„15 Als Josefs Brüder sahen, dass ihr Vater tot war, sprachen sie: ‚Wenn nun Josef uns befeh-dete und vergälte uns all das Böse, das wir ihm bereitet haben, wenn er uns es vergälte?!’ 16 Sie entboten dem Josef, ließen sagen: ‚Dein Vater hat vor seinem Tod geboten und gesagt: 17 ‚So sollt ihr zu Josef sagen: ‚Ach vergib doch die Abtrünnigkeit (das Verbrechen) deiner Brü-der und ihre Versündigung, dass sie dir Böses bereitet haben. Nun, vergib doch der Abtrün-nigkeit der Knechte des Gottes deines Vaters!’
Josef weinte als man’s zu ihm redete.
18 Auch seine Brüder selber gingen, sie fielen vor ihm nieder und sprachen:
‚Hier sind wir, da hast du uns als Knechte!’
19 Josef aber sprach zu ihnen:
‚Fürchtet euch nimmer! Bin ich denn an Gottes Statt?
20 Ihr zwar, ihr habt Böses mit mir geplant,
Gott aber hat’s umgeplant zum Guten,
um zu tun, wies heute an den Tag kommt:
ein großes Volk am Leben zu erhalten.
21 Nun aber fürchtet euch nimmer, ich selber will euch und eure Kleinen verpflegen. So trös-tete er sie und redete zu ihren Herzen.“ (1.Mose 50, 15-21; Übersetzung nach M. Buber)

Es ist oft so, dass eine Krise Gefühle der Verunsicherung und des Misstrauens hervorruft. Nach dem Tod des gemeinsamen Vaters waren alle zwölf Brüder ohne „väterliche Obhut“ – sich selbst überlassen. Dies weckte in den Brüdern, die Josef damals an die durchziehende Karawane verkauft hatten, die alten Schuldgefühle, dass ihr Verhalten ihrem jüngeren Bruder gegenüber nicht gerade rühmlich war.

Nun ist es mit Schuldgefühlen etwas Paradoxes: einerseits sind sie für den Weg der Erlösung unbedingt notwendig. Wer sich nicht schuldig fühlt, kann mit Erlösung nichts anfangen. Wer sich nicht schuldig fühlen kann, kann nicht erlöst werden. Andererseits: wer sich zu sehr schuldig fühlt, der kann auch nicht erlöst werden. Wer sich zu sehr schuldig fühlt, kann näm-lich seine Schuld nicht mehr ertragen. Er ist unter der Last seiner Schuld zusammengebro-chen. Seine Rettung ist, seine Schuldgefühle hinaus zu werfen („Vorwurf“) in die Welt: so werden die Splitter der Anderen ganz groß und wichtig.
 
In den Schuldgefühlen der Brüder entsteht die Angst: und wenn sich Josef jetzt doch an uns rächt – jetzt, wo der Vater tot ist, vielleicht hat er sich ja zu Lebzeiten des Vaters nur nicht getraut? Und wenn er uns jetzt all das Böse vergilt, was wir ihm angetan haben?

Vergeltung – wie viel Leid ist geschehen und geschieht täglich aus dem einfachen Beweg-grund der Vergeltung: dass Böses gesühnt werden muss, dass Böses mit Bösem vergolten werden soll. Das hat mit der Unerträglichkeit von Scham- und Erniedrigungsgefühlen zu tun. Es ist unser Stolz, der uns zur Vergeltung zwingen will. Wenn wir dem Rat des Paulus, ver-gelte nicht Böses mit Bösem, sondern überwinde das Böse mit Gutem, folgen wollen, müssen wir diesen Stolz überwinden und unsere Kleinheitsgefühle (nicht zurück geschlagen zu haben) aushalten. Und sicher auch den Spott all derer, für die es reine Blödheit ist, keinen Vergel-tungsschlag zu führen.

Die Brüder haben ja selbst nach dem Prinzip Vergeltung gehandelt: Josefs Verkauf an die vorbeiziehende Karawane gründete in dem Hass und dem Neid der Brüder auf seine Sonder-stellung beim Vater, von dem er ein besonders schönes Gewand bekommen hatte. Hinzu ka-men seine Träume, in denen sich seine Brüder vor ihm verneigten und die er auch noch seinen Brüdern erzählte. Man kann schon verstehen, dass es seinen Brüdern irgendwann reichte.

Und jetzt, nachdem Josef Karriere gemacht hatte, war er der Mächtige geworden, und es wäre ihm in seiner Position ein Leichtes gewesen, sich an seinen Brüdern zu rächen – genau so, wie sich seine Brüder damals an ihm rächten. Auch das gilt: dass wir am meisten Angst davor haben, das erleiden zu müssen, was wir selbst anderen zugefügt haben!

Wenn die Brüder ihrer Angst vor der Rache des Josefs unterliegen, müssen sie fliehen – oder Josef ermorden. Beides sind verzweifelte Alternativen, mit der Schuld und mit der Angst um-zugehen.
Den Brüdern gelingt ein dritter Weg. Der Weg des größten Risikos. Die Brüder wagen die Beziehung zu Josef:

„Sie entboten dem Josef, ließen sagen: ‚Dein Vater hat vor seinem Tod geboten und gesagt: 17 ‚So sollt ihr zu Josef sagen: ‚Ach vergib doch die Abtrünnigkeit (das Verbrechen) deiner Brüder und ihre Versündigung, dass sie dir Böses bereitet haben. Nun, vergib doch der Ab-trünnigkeit der Knechte des Gottes deines Vaters!’“

Die Brüder berufen sich auf die Autorität des gemeinsamen Vaters, hoffend, dass die Liebe Josefs zu seinem Vater sein Herz milde stimmt. Um auf den anderen zugehen zu können, ihm sagen zu können, ich habe dir Böses getan und jetzt bitte ich dich um Verzeihung, bedarf es eines inneren Raumes. Solange ich das Gefühl habe, mein Reue, meine Bitte um Ent-Schuldigung vernichtet mich, bleibt es hart in mir.  „Sorry seems to be the hardest word…“ – das gilt solange, bis ich einen “Raum außerhalb”, eine “dritte Dimension” entdecke. Dieser „Dritte“ ist in unserer Geschichte der gemeinsame Vater – in unserem Leben ist es unsere lebendige Beziehung zu Gott.  

„Und Josef weinte, als er dies hörte.“

Ohne Tränen geschieht keine Erlösung. In den Tränen löst sich der Schmerz des Erstarrten, der vereisten Beziehungen, in denen es nicht vorwärts und nicht rückwärts geht, wo jeder Recht haben will, wo Macht und Zwang und Schuld oft lebenslang aneinander fesseln.
 
Und dann findet die persönliche Begegnung mit Josef statt. Sie werfen sich vor ihm nieder: „Da hast du uns als Knechte!“

Das ist gefährlich. Wenn ich mich zu sehr vor dem Anderen erniedrige, muss ich ihn wieder hassen. So kann ein endloser Kreislauf aus Selbsterniedrigung und Ablehnung entstehen. Auch so geschieht keine Erlösung.

Erlösung geschieht nur da, wo Würde gewahrt bleibt oder Würde neu entsteht. Es ist die wichtigste Aufgabe der Autoritäten im Kleinen wie im Großen, dafür Sorge zu tragen, dass die Würde der ihnen Anvertrauten gewahrt bleibt.

Josefs Antwort verrät, dass er ein vorbildlicher Führer ist:
„‚Fürchtet euch nimmer! Bin ich denn an Gottes Statt?
Ihr zwar, ihr habt Böses mit mir geplant,
Gott aber hat’s umgeplant zum Guten,
um zu tun, wies heute an den Tag kommt:
ein großes Volk am Leben zu erhalten.
Nun aber fürchtet euch nimmer, ich selber will euch und eure Kleinen verpflegen. So tröstete er sie und redete zu ihren Herzen.“

„Fürchtet euch nimmer!“ – Josef weiß, wie sehr das Niederwerfen vor ihm Ausdruck von Angst ist. Ein wenig fehlt den Brüdern noch das Vertrauen in die Gutherzigkeit ihres Bruders Josef. Und dass auch Josef sich geändert hat, er kein in sich selbst verliebter Mann ist, dem es darauf an kommt, verehrt zu werden.

„Bin ich denn an Gottes Statt?“

Diese Antwort Josef ist zugleich die Antwort auf die Frage: wozu brauchen wir heute noch einen Glauben an Gott? Unser Glaube an Gott den Allmächtigen schützt  uns davor, uns selbst für allmächtig zu halten. Gerade jemand, der gesellschaftliche Verantwortung trägt, sollte seine eigenen Allmachtsfantasien durchschaut (re-flektiert) haben. So richtet er die Anderen auf. So geschieht: „Einer trage des anderen Last.“

Das ist kein Vertuschen des Geschehenen. „Ihr habt Böses mit mir geplant … Gott aber hat’s umgeplant zum Guten.“ Mit diesem Gedanken erübrigt sich das Schmieden von Racheplänen, löst sich vergangenes Unrecht auf, geschieht Erlösung: sowohl für Josef als auch für seine Brüder. Und Josef geht noch weiter: er bezieht das ganze Geschehen auf Gottes gute Planung: das ist Gottes Plan, „ein großes Volk am Leben zu erhalten.“

„Erlösung kann zu einem Menschen nicht kommen, ehe er die Schäden seiner Seele sieht und sie zurecht zubringen unternimmt. Erlösung kann zu einem Volke nicht kommen, ehe es die Schäden seiner Seele sieht und sie zurechtzubringen unternimmt.“

Das Sehen der Schäden meiner/unserer Seele erfordert viel Mut, Kraft und vor allem Vertrau-en. Vertrauen in einen barmherzigen Führer, der meine Nacktheit, mein Mich-Ausliefern nicht missbraucht. Josef ist das Vorbild eines Führers, den jede Zeit und jede Gesellschaft dringend braucht. Seine Eigenschaften sind:
–    Klarheit: das Verbrechen wird als Verbrechen benannt.
–    Einfühlungsvermögen in den anderen (Empathie): Und Josef weinte, als seine Brüder ihn um Vergebung bitten.
–    Barmherzigkeit: Nicht um Rache geht es, sondern um tragfähige Unterstützung für den, der bereit ist, die Schäden seiner Seele zu sehen. „Einer trage des Anderen Last.“
–    Demut, sich nicht an die Stelle Gottes zu setzen. Gerade so und nur so wird die erlö-sende Kraft Gottes wirksam."Demut", so sagte einmal der Baal-Schem, der Begründer der chassidischen Bewegung, "Demut bringt zur Menschenliebe und zur Gottesliebe und wer wahrhaft Demut empfindet, der kann auch den sündhaften Menschen lieben, denn er sagt sich: er ist immer noch besser als ich."

Gebe Gott, dass wir Menschen wie Josef kennen lernen dürfen. Gebe Gott, dass wir selbst unseren Mitmenschen so begegnen können, wie Josef seinen Brüdern. Gebe Gott, das wir in Klarheit, Einfühlung, Barmherzigkeit und Demut leben dürfen.  Gebe Gott, dass in uns und durch uns die Heiterkeit des Erlöst-Seins geschieht, und so Gott selbst in uns lebendig wird,  durch Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, AMEN.
Und die Liebe Gottes, die höher ist als all unser menschliches Verstehen, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus AMEN.

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