Predigt am drittletzten Sonntag im Kirchenjahr

Predigt am drittletzten Sonntag im Kirchenjahr in der Thomaskirche in Grünwald über Lukas 11, 14 – 23
Jesus als Therapeut    

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen, AMEN.

Liebe Gemeinde,

es sind hauptsächlich drei „Felder“, in denen Jesus aus Nazareth sich wirksam aufhielt: meditieren, predigen und heilen. Die Texte der letzten Sonntage legen den Akzent auf das letzte Feld: das des Heilens.

Jesus als Therapeut also.

Die Grundbedeutung von „therapeuein“ lautet: „Sorge tragen für den anderen“. Und der Therapeut (der „Therapon“) ist ursprünglich der „Kriegsgefährte“, der „freie Mann“, der mit seinem Herrn freiwillig in den Krieg zieht – und nicht der „Knecht“ („Doulos“) der Sklave und Abhängiger seines Herrn ist.

Therapie wird oft missverstanden als ein Geschehen, bei dem einer aktiv und einer passiv, einer frei und einer abhängig ist. Das Missverständnis beruht auf der falschen Idee, als könnte einer den anderen heilen. Dies passt besser zu einer Operation als zu einer Therapie. Aber sogar bei einer Operation ist man zu dritt: ohne den Körper des Patienten „funktioniert“ auch eine Operation nicht.

Obwohl in vielen Therapiegeschichten Jesu der Glaube des „Patienten“ in den Mittelpunkt gestellt wird, – „ich glaube, hilf meinem Unglauben!“ (Markus 9,24) – ist doch die Verführung groß, den Heiler als Helden zu idealisieren: „Mir nach, spricht Christus unser Held“! (EKG 385) Darin bilden sich die hohen Wünsche an einen „Heiler“ und „Retter“, an einen „Messias“ eben ab.

Für mich ist Jesus Christus in erster Linie ein Kampfgenosse, der mit mir in den Krieg zieht: in den Krieg gegen jene Mächte, die mich lähmen, die mich blind sein lassen, die mich verstummen lassen in der Wahrnehmung des Fremden, des Anderen. Jene Mächte, die mich verführen, rechthaberisch meine Position zu verteidigen, jene Mächte, die es hassen, dass jemand anderes gute Ideen hat, etwas besser weiß und kann als ich. Es sind jene Mächte, die sich mit aller Macht gegen das Erleben des Reiches Gottes stemmen; des Reiches Gottes, das ja bekanntlich kein jenseitiges Paradies, sondern ein sehr diesseitiges Geschehen ist, in dem wir Menschen lernen, uns gegenseitig wahrzunehmen, zu achten, zu respektieren und füreinander Sorge zu tragen.

Das Reich Gottes beginnt mit der Fähigkeit, miteinander zu reden zu lernen: „Und er trieb einen bösen Geist aus, der war stumm. Und es geschah, als der Geist ausfuhr, da redete der Stumme. Und die Menge verwunderte sich.“ (Lukas 11, 14 – der Beginn unseres heutigen Predigttextes.)

Der Geist der Stummheit ist insofern ein „böser Geist“, als er Beziehung verhindert. Vor kurzem hat mir ein Patient am Ende einer intensiven Therapie-Stunde gesagt: „es ist so eine Mühe, Worte für mich zu finden. Aber die gefundenen Worte tun gut.“ Stummheit lastet wie eine schwere Grabplatte auf der Seele, belastet Leben. Gelingt es, den „bösen Geist der Stummheit“ auszutreiben, beginnt der Patient zu sprechen. Er beginnt, bekannte aber sprachlose Gefühle in Sprache zu fassen. Und so beginnt er, „geistlich“ zu wachsen, sich zu entwickeln. Er wird allmählich befreit von sprachlosem Tun-Müssen. Es gehört zum Wesen von Zwang und Gewalt, dass sie keine Sprache hat.

„Und die Menge verwunderte sich“. Die Menge, das ist die Gruppe, die das Geschehen zwischen Jesus und seinem Patienten beobachtet. Die Menge verwundert sich: es geschieht etwas Unerwartetes, nicht Vorhergesehenes: ein Stummer beginnt zu sprechen. Unerwartetes, Unvorhergesehenes, macht Gefühle, die verwirren. Gefühle, die überwältigend sein können. Um die Gewalt der Gefühle einzudämmen, entziehen wir ihnen (den Gefühlen) den Boden.

Das geht schnell und einfach: man wertet das, was überwältigende Gefühle machen würde, ab, und übergießt es mit einem Eimer aus Spott und Hohn: „Einige aber unter ihnen sprachen: er treibt die bösen Geister aus durch Beelzebul, ihren Obersten.“ (V. 15) Eine moderne Variante dieser Gehässigkeit ist die Bemerkung von Karl Kraus zur Psychoanalyse: „Psychoanalyse ist die Krankheit, die sie vorgibt zu heilen“. Indem ich etwas abwerte, erspare ich mir, mich damit ernsthaft zu beschäftigen. (Übrigens: das Wort „Beelzebul“ ist selbst ein Spottname; ursprünglich war damit der Stadtgott von Ekron im Land der Philister gemeint; Beelezebul heißt: „erhabener Fürst“, Beelzebub heißt „Herr der Fliegen“!) Mindestens genauso raffiniert ist eine andere Variante des Sich nicht Einlassens: Beweise fordern! Beweise erst einmal, dass es ein Unbewusstes gibt. Beweise erst mal, dass es mir etwas bringt, wenn ich bei dir eine Therapie mache. Beweise mir erst mal, dass es besser ist zu vertrauen als zu kontrollieren! Beweise mir erst mal, dass ich etwas davon habe, in die Kirche zu gehen!

„Andere aber versuchten ihn und forderten von ihm ein Zeichen vom Himmel. Er aber erkannte ihre Gedanken und sprach zu ihnen: Jedes Reich, das mit sich selbst uneins ist, wird verwüstet, und ein Haus fällt über das andere. Ist aber der Satan auch mit sich selbst uneins, wie kann sein Reich bestehen? Denn ihr sagt, ich treibe die bösen Geister aus durch Beelzebul. Wenn aber ich die bösen Geister durch Beelzebul austreibe, durch wen treiben eure Söhne sie aus? Darum werden sie eure Richter sein. Wenn ich aber durch Gottes Finger die bösen Geister austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen. Wenn ein Starker gewappnet seinen Palast bewacht, so bleibt, was er hat, in Frieden. Wenn aber ein Stärkerer über ihn kommt und überwindet ihn, so nimmt er ihm seine Rüstung, auf die er sich verließ, und verteilt die Beute. Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich; und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut.“

„Er aber erkannte ihre Gedanken…“: das ist das Schwierigste in der Therapie ebenso wie im alltäglichen Zusammensein: zu erkennen, wozu der Andere seine Gedanken gerade verwendet. Man kann Gedanken verwenden, um zu verstehen, man kann Gedanken verwenden, um miss zu verstehen, um Verwirrung zu stiften. Der Teufel, griechisch Diabolos (der „Durcheinanderwerfer“) ist die Personifizierung des Verwirrung-Stiftens.

Verwirrung entsteht aber auch, wenn völlig Unerwartetes geschieht: dass ein Stummer lernt zu reden. Es scheint eine göttliche und eine teuflische Verwirrung zu geben. Sokrates wurde zum Tode verurteilt, weil er – so ein „Verbrechen“ – die Jugend verführe.
Sokrates – ein Verführer? Die große Frage ist: wie können wir unterscheiden, ob hinter meiner Verwirrung Gott oder der Teufel steckt? Wie können wir einigermaßen sicher sein, dass wir mit unserem Denken und unserem Tun nicht dem Teufel zuarbeiten?  Wie können wir einigermaßen sicher sein, dass unser Glaube nicht selbst eine Verführung ist?

Wir brauchen ein Intuition, der wir vertrauen können. Jesu Intuition ist es, dass die Gedanken der Menge dazu dienen, ihm eine Falle zu stellen. Die Falle wäre, ein Zeichen zu geben. Es ist dieselbe Falle, in die der Therapeut tappt, wenn er anfängt seinem Patienten zu beweisen, dass er es gut mit ihm meint, dass er ihm nur helfen will. Jesus gibt kein Zeichen – Jesus heilt über wachsendes Vertrauen: „dein Glaube hat dir geholfen“ (Matth. 9,22) Glaube, Vertrauen lässt sich nicht beweisen. Vertrauen lässt sich nur erleben – oder eben auch nicht.-

Aber das ist nicht alles: Jesus gibt auch eine Antwort auf die Unterstellung, er treibe die bösen Geister mit ihrem Obersten, mit Beelzebul aus.
Jesus weist darauf hin, wenn er die Dämonen mit Beelzebul austriebe, dann wäre das Reich des Teufels ja mit sich selbst uneins und es würde in sich selbst zerfallen. Jesus geht es aber nicht um Zerfall, sondern um Wachstum, um heilsames Wachstum. So erklärt er die Heilung des Stummen lapidar so: „Wenn ich durch Gottes Finger die bösen Geister austreibe, so ist das Reich Gottes zu euch gekommen.“ „Die Finger Gottes“: das sind die Finger der vorsichtigen Berührung, der liebevollen Umarmung – die den Anderen berühren ohne ihn gefangen zu nehmen, ohne ihn zu vereinnahmen. Nicht der drohende Zeigefinder ist heilsam, sondern die sanfte Berührung. Die auch schmerzhaft sein kann: nämlich dann, wenn der Finger auf die Wunde gelegt wird. Auch dies gehört zur Heilung dazu: das Bewusst-Werden des eigenen Verwundet-Seins. Fließen dann die Tränen, so können die Wunden allmählich ausheilen. „Selig seid ihr, die ihr hier weint, denn ihr werdet lachen…“ (Lukas 6,21). In jeder echten Berührung, sei es im Lachen, sei es im Weinen, atmet der Geist der Reiches Gottes: „… so ist das Reich Gottes zu euch gekommen.“
 
„Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, jetzt ist die Zeit des Heils!“ (2.Kor. 6,2) – dieses „Jetzt“ ist jederzeit möglich – es sind wir selbst, die es verhindern mit unserem Misstrauen und unserer Angst gegenüber der fremden Berührung. Zwischen dem Stummen und Jesus ist Reich Gottes geschehen – ganz einfach deshalb, weil jemand berühren konnte oder, was dasselbe ist, weil sich jemand hat berühren lassen.
Der Teufel berührt nicht – er verführt dazu, das Andere, den Anderen zu verteufeln. So sagt Jesus: „eure Söhne werden eure Richter sein“ (V. 19). Das heißt, ihr verteufelt nicht nur mich, sondern all jene aus euren eigenen Reihen, die sich ernsthaft bemühen, anderen zu helfen. Die Bewertung, die Verurteilung, fällt auf den Bewerter zurück: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!“ (Matth. 7,1)
Nun: wer richtet, fühlt sich stark. Wer, verurteilt, wähnt sich im Recht. Es stimmt schon: ein starkes Feindbild schafft ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl. „Wenn ein Starker gewappnet seinen Palast bewacht, so bleibt, was er hat, in Frieden.“ (V. 21) Üblicherweise bewachen wir unseren Palast über Urteile und Bewertungen: falsch, richtig, böse, gut, schön, hässlich usw. Üblicherweise bewachen wir unseren Palast mit unhinterfragten Vorstellungen: Macht ist gut, Ohnmacht schlecht; Geld haben ist gut, keines haben ist schlecht; krank sein ist schlecht, gesund sein ist gut. Gute Noten, schlechte Noten usw. …
„Wenn aber ein Stärkerer über ihn kommt und überwindet ihn, so nimmt er ihm seine Rüstung, auf die er sich verließ, und verteilt die Beute.“ (V. 22) Jesus beschreibt nichts anderes, als eine gut verlaufende Therapie. Der Stärkere, der kommt, ist die sanfte Gewalt der Liebe. Die Liebe erkennt: all diese Bewertungen und Beurteilungen sind selbstgemachte Trugbilder, die in der Tiefe nicht tragen. Wer sein Haus auf Bewertungen baut, der hat auf Sand gebaut. Nicht Bewertungen, sondern Werte geben Grund und Fundament. Werte, die aus der Wahrheit der Liebe strömen. „So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung“ (Römer 13, 10). Vertrauen und Sorge tragen und zwar da, wo ich es gerade kann, wo ich gerade hingestellt bin. Und gerade da geschieht Reich Gottes mitten unter uns. Die Bewegung des Reiches Gottes ist eine integrative: eine Bewegung des Zusammen-Sammelns. Die Bewegung der Bewertungen ist eine Zerstreuende: das Falsche wir vom Richtigen weggenommen, Gesundheit soll mit Krankheit nichts mehr zu tun haben, kurz: das eine ist toll, das andere ist bäh.
Aber bewertet und polarisiert nicht Jesus selber, wenn er sagt: „Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich!“?
Sicher kann man dies als einen polarisierenden Satz verstehen. Wenn wir aber sagen, in Jesus Christus hat das Prinzip des heilsamen Vertrauens, der heilenden Liebe ein menschliches Antlitz bekommen, dann ist der Satz wahr. Denn man kann nicht gleichzeitig in der Liebe und im Vertauen leben und anderen Menschen die eigenen Urteile und Bewertungen überstülpen. Man kann auch nicht gleichzeitig in der Liebe und im Vertrauen leben und andere Menschen ausbeuten. Oder, ganz einfach: man kann nicht gleichzeitig verbinden und Kontakt abbrechen. Polar wird der Satz erst dann, wenn wir mit unserem „Helden“ Jesus meinen, die Nicht- oder Andersgläubigen abwerten zu dürfen. Dies ist übrigens auch nicht im Sinne Jesu, wie es wenig später heißt (Lukas 11,27f.): „Und es begab sich, als er so redete, da erhob eine Frau im Volk ihre Stimme und sprach zu ihm: ‚Selig ist der Leib, der dich getragen hat, und die Brüste, an denen du gesogen hast.’ Er aber sprach: ‚Ja, selig sind die, die das Wort Gottes hören und bewahren.“
 
Und das Wort Gottes ist nichts anderes als das Erleben dessen, was gerade Not tut: für einen selbst und für die Menschen, Tiere und Pflanzen mit denen ich gerade beisammen bin:

„Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, jetzt ist der Tag des Heils.“
 
Oder (einmal mehr) mit Meister Eckehart:
„Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart.
Der wichtigste Mensch ist immer der, der dir gerade gegenübersteht.
Das notwendigste Werk ist stets die Liebe.“                                              AMEN.

Und die Liebe Gottes, die höher ist als all unser menschliches Verstehen, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus AMEN.

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