Dr. Lothar Malkwitz

Predigt über 1. Mose 22, 1-19 am Sonnntag Judica 2024

Liebe Gemeinde,

„Schaffe mir Recht, Gott!“ ist die Überschrift des heutigen Gottesdienstes am Sonntag Judica.

„Dann haben Sie Recht – und sonst nichts!“ hat meine Supervisorin gesagt, wenn ich wieder einmal um mein „Recht-Haben“ gegenüber Patienten oder Kollegen gekämpft habe. Und, bei genauerer Betrachtung: Wie soll das denn gehen: „Recht zu haben“?

Recht ist kein Besitz.

Man kann – schwer genug – Recht sprechen.

Man kann sich im Recht fühlen.

Aber Recht haben?

Wer überzeugt davon ist, Recht zu haben, ist ein Rechthaber.

Mit solchen Menschen in ein kreatives Gespräch zu kommen, ist unmöglich.

Es fühlt sich an, als würde man gegen eine Wand reden.

Klassische Antworten des Rechthabers sind:

„Das habe ich mir schon gedacht!“

Oder „Ja, ja, ich weiß schon …“

Recht haben und versuchen, den Anderen zu verstehen schließen sich nämlich aus.

Verstehen bedeutet Beweglichkeit, bedeutet im Gespräch den eigenen Stand-Punkt verlassen, sich selbst in Frage stellen zu lassen, sich selbst in Frage zu stellen. Versuchen, aus der Sichtweise, der Perspektive des Anderen heraus zu erleben.

Da entstehen dann Sätze wie: „Ach – so siehst du das also… „

Die Haltung dazu ist Neugierde: „Ich bin neugierig, wie du das siehst…“

Wem es wichtig ist, Recht zu haben, der wird auf andere Meinungen, Sichtweisen als seine eigene nicht besonders neugierig sein. Er kann die Perspektive, aus der heraus er auf das „Leben“ blickt, nicht wechseln. Seine Perspektive ist erstarrt. Sie ist die einzig denkbare. Das Recht-Haben-Wollen oder auch -Müssen verhindert die Möglichkeit des Perspektivenwechsels, verhindert die Bereitschaft, sich in die Sichtweise meines Mitmenschen – der ja immer der „Andere“ ist – einzufühlen.

Sich-einfühlen bedeutet, Nähe zum Anderen, mir Fremden zuzulassen.

Für den Rechthaber ist Einfühlung in den Anderen, Sich-vom-Anderen-Erreichen-Lassen und versuchen, den Anderen zu erreichen, Ausdruck von Schwäche.

Stärke hingegen ist für ihn, „sein Ding durchzuziehen“, zu wissen, wo es lang geht, alles im Griff zu haben. An der Stelle der Einfühlung steht die Bewertung des Anderen. Natürlich auf dem Hintergrund der eigenen Perspektive.

In bestimmten Denk-Kreisen wird dies als Männlichkeit propagiert.

Ich bin anderer Meinung: Ich halte dies für verdrehte, pervertierte Männlichkeit.

Die Rechthaber gibt es überall: In der Wirtschaft, in der Politik, in den Kirchen.

„Unfehlbar“ sind sie – oder glauben jedenfalls, es zu sein.

Für die Rechthaber sind meine Predigtgedanken höherer Blödsinn. Wenn ich frei bleiben will, muss ich mich damit abfinden, sie nicht erreichen zu können.-

In dem heute zu predigenden Text ist es der Satan, der als „Rechthaber“ Gott herausfordert. Er „versucht“ ihn – heißt es – mit dem Satz: Kein Mensch auf dieser Welt dient dir bedingungslos. Nicht einmal dein Lieblings-Mensch Abraham: Du musst ihn nur dazu auffordern, dass er sein Liebstes hergibt – und du wirst sehen: Er wird dir den Gehorsam verweigern.

Das Liebste aber, das Abraham gemeinsam mit seiner Frau hatte, war beider Sohn Isaak. Der Name Isaak bedeutet: „Zu absurd, um noch daran zu glauben“, oder „zu lächerlich, um darauf zu bauen“ oder: „Es ist einfach zum Lachen“. Sein Name hat mit seiner Entstehung zu tun: Sara, die Frau Abrahams und Mutter Isaaks, lacht Gott aus, als er ihr sagt, sie wird schwanger werden und einen Sohn gebären. Sie meint, sie wäre zu alt, hätte schon lange ihre Tage nicht mehr. Es sei also unmöglich, einen Sohn zu bekommen.

Und weil sie Gott auslachte, muss sie so lange schweigen, bis sie Isaak auf die Welt bringt. (Das wäre ein eigenes Thema: Das Schweigen der Sara.)

Und diesen lang ersehnten, schon aufgegebenen und dann doch auf die Welt kommenden Isaak soll Abraham jetzt – auf Gottes Befehl hin – opfern!

„Gott versuchte Abraham“ – so geht die Geschichte im 1. Buch Mose an.

Keine Ahnung warum: Das bleibt offen. Eine jüdischen Sage führt an dieser Stelle wie gesagt den Satan ein: Er ist die personifizierte Versuchung. Mit diesem Kunstgriff wird Gott „geschont“. Nicht Gott, sondern Satan versucht. Aber natürlich ist Satan auch eine Seite von Gottes Schöpfung, weil es ein „außerhalb Gottes“ nicht gibt. Und so heißt es: „Gott versuchte Abraham“.

Satan heißt wörtlich: Der (Ver-)Hinderer.

Satan verführt dazu, die Einfühlung in den Anderen, in das Fremde aufzugeben.

Satan ist die Personifizierung der Kraft, die Einfühlung in den Anderen, Verständnis, Rücksichtnahme, Nachgiebigkeit verhindern möchte.

Satan sagt: „Gib den Menschen genug zum Essen und einen starken Führer“ – mehr wollen die gar nicht.

Satan macht aktuell im sogenannten Populismus und seinen Repräsentanten Karriere. Und natürlich ist Satan ein Feind demokratischen Denkens und Handelns, ist dieses doch auf der Freude an Vielfalt und Buntheit aufgebaut.

In der genialen Geschichte „Der Großinquisitor“, die Dostojewski in seinem Roman „Die Brüder Karamasow“ einflicht, wird Jesus wegen Ketzerei von der Inquisition in Spanien hinter Gittern gebracht. Die Rahmenhandlung: Er war noch einmal auf die Erde gekommen, und zwar in Spanien, als die Inquisition auf ihrem Höhepunkt war. Jesus hatte noch einmal seine Predigt von Liebe und Barmherzigkeit gehalten, hatte noch einmal ein dem Tode geweihtes Mädchen mit den Worten: „Talita kumi – steh auf und geht“ geheilt. Und eben dieser Jesus wird von den Schergen der Inquisition abgeführt und in den Kerker gebracht.

In dunkler Nacht besucht ihn der Großinquisitor im Gefängnis und hält einen langen Monolog. Er hält Jesus vor, dass sein größter Fehler darin bestanden hätte, die Verführungen des Satans abgelehnt zu haben. Aber die Kirche habe diesen Fehler inzwischen ausgebügelt:

„Wir sind nicht mit dir verbündet, sondern mit ihm (nämlich dem Satan) – das ist unser ganzes Geheimnis.“ Der Grund für dieses Bündnis sei die Sehnsucht des Menschen, jemand zu haben, „vor dem er sich beugen kann, wem er sein Gewissen übergeben kann.“ Auf dem Boden dieser Sehnsucht wurden und werden die politischen wie religiösen Diktaturen errichtet. (In Klammern: Vor kurzem sagte mir jemand, der in der DDR aufwuchs: „Ich habe auch mit geschrien, dass wir das Volk sind. Weil ich nicht kapiert habe, wie anstrengend es ist, in Freiheit zu leben, wo dir keiner sagt, was falsch und was richtig ist und was du machen sollst. Ich kann Ihnen nur sagen: Ich wünsche mir die gute, alte DDR zurück!“)

Doch zurück zu unserer Geschichte von der Opferung Isaaks:

Satan will Gott beweisen, dass niemand auf der Welt sich ihm bedingungslos hingibt. „Nimm ihm sein Liebstes weg, und er wird dir nicht mehr folgen!“

Und so versucht Satan mit teuflischer Raffinesse, die Opferung Isaaks viermal zu verhindern:

Zum ersten wendet er sich in der Gestalt eines alten Mannes, gebeugt und demütig an Abraham und sagt: „Du einfältiger Idiot. Niemals würde Gott von dir verlangen, dass du deinen Sohn opferst, den er dir selbst nach vielen Jahren geschenkt hat!“ Aber Abraham fällt nicht darauf ein, er schreit den Satan an, worauf dieser sich verzieht.

Jetzt versucht er Isaak zu verführen und erscheint ihm in Gestalt eines schönen Jünglings und sagt: „Dein Vater ist alt und dement. Er will dich heute seinem Gott opfern. Höre nicht auf ihn. Lass deine teure Seele und deine schöne Gestalt doch nicht von der Erde verschwinden.“ Isaak aber erzählt diese Begegnung seinem Vater, worauf dieser ihn davor warnt, auf den Teufel herein zu fallen. Und wiederum schreit er den Teufel an, er soll abhauen. Als der Teufel merkt, dass er gegen die Beziehung der beiden, gegen die Vater-Sohn-Beziehung nicht ankommt, verwandelt er sich in einen reißenden Strom und legt sich den Beiden in den Weg. Beinahe wären sie ertrunken, da fällt Abraham ein, dass auch dies des Teufels Werk ist und er sagt laut: „Gott schelte dich, du Satan, geh fort von uns, denn nach dem Befehl des Herrn sind wir unterwegs.“ Während der Satan in der ersten und zweiten Versuchung Beziehungen angegriffen hatte: nämlich die Beziehung Abrahams zu Gott und die Beziehung Isaaks zu seinem Vater, versucht er es jetzt mit dem Schicksal. Der reißende Strom steht für mich für die Vergänglichkeit, der unser aller Leben unterworfen ist. Wer diese nicht anerkennen kann, flieht in die Illusion eines Paradieses – und damit direkt in die Arme des Teufels. Es ist die Erkenntnis, dass unser Leben sich in der Realität abspielt, und zu dieser Realität gehören Krankheit, Sterben, eben Vergänglichkeit dazu: Die Anerkenntnis dieses „fact of life“ ist es, die den Satan vertreibt: „Und Satan erschrak vor der Stimme Abrahams und ging davon und der Ort war wieder festes Land geworden.“ Mit anderen Worten: Abraham und Isaak standen wieder auf dem festen Boden der Tatsachen!

Als schließlich Abraham mit seinem Sohn an der Stätte „Moria“ ankommen – „Moria“ ist übrigens in seiner Wortbedeutung mit „unterweisen“ oder „lehren“ verwandt – bereitet Abraham alles dafür vor, um seinen Sohn zu opfern. Als er gerade dabei ist, mit einem kurzen Schnitt ihm die Halsschlagader durchzuschneiden, ertönt eine himmlische Stimme und sagt: „Lege deine Hand nicht an den Knaben und tue ihm nichts, denn nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen.“ Und Abraham sah einen Widder, der sich mit seinen Hörnern im Gestrüpp verhängt hatte und opferte ihn an der Stelle seines Sohnes. Dies war das vierte Werk des Satans gewesen: Er hatte den Widder gefangen und ihn im Gestrüpp verhängt, da er verhindern wollte, dass Abraham den Widder sah und ihn opferte an der Stelle seines Sohnes. Der Widder tritt also an die Stelle des Körpers von Isaak! Es ist unser menschlicher Körper, der auf dem Weg zu Gott „hinzugeben“ ist. Von ihm gilt es Schritt für Schritt loszulassen.

So weit die Geschichte.

Was lernen wir daraus?

Ich lerne daraus: Wie schwer es ist, sich nicht verführen zu lassen. Alles – der gesunde Menschenverstand, die eigene Empfindung, die eigene Liebe protestieren dagegen, das eigene Kind zu opfern. Kind steht für das eigene neue Leben! Lang ersehnt! Und jetzt soll ich es wieder hergeben? Wir sind doch stolz auf unsere wohl geratenen Kinder, freuen uns daran, wenn sie ihren Weg gehen – und jetzt sollen wir sie opfern? Bloß um irgendeines Beweises willen, dass wir Gott radikal ergeben und treu sind? Und überhaupt: Was ist das für ein Gott, der sich mit dem Teufel einlässt? Der seine Geschöpfe versucht?

Nun – wenn man so konkret, ja konkretistisch denkt, ergibt die Geschichte keinen Sinn. Sie wird zu Non-Sens. (Dies gilt übrigens für ganz viele Stellen der Bibel: Wenn man sie konkret versteht, ist ihr Sinn zerstört.)

Und was lernen wir aus der Geschichte „im übertragenen Sinne“?

Es geht um die Bedeutung des „Opferns“. Opfern im Sinne von Sich-Hingeben, Sich-Überlassen. Jeder von uns – gleich ob Mann oder Frau – trägt einen Widerwillen in sich, Fremdes, Neues, Unbekanntes „näher an sich heran zu lassen“. Opfer heißt im Hebräischen „Korban“. Es bedeutet wörtlich: „sich nähern“, oder „näherbringen“. Und es wird prinzipiell verwendet in der Beziehung zwischen Mensch und Gott. Es geht also um die Idee, wie sich der Mensch Gott und wie sich Gott dem Menschen nähern kann. In der Mystik ist das die „Einswerdung mit Gott“. In vielen Bildern wurde diese Einswerdung beschrieben. Um nur zwei zu nennen: Im Bild des Wassers gleicht der Mensch einem Tropfen im Meer Gottes; im Bild des Feuers: Der Mensch gleicht einem Holzscheit, das zischend und prasselnd alle Feuchtigkeit verliert, bis es sich glühend ganz Gott hingegeben hat.

Allgemeiner ausgedrückt: Es geht um die Hingabefähigkeit von uns Menschen. Wer sich hingibt, hat aufgehört „gegen etwas zu sein“. Er hat aufgehört zu kämpfen.

Wer sich hingibt, versucht, aus der Liebe heraus zu leben.

Seine Haltung zum Leben lautet: „Es ist, was es ist.“ Diese Haltung hat nichts mit Gleichgültigkeit oder laissez-faire zu tun. Sie hat viel mit Bewusstheit des eigenen Lebensstils zu tun. Ich versuche dann, bewusst zu leben; so wie es für mich stimmt, und wie ich es, vor meinem Gewissen und meinem Gott verantworten kann. Aber ich habe aufgehört, missionarisch wirken zu wollen und andere davon zu überzeugen, dass sie doch genauso leben sollen, wie ich. Oder dass Sie jetzt meine Predigt in ihren Lebensalltag umsetzen sollen.

Und ich muss nicht mehr Recht haben.

Sich-hingeben: auch an die eigene Vergänglichkeit. An das Müde-Werden des Körpers, an das Müde-Werden der Seele. Es gut sein zu lassen gehört auch dazu. Nicht länger hadern oder sich empören.

Dazu gibt es ein schönes Gedicht von Theodor Fontane:

Es heißt: „Überlass es der Zeit“

Erscheint dir etwas unerhört,

bist du tiefsten Herzens empört,

Bäume nicht auf, versuch’s nicht mit Streit,

Berühr es nicht, überlass es der Zeit.

Am ersten Tag wirst du feige dich schelten,

am zweiten lässt du dein Schweigen schon gelten,

am dritten hast du’s überwunden,

alles ist wichtig nur auf Stunden,

Ärger ist Zehrer und Lebensvergifter,

Zeit ist Balsam und Friedensstifter.

Aus dieser Haltung heraus zu Leben bedeutet, die eigene Lust am Leben zu stärken. Und dem teuflischen Triumph am Infragestellen und am Zerstören Einhalt zu gebieten. Dies geht nur in und mit der Kraft der Liebe. Diese Kraft ist kein Besitz. Oder, mit den Worten des islamischen Mystikers Rumi:

„Die Liebe ist wie ein Hund. Sie packt dich am Genick und schleppt dich – auch wenn du noch so zappelst – zu Gott.“

Gebe Gott, dass wir den Mut und die Kraft aufbringen, uns von diesem göttlichen Hund packen zu lassen, AMEN.

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Predigt über 2. Korinther 4, 6 – 10 am letzten Sonntag nach Epiphanias 2024

Liebe Gemeinde,

„der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein – oder er wird nicht sein…“ – dieser berühmte Ausspruch von Karl Rahner passt in besonderer Weise für die Texte des heutigen Gottesdienstes.

Schon der Wochenspruch des Propheten Jesaja: „Über dir geht auf der Herr und seine Herrlichkeit erstrahlt über dir“ ist nicht auf den ersten Blick zu verstehen. In der Übersetzung von Martin Buber lautet er: „Sein Ehrenschein ist über dir erstrahlt.“ Das dahinter stehende hebräische Wort lautet „kabod“ und ist schwer zu übersetzen, weil es so viele Bedeutungen haben kann. Die Grundbedeutung hat mit „schwer sein“, „gewichtig sein“ zu tun. Und so kann es sowohl „Bürde“ bedeuten als auch „Herrlichkeit“ im Sinne von „Ansehen“, „Pracht“. Aber eben nicht der schnelle, vergängliche „schöne Schein“ – sondern ein Leuchten „aus sich, von innen heraus“. Und unmittelbar davor heißt es: „Erhebe dich, werde licht!“ Dieses Wort kennen wir als Kanon: „Mache dich auf und werde licht“ – „licht“ klein geschrieben, als Adjektiv, im Sinne von „werde hell“.

Sodann hörten wir den jetzt zu predigenden Abschnitt aus dem 2. Korintherbrief.

Er beginnt mit einer Präzisierung Gottes: Der „Gott, der da sprach: Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten“, „der hat einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben, dass die Erleuchtung entstünde zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi.“ (V. 6b) Die Elberfelder Bibel übersetzt direkter, originalgetreuer: „Der Gott ist es, der in unseren Herzen aufgeleuchtet ist zum Lichtglanz der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Jesus Christi“. Also: Gott: Jener Gott selbst, der das Licht erschaffen hat – er ist es, der in unseren Herzen aufleuchtet, wenn und indem wir seine Herrlichkeit (kawod, siehe oben) im Angesicht seines Sohnes, im Angesicht Jesu Christi erkennen.“

Was bedeutet das?

Zuallererst:

Wir sind nicht Licht (Licht jetzt groß geschrieben, als Substantiv.)

Das ist die verführerische Botschaft des Satans im Paradies: „Ich seid selber Licht, Ihr seid selber Gott!“ So ist es gut, wenn Paulus sofort relativiert: „Wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen“ und er fügt hinzu: „Auf dass die überschwängliche Kraft von Gott sei und nicht von uns.“ (V. 7) Das ist die Falle, in die wir Menschenkinder auf unserem irdenen Entwicklungsweg unweigerlich hineintappen: zu meinen, wir selber seien Gott. Zu meinen: Wir brauchen keinen Gott.

Der vielfache beklagte Mitgliederschwund der Kirchen hat meines Erachtens genau hier seine Wurzel: Gottesdienst ist etwas für Alte, für Omas und Opas – aber kräftige aufgeklärte, moderne Menschen brauchen keinen Gott! Vor kurzem las ich eine wohlmeinende Rezension über das große mystische Werk des Heiligen Johannes vom Kreuz, „Aufstieg auf den Berg Karmel“: „Das Buch kann ich sehr empfehlen. Ich habe es meiner Oma zu Weihnachten geschenkt und ihr damit eine große Freude gemacht. Sie liebt Bücher von Heiligen und so…“

„Duzi, duzi, … Oma“ kann man dazu nur sagen. Du bist ja eine Liebe – aber halt ein wenig gagagaga … Da sind so Heiligen-Bücher genau das Richtige…

Unsere irdenen Denk-Gefäße, innerhalb derer wir den Erkenntnis-Schatz haben, weigern sich, diesen Schatz aufzunehmen und zu behalten. Sie wollen nicht nur „Container“ für einen Schatz sein – sie wollen selbst Schatz sein. Von daher werten sie ab, verspotten und verhöhnen. Das Angesicht Jesu Christi, in dem der Glanz Gottes aufleuchtet, ist auch das Angesicht des Gekreuzigten und Verhöhnten: „Steige doch herab vom Kreuz, wenn du wirklich der bist, der zu sein, du vorgibst: Der Sohn Gottes!“ So höhnen die Spötter.

Paulus sagt: „Lasst Euch davon nicht beirren. Genau zu diesem Zweck hat Gott uns seine Kraft in irdenen Gefäßen geschenkt, auf dass wir nie vergessen, dass unsere tragfähigen Erkenntnisse nicht von uns selber sind.“

Albert Einstein hat einmal gesagt: „Ich konnte meine Erkenntnisse bezüglich der Relativitätstheorie nur denken, indem ich mir vorstellte, in den Fußstapfen Gottes zu laufen.“ Ich denke, genau dies meint Paulus an dieser Stelle. Und er fügt hinzu: „Wir sind bedrängt von allen Seiten, aber wir ängstigen uns nicht.“ (V. 8a)

Dem kann ich leider nicht zustimmen. Doch: Ich ängstige mich täglich. Ich habe Angst davor, die neuesten Nachrichten über den Ukraine-Krieg zu hören, über Israels Kampf gegen die Hamas. Ich habe Angst zu erfahren, wie schnell sich unsere Erde erwärmt und welche Naturkatastrophen uns in 2024 bevorstehen. Ich habe Angst in Anbetracht der drei bevorstehenden Landtagswahlen, wie stark die AFD werden wird und damit die Aushöhlung unserer Demokratie fortschreitet.

Ich habe Angst davor, dass Donald Trump noch einmal amerikanischer Präsident werden wird. Ich habe Angst davor, dass Amerika dann die NATO verlässt. Usw. und so fort. …

Wobei Paulus im nächsten Satz sich selbst relativiert: „Uns ist bange, aber wir verzagen nicht. Wir leiden Verfolgung, aber wir werden nicht verlassen. Wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um.“ Und – Höhepunkt dieser Aufzählung: „Wir tragen allezeit das Sterben Jesu an unserem Leibe, auf dass auch das Leben Jesu an unserem Leibe offenbar werde.“ (V.8b-10)

Da gehe ich mit: „Mir ist bange“. Und was hilft mir da der Gedanke: Ich trage das Sterben Jesu an meinem Leib? Auf dass auch das Leben Jesu an meinem Leibe offenbar werde. … Das verstehe ich nicht. Ich trage meine Hose an meinem Leib, mein Hemd, heute und jetzt gerade meinen schwarzen Talar. Aber das Sterben Jesu auf dass das Leben Jesu offenbar werde. Was meint Paulus damit?

Wie kann das gehen?

„Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein – oder er wird nicht sein.“

Mystiker sein bedeutet zuallererst: Da weiter zu denken, wo ich etwas nicht verstehe. Weiterzudenken und sich von den Gefühlen der Ablehnung, die sagen: „Das ist Blödsinn der höheren Art!“ sich nicht durcheinander bringen zu lassen. Natürlich ist der Satz symbolisch gemeint. Mystiker sein heißt, das Denken im Konkreten zu verlassen. Der Heilige Johannes vom Kreuz hat das die „Dunkle Nacht der Sinne“ genannt. Auf sie kann ich mich einlassen, wenn ich weiter denke, ohne mir etwas vorstellen zu können. Wenn ich das Leben Jesu an meinem Leibe trage, dann versuche ich aus der Liebe heraus zu leben. Und zwar so, dass ich meinen Hass, meine „hässlichen“ Gefühle nicht unterdrücke. Dass ich sie anerkenne als meine eigenen, zu mir gehörigen. Dann ist Schluss mit meiner Sehnsucht nach Harmonie. Und meinem Selbstbild, ein guter Mensch zu sein…. Das ist die Bedeutung des Sündenbekenntnisses am Beginn eines Gottesdienstes. Es geht um die Anerkennung meiner eigenen, hässlichen Seiten. Erst wenn dies möglich wird, muss ich meine Mitmenschen nicht mehr als Projektionsflächen für meine eigenen vermeintlich unannehmbaren Empfindungen verwenden. Es bedarf einer dunklen Nacht, um mich selbst kennen und verstehen zu lernen. Unser Verstand funktioniert nur in der Sonne vermeintlichen Verstehens. Sie belichtet ihn. Der Mystiker verlässt diese Verstandes-Sonne und begibt sich freiwillig in die dunkle Nacht. Damit aber verlässt er sich nicht länger auf seine Sinne, auch nicht auf seinen Verstand. Nicht einmal auf Gott, denn auch er ist in dunkler Nacht verschwunden. Was bleibt dann?

Nichts mehr.

Schweigen ist die Sprache Gottes, sagt Rumi.

In dieser dunklen Nacht erkenne ich mein Nicht-Wissen an.

Ich weiß nicht, wie es mit unserer Demokratie weiter geht.

Ich weiß nicht, ob die militärischen Konflikte zu einem III. Weltkrieg führen.

Ich weiß nicht, ob die christliche Kirche, ob unsere protestantische Kirche noch eine Zukunft vor sich hat. Das Leben Jesu am Leibe tragen heißt für mich: Ich weiß nicht, wie es weiter geht, ich weiß nicht wohin mich mein Weg führt.

Der Christ der Zukunft wird eine Mystiker sein …

Er geht seinen Weg, den er nicht findet, weil er ihn nicht kennt.

Es ist ein wegloser Weg.

Am letzten Montag traf hier sich hier im Gemeindehaus ein kleiner Kreis von Christen zum Thema Kirchenaustritte. Zum ersten Mal sind die Mitglieder der beiden christlichen Religionen in Deutschland in der Minderheit – d.h. unter 50 Prozent. Es hieß: So weit ist es schon gekommen. Zum Schluss müssen wir noch erleben, dass in Deutschland am Freitag der Muezzin zum Gebet ruft.

Das scheint unannehmbar zu sein. Die zugehörige Emotion ist eine Mischung aus ärgerlicher Empörung und Angst.

Gegenfrage: Ja und? Was wäre denn daran so schlimm? Nur weil es nicht in unsere Kultur passt? Dass wir überfremdet werden?

Ich kann mich noch erinnern, als in Pullach im Jahr 1960 das Predigerseminar der VELKD gebaut worden ist. Da hieß es: Das ist ja unmöglich. So eine Backsteinbau passt überhaupt nicht nach Bayern. Und schon gar nicht in unser schönes Pullach.

Wer bestimmt eigentlich, wohin was passt?

Angst macht eng – Liebe macht weit.

Ich brauche für mein gelebtes Christ-Sein doch kein Kreuz! Und warum sollte mich der Islam in meinem Glauben verunsichern. Rumi, ein bekannter und bedeutender Mystiker, – ich zitiere ihn gerne – war Muslim. Er hat wunderschöne berührende Texte geschrieben. Mein Glaube ist doch nicht an eine Konfession gebunden.

Mein gelebtes Christ-Sein kommt aus mir heraus, aus meiner inneren Verbindung mit etwas unbedingten, schlechthinnigen Gutem. Ich nenne dies Jesus Christus. Und ich bin weit davon entfernt, jemanden des Unglaubens zu bezichtigen, der es „Mohammed“ oder „Allah“ nennt. Oder „Jahwe.“ Ich habe auch keine Einwände, wenn wir uns überlegen, wie wir christlichen Glauben, wie wir Gottesdienste „attraktiver“ machen können. Aber das ist nicht das Zentrum. Das Zentrum ist meine, unsere Authentizität. Dass wir nicht ins Schwafeln kommen, wenn wir gefragt werden, glaubst du an Gott?

Ja, ich glaube an Gott. Ich glaube, dass er sich in Jesus Christus als liebevoller und uns zugewandter Gott gezeigt hat. Ich glaube, dass es meine lebenslange Aufgabe als Mensch und Christ ist, diese Gott, seine Freundlichkeit, seine Güte, seine Barmherzigkeit immer tiefer zu verinnerlichen. Der Prozess der Verinnerlichung setzt voraus, dass ich die Kraft in mir finde, Gott nicht als etwas Konkretes zu denken. Gott als Vater, als Sohn, als Heiliger Geist sind Krücken für mein Denken und Erkennen. Gott an sich ist (jedenfalls für mich) unerkennbar.

Aber ich kann jeden Tag versuchen, mein Leben als liebevolles Zuwenden zu dem, was gerade ist, zu leben. Dazu benötige ich die Kraft des liebevollen Zuwendens an das, was ist. Mit ihr kann ich mich verbünden. Und ich kann mir Mühe geben, mich von der scheinbaren Erleichterung, die ich mir durch ausgrenzen, abspalten und kommunizieren verschaffe, nicht verführen zu lassen. Und wenn ich dann merke, dass etwas in mir sagt: Bist du blöd? Du lässt dich überfremden, verlierst deine eigene Identität, das darfst du dir nicht bieten lassen … dann erlebst du, was es heißt, das Sterben Jesu am Leib zu tragen … auf dass sein Leben an deinem Leib offenbar werde, AMEN.

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Predigt über Hebräer 12, 12 – 17. 22 – 24 am 2. Sonntag nach Epiphanias 2024

Verwandlung, lateinisch Transformation, ist das Thema des heutigen Gottesdienstes. Die Geschichte der Hochzeit zu Kanaan, bei der Jesus das Wasser in Wein verwandelt: Sie ist das Evangelium, die Frohe Botschaft des heutigen Sonntags.

Verwandlung hat mit Veränderung zu tun.

Times are changing“: „Die Zeiten wandeln sich.“

Ein Sinneswandel ist die Veränderung in der Anschauung eines Menschen. Nun aber nicht so, dass Veränderung willkürlich, ohne jede „Form“ ist.

Es ist eine Veränderung mit Konstanten.

Wenn Sie sich Ihre Hände anschauen: Als Sie auf die Welt gekommen sind, waren die sehr anders als heute, es waren nämlich kleine, zierliche Babyhände – und doch sind es damals wie heute Ihre Hände.

Verwandlung heißt also, es bleibt in der Veränderung etwas „erhalten“.

Wenn Wasser in Wein verwandelt wird, so bleibt der Aggregatzustand „flüssig“ erhalten.

Oder, wenn Sie jemanden treffen, den Sie das letzte Mal vor 20 Jahren gesehen haben. Da sagen Sie: Bist du nicht die oder der Soundso? Ich dachte mir: Von irgendwoher kenne ich dich doch …

Das „Gleich-Bleiben„, oder die „Konstante“ ist wichtig für Erkenntnis.

Ansonsten herrscht Chaos. „Tohu wa bohu.“

Die „Verwandlung“, die „Veränderung“ ist wichtig für Wachstum, für Entwicklung. Ansonsten entsteht Erstarrung: „Und täglich grüßt das Murmeltier.“

Verwandlung ist etwas wesentlich Anderes als Abbruch. Wenn ich eine für mich unerträgliche Situation nicht verwandeln kann, muss ich sie „abbrechen“. Dabei habe ich zwei Möglichkeiten: Die eine ist, die Situation als solche zu zerstören, die andere ist, aus der Situation zu fliehen. Von beiden Möglichkeiten wird alltäglich Gebrauch gemacht.-

Unser heutiger Predigttext – er findet sich im Hebräerbrief Kapitel 12 – ist ein Aufruf zum Durchhalten bei allem, was zu ertragen und zu erleiden ist.

„Darum stärkt die wankenden Knie und tut sicherer Schritte mit euren Füßen, dass nicht jemand strauchle wie ein Lahmer, sondern vielmehr gesund werde.“ Mit diesem Appell beginnt er. Dabei ist ein klares Ziel vor Augen: „Jagt dem Frieden nach mit jedermann und der Heiligung, ohne die niemand den Herrn sehen wird.“ (Vers 12-14a)

„Heiligung“ bedeutet „heil“, also „ganz“ oder „unversehrt“ werden. Heilige sind „ganze“ Menschen. Und – was ist das, ein „ganzer Mensch“?

Ein ganzer Mensch ist ein Mensch, der alles, was ihn ausmacht, auch zu sich nimmt und bei sich „hält“. Ein ganzer Mensch hat gelernt, immer wieder sich selbst gleichsam über die Schulter zu schauen. Das Fremdwort dafür heißt: Selbstreflexion.

Und er hat gelernt, seine Emotionen und die daraus folgenden Impulse bei sich zu spüren und bei sich zu halten.

Mit dieser Fähigkeit kommen wir Menschenkinder nicht auf die Welt. Ganz im Gegenteil: Wir kommen damit auf die Welt, unsere Emotionen aus uns herauszuschreien. Wenn wir das Glück haben, eine Mutter und einen Vater zu haben, die unser Schreien „ertragen“ im Sinne von „aushalten“ ohne sich dabei aus der Liebe zu uns, zu dem schreienden Baby vertreiben zu lassen – dann haben wir eine gute Chance zu lernen, dass wir auch selbst allmählich unsere vermeintlich unerträglichen Gefühle ertragen. Scheinbar unerträgliche Gefühle wurden dann in erträgliche verwandelt oder modifiziert.

Ein anderes Bild für diese Verwandlung ist unsere Verdauung, Permanent verwandelt unser Körper Nahrung in etwas, was er für sein (körperliches) (Über-)Leben brauchen kann. So wächst unser Körper, so entwickelt er sich.-

Nachdem unser Predigttext so schön begonnen hatte, kippt er. Er kippt in dem Zusammenhang, wo sein Autor – keiner weiß, wer er wirklich war -, nicht mehr bejahende, sondern negative Sätze, besser negative Ermahnungen verwendet: „… und seht darauf, dass nicht jemand Gottes Gnade versäume.“ (V.15a) Gottes Gnade versäumen bedeutet aber, „dass … eine bittere Wurzel aufwächst und Unfrieden anrichtet und viele durch sie verunreinigt werden„. Dies ist vor allem moralisch gemeint: Es geht um den „Hurer“ oder den „Gottlosen„, wie „Esau, der um der einen Speise willen sein Erstgeburtsrecht verkaufte. Ihr wisst ja“, heißt es weiter, „dass er hernach, als er den Segen ererben wollte, verworfen wurde, denn er fand keinen Raum zur Buße, obwohl er sie mit Tränen suchte.“ (V. 15-17)

Dies ist – liest man im Alten Testament nach – schlichtweg falsch. Im 1. Buch Mose, Kapitel 33, 1- 14, wird die berührende Versöhnung zwischen Jakob und seinem Zwillingsbruder Esau geschildert. Jakob hat Sorge, ob Esau auf Rache gegen ihn sinnt, weil er sich das Erstgeburtsrecht erschlichen hatte. Die Realität aber ist: Im Gegenteil: „Esau lief ihm (sc. Jakob) entgegen und herzte ihn und fiel ihn um den Hals und küsste ihn, und sie weinten.“ (V. 4) Keine Rede ist von einem unter einem Fluch lebenden Esau.

Ich weiß nicht, was den Autor des Hebräerbriefes dazu gebracht hat, diese rigiden Muster des Abwertens zu verwenden. Ist es sein eigener Hass, der in Anbetracht der „Hurer“ und „Gottlosen“ bei ihm durchbricht? Den er nicht länger bei sich halten kann. Es ist ja gar nicht so selten, dass ich im Kampf gegen einen vermeintlichen „Feind“ selber Züge von meinem Feind annehme.

Unser Predigttext ist also mit aller größter Vorsicht zu genießen. Die Gefahr ist, ihn als Ermunterung dafür zu lesen, alles, womit wir nicht einverstanden sind, was nicht in unser Denksystem passt, abzuwerten, schlimmer noch, zu verdammen.

Alle Religionen bzw. religiösen Systeme stehen in dieser Gefahr. Dies ist der Grund für die unsägliche Allianz von Religion und totalitärem Denken.

Aktuell hat totalitäres Denken Konjunktur. Nicht nur in Ländern wie China, Russland oder Nordkorea. Leider auch bei uns. Noch sind es nur sogenannte „Randgruppen“. Noch sind sind es nur „Chaoten und Randalierer“. Aber die Gefahr einer Ansteckung ist nicht gering. Und totalitäres Denken ist ein Virus, der weder durch Impfung noch durch Atemschutzmasken sich hemmen lässt. Der moralische Impetus totalitärer Systeme drückt sich in dem aus, was „schwarze Pädagogik“ genannt worden ist. Es ist eine Pädagogik, die der Überzeugung ist, der Mensch sei von Natur aus „böse“; und um dem „Bösen“ Einhalt zu gebieten, muss Bestrafung angedroht und – wenn er nicht anders geht – auch durchgeführt – werden.

Dazu ein – wie ich finde – bemerkenswertes Beispiel aus der aktuellen Gegenwart: Einem Statement der Polizei zufolge sind die Silvesterfeiern diesmal relativ ruhig verlaufen, weil es ein überaus starkes Aufgebot an Einsatzkräften gab. Dahinter steht ein Denken, das unterstellt, dass Menschen aus freien Stücken nicht bereit oder auch nicht in der Lage sind, vernünftig und friedlich miteinander Silvester zu feiern. „Den ‚Chaoten‘ und ‚Randalierern‘ kann man nur mit Druck beikommen!“ heißt es.

Und ich kann verstehen, wenn jemand, der sich dieses Jahr vorgenommen hatte, aus sich heraus nicht zu randalieren, wenn sich der jetzt denkt: Okay, dann werde ich Euch das nächste Mal beweisen, dass ich mich von meinen Aktionen ganz sicher nicht wegen eures Polizeiaufgebots abhalten lasse.

Doch zurück zu unserem Predigttext. Ich habe gesagt, er sei mit großer Vorsicht zu lesen. Mit dieser Einschätzung stehe ich nicht alleine da. Martin Luther schrieb in seinem Vorwort zu seiner Hebräerbrief-Vorlesung: Er biete „eine große Schwierigkeit dadurch, dass er im 6. und 10. Kapitel die Buße den Sündern nach der Taufe stracks verneinet und versagt und Kap. 12,17 sagt, Esau habe Buße gesucht und doch nicht gefunden, was wider alle Evangelien und Briefe des Paulus ist.“ Konsequent hat Luther – trotz Wertschätzung – diesen Brief möglichst weit nach hinten in der Bibel gestellt.

Nun ist es aber wichtig, – und das ist das Wesen konstruktiver Kritik – nicht pauschal etwas oder jemand zu verurteilen. Das Ende unseres Predigttextes ist konstruktiv und ermutigend. Es ermutigt zu der Hoffnung, dass Entwicklung, dass Transformation möglich ist:

… ihr seid gekommen zu dem Berg Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, und zu den vielen tausend Engeln und zu der Festversammlung und zu der Gemeinde der Erstgeborenen, die im Himmel aufgeschrieben sind, und zu Gott, dem Richter über alle, und zu dem Mittler des neuen Bundes, Jesus, und zu dem Blut der Besprengung, das besser redet als Abels Blut.“ (V. 22-24)

Das sind sehr starke Bilder. Da ist die „Stadt des lebendigen Gottes„, zu dem wir Christen gekommen sind. Durch Jesus, den „Mittler des neuen Bundes„. Sein Blut „redet“ anders als das Blut Abels.

Abels Blut hat zum Himmel geschrien! Abel, der Unschuldige, wurde von seinem Bruder Kain erschlagen. Aus Neid und Hass.

Abels Blut schreit zum Himmel – gemeinsam mit dem Blut aller unschuldig Getöteten, aktuell in der Ukraine, in Russland, in Israel, in Palästina!

Und inwiefern „redet das Blut Jesu besser als das Blut Abels?“

Jesu Blut ist das „Blut der Besprengung„. „Besprengung“ ist die kultische Form der Reinigung, die mit Sühnung verbunden ist. Für den Autor des Hebräerbriefes ist es Jesus, der diese Reinigung durchführt, „durch sein eigenes Opfer“ (9, 26). Die Selbsthingabe Jesu, sein Opfer, ermöglicht es uns, zur Stadt des lebendigen Gottes, zum himmlischen Jerusalem zu kommen. Die Hingabe von Gott selbst – in der Gestalt seines eigenen Sohnes – hat Gott mit sich selbst versühnt. Das ist die Sühne, die mit Jesu Opfertod ein für allemal geschehen ist. In der Selbst-Aufgabe Gottes durch seinen Sohn löst sich die Härte seines Hasses, zerreißt der Vorhang der Getrenntheit von Gott und Mensch: Gott ist jetzt – in Gestalt seines Sohnes – einer von uns, dem kein Leid, keine Ohnmacht mehr fern ist. Damit ist eine neue Verbindung, ein „neuer Bund“ zwischen Gott und uns Menschen entstanden, dem wir Jesus Christus, seinem „Gehorsam bis zum Tod“ verdanken. Jesus ist zum „Mittler des neuen Bundes“ geworden, wie es in unserem Predigttext heißt. Oder, mit den Worten eines Gedichtes von Johann Rist:

O große Not! Gott selbst ist tot, am Kreuz ist er gestorben, hat dadurch das Himmelreich uns aus Lieb‘ erworben“.

Das, liebe Gemeinde, ist die große Transformation Gottes, ist Gottes eigene Entwicklung: Von einem abgehobenen, distanzierten, majestätisch-kalten Macht-Gott hin zu einem mitfühlenden, liebevollen, einfühlsamen, barmherzigen Liebes-Gott. Und der Mittler, der Transformator dieses Geschehens ist Jesus!

Damit ergibt sich unsere Aufgabe als Christen-Menschen, die wir durch unsere Taufe in dieses Transformationsgeschehen Gottes eingetaucht worden sind. Ein Geschehen, an dem wir unser Leben lang Anteil haben dürfen.

Gebe Gott, dass wir auch in diesem noch jungen Jahr uns entwickeln dürfen. Hin zu Menschen, die immer wieder die Kraft finden, ihren zerstörerischen Impulsen und ihren „hässlichen“ Gefühlen Einhalt zu gebieten und im „neuen Bund“ mit Gott wachsen können, hin zur lebendigen Fülle eines liebevollen Menschseins. Dazu bedürfen wir eines starken inneren „Mittlers“.

So gebe Gott, dass die Liebe dieses Jesus in uns kräftig werden kann, im Sinne der diesjährigen Jahreslosung: „Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe“ (1. Kor. 16,14) AMEN.

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Predigt über 1. Johannes 2, 12-14 am 22.Sonntag nach Trinitatis 2023

„Liebe Kindlein!“

So spricht der Verfasser des Johannesbriefes immer wieder seine Leser an.

„Liebe Kindlein, ich schreibe Euch, dass Euch die Sünden vergeben sind um seines Namens will“ Damit beginnt unser heutiger Predigttext am 22. Sonntag nach Trinitatis, in dessen Mittelpunkt das Nachdenken über „Vergebung“ steht. Er steht im 1. Johannesbrief (2, 12 – 14)

„Bei dir ist Vergebung, dass man dich fürchte…“ (Ps. 130, 4) Dieses Psalmzitat gab unserem heutigen Gottesdienst sein Thema.

Vergebung und Fürchten? Passt das zusammen?

Gemeint ist: Das Erleben von Vergebung führt zu Respekt vor dem Anderen, führt zu Dankbarkeit. Es führt dazu, dass ich mich erleichtert fühle. „Was bin ich froh, dass du jetzt nicht sauer bist!“ „Ich weiß schon, ich habe was verbockt, einen Termin vergessen, dich gekränkt, wie auch immer … und ich bin freudig überrascht, wie du damit umgehst. Ich danke dir für deine Weite, für dein Verständnis …“

Vergebung ist ein Geschehen, das kann man nicht machen. Das hat es mit den anderen wesentlichen Geschehnissen gemeinsam, die diese Welt schön und lebenswert machen.

Friede, Liebe, Dankbarkeit, Freude – all dies ist unserem „Machen-Können“ entzogen. Alles, was wir „machen“ können, alles, was wir dazu beitragen können, ist: Es zulassen, uns dafür zu öffnen.

Und dankbar zu ein. „Hätte der Mensch nicht mehr mit Gott zu schaffen, als dass er dankbar ist, es wäre genug.“ (Meister Eckhart, Predigt 34)

Der Gegenspieler dieses Geschehens ist die Angst davor, „sich etwas zu vergeben.“ Sich etwas vergeben bedeutet: Das darf ich unter gar keinen Umständen zulassen. Damit würde ich ja mein Gesicht verlieren.

Diese Gedanken vollziehen sich zunächst einmal in einem selbst.

Sie sind reflexhaft.

Sie sind Ausdruck eines Abwehr-Reflexes.

Es stemmt sich etwas dagegen, wehrt sich „mit Händen und Füßen“.

„Das darfst du unter gar keinen Umständen zulassen!“ sagt eine Stimme, die nicht vergeben kann – und die auch gar keine Vergebung will.

Weil sie keine braucht.

„Ich danke dir Gott, dass ich nicht bin wie die anderen Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch dieser Zöllner“, betet der Pharisäer (Lukas 18,11).

Er braucht keine Vergebung der Sünden. Er kann damit auch gar nichts anfangen.

Muss er natürlich auch nicht.

Vergebung ist was für die Sünder, sagt er. Gott sei Dank gehöre ich nicht zu ihnen!

Es ist nur so – und das ist ein Naturgesetz: dass es kein Licht gibt ohne Schatten gibt; genauso wenig gibt es den Tag ohne die Nacht, gibt es das Gute ohne das Böse…

Indem wir unseren eigenen Schatten exkommunizieren, verunmöglichen wir es unserem Licht zu leuchten! Die Folge davon ist, dass sich unsere Welt eintrübt. Dass ein Nebel unsere Seelenlandschaft überzieht – der verhindert, dass das Licht unserer Seelen-Sonne leuchtet. Sie ist fahl geworden, irgendwie halblebig: nicht Fisch, nicht Fleisch.

Und es gibt noch eine tragische Folge davon, wenn wir unseren eigenen Schatten exkommunizieren: Er verschwindet nämlich nicht einfach. Stattdessen überschattet er das Leben der Anderen. In die Vorannahmen und Vorurteile über die „Anderen“ haben sich unsere eigenen Schattenseiten verkrochen.

Unser heutiger Predigttext ist ein wunderbares Beispiel für die Abwehr der Schattenseiten unseres Auf-der-Welt-Seins. Ich lese Ihnen jetzt zur Gänze vor:

„12 Liebe Kindlein, ich schreibe euch; denn die Sünden sind euch vergeben durch seinen Namen.

13 Ich schreibe euch Vätern; denn ihr kennt den, der von Anfang ist. Ich schreibe euch Jünglingen; denn ihr habt den Bösewicht überwunden.

14 Ich habe euch Kindern geschrieben; denn ihr kennet den Vater. Ich habe euch Vätern geschrieben; denn ihr kennt den, der von Anfang ist. Ich habe euch Jünglingen geschrieben; denn ihr seid stark, und das Wort Gottes bleibt bei euch, und ihr habt den Bösewicht überwunden.“ (1. Joh. 2,12-14)

Ende gut – alles gut!

Also gehen wir beruhigt nach Hause.

Dann hätten wir uns einmal mehr bestätigt, dass wir auf der richtigen Seite des Lebens, „on the sunny side of the street“ sind.

Und wo bleiben die Schattenseiten? Die tauchen in den beiden Versen auf, die unseren Predigttext umrahmen.

Zum Beispiel im Vers davor (11): „Wer aber seinen Bruder hasst, ist in der Finsternis und wandelt in der Finsternis und weiß nicht wohin er geht, weil die Finsternis seine Augen verblendet hat.“

Oder – noch deutlicher – Vers 15-16: „Liebt nicht die Welt noch was in der Welt ist! Wenn jemand die Welt liebt, ist die Liebe des Vaters nicht in ihm: denn alles, was in der Welt ist, die Begierde des Fleisches und die Begierde der Augen und der Hochmut des Lebens, ist nicht vom Vater, sondern ist von der Welt.“

Schüchterne Gegenfrage: Ich dachte immer, der Vater ist es, der diese Welt geschaffen hat. Und zwar mit allem, was darinnen ist. Jetzt heißt es auf einmal, wer die (vom Vater geschaffene) Welt liebt, der ist aus der Liebe des Vaters herausgefallen.

Liebe Gemeinde!

Wenn ich Gottesdienst halte, ist das erste Gebet, das mir wichtig ist, das aus meinem Herzen kommt: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ Es ist das Sündenbekenntnis. Es gibt die Meinung: Das ist typisch protestantisch. Du wirst zunächst einmal als Sünder angesprochen und nicht als Getaufter, als einer, dem durch die Taufe die Sünden vergeben worden sind.

Ich meine: Vergebung kann ich nur erleben, wenn ich auch den Mut habe, mich als Sünder zu erleben. Solange ich überzeugt davon bin, dass ich schon alles richtig mache, solange ich keine Sünde bei mir finde – solange kann ich mit Vergebung nicht viel anfangen. Oder anders: Solange bleibt mein Sündenbekenntnis hohl. So wie das des Pharisäers.

Und es gilt auch anders herum: Vergebung kann ich nur dann erleben, wenn ich mich als gerechtfertigt, oder moderner ausgedrückt, wenn ich mich im Großen und Ganzen als „in Ordnung“, als einen Menschen erlebe, der schon recht ist, so wie er ist. Ich kann mich meinen Schattenseiten nur dann zuwenden, wenn ich einen Ort in mir finde, der mir Sicherheit gibt. Dieser Ort ist meine gesunde Selbstliebe die untrennbar ist von meiner gesunden Gottesliebe.

 

Weder der „ewige Sünder“ noch der der durch die Taufe „Sündenfreie“ kann Vergebung erleben.

Es geht um das „Zugleich“: „Zugleich Sünder zugleich gerechtfertigt“.

Um dieses Zugleich hat Martin Luther bis zur Mitte seines Lebens gerungen.

Es zu „erreichen“ bedeutet, Widersprüchliches, Ambivalentes auszuhalten. Auszuhalten, dass es das „eine Perfekte“ oder „Eindeutige“ in dieser unserer Welt nicht gibt.

Oder – anders ausgedrückt: Dass auf und in dieser unserer Welt zu leben heißt: Abschied zu nehmen vom Paradies und von der Sehnsucht nach dem Paradies..

In der großartigen Dichtung von John Milton, „Paradise lost“ (Das verlorene Paradies) ist es Satan, der den Weg in die Realität, in die Wirklichkeit – so wie sie halt ist – nicht gehen kann. Gut und böse, hell und dunkel, leicht und schwer, heiter und traurig usw. Die Wirklichkeit ist immer etwas Vermischtes. Und das ist gut so!

Unser Predigttext rät dazu, die Ambivalenz zu vermeiden, indem alles Unerwünschte exkommuniziert wird. Dies ist in totalitären Systemen üblich. Womit man nichts zu tun haben will, wird ausgeschieden. Man nennt es das Reich des Bösen, der Finsternis oder des Satans. Übrig bleibt ein vermeintliches Reich des Guten, der Rechtgläubigen usw. Wie grausam und voller Hass dieses Reich ist, bekommen wir aktuell im Iran und in Afghanistan mit. Und natürlich in allen Sekten, die es auf dieser Welt gibt. (In Klammern: Ich empfehle das Buch „Unorthodox“ von Deborah Feldman. Es handelt vom Aufwachsen in einer chassidischen Sekte.)

Es ist eine tragische Ironie, dass die vermeintliche Ausscheidung oder Ausrottung des Satans seine Herrschaft stärkt.

Und es ist die Fähigkeit zur Integration der verschiedensten auch widersprüchlichen Kräfte, die uns Menschen stark macht und uns vor dem Sog destruktiver Triebe schützt. Integration ist eine Fähigkeit, die verbindet, die verschiedene sogar widersprüchliche Seiten wahrnehmen kann ohne sie ausscheiden zu müssen.

Politisch ausgedrückt ist die Fähigkeit zur Integration die Fähigkeit zur Demokratie.

Eine starke Quelle für diese Fähigkeit aber ist die Kraft der Vergebung. Der Vergebung von beiden Seiten:

Meinem Nächsten zu vergeben und mir selbst vergeben zu lassen.

Das vorhin gehörte Gleichnis vom Schalkssknecht lässt sich leider dazu verwenden, als würde der, der nicht dankbar ist, der das Geschenk Gottes nicht annehmen kann, von Gott bestraft werden.

Dem ist nicht so.

In Wirklichkeit bestraft er sich sich selbst. Die Wirklichkeit ist, dass er gar keine Vergebung erleben konnte. Oder, anders ausgedrückt, dass er sich auf „Vergebung“ nicht einlassen konnte.

Das Erleben von Vergebung tut nämlich weh. Und vor der Freude darüber steht der Schmerz. Der Schmerz des Erlebens der eigenen Härte, Kälte, der eigenen Hartherzigkeit.

Um diesen Weg gehen zu können, um sich darauf einlassen zu können, bedarf es einer Liebe, die wir wiederum uns nur schenken lassen können.

Gott sei mir Sünder gnädig heißt auch: Schenke mir das Licht der Liebe, das ich benötige, um meine Schattenseiten zu beleuchten.

Ehrliche und radikale Selbsterkenntnis ist nur möglich im Licht der Liebe. (Im Hebräischen ist Liebe und Erkennen derselbe Wortstamm.)

In diesem Licht wird mein Blick weicher, mein Herz wärmer, mein Auftreten zugewandter.

In diesem Licht kann ich auch barmherzig auf unseren Predigttext blicken.

In diesem Licht sehe ich den anderen Satz aus dem ersten Johannesbrief, der so wahr ist:

„Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott in ihm.“ (1. Joh. 4,16) AMEN.

Predigt über 1. Johannes 2, 12-14 am 22.Sonntag nach Trinitatis 2023 Read More »

Predigt über Exodus 20, 1 – 17 am 18. Sonntag nach Trinitatis 2023

Predigt über Exodus 20, 1 – 17 am 18. Sonntag nach Trinitatis 2023

Liebe Gemeinde,

Dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, auch seinen Bruder liebt.“ Mit diesem Gedanken aus dem ersten Johannesbrief begann unser Gottesdienst. Dann haben wir von Jesus selbst die Mitte seiner eigenen Predigt gehört: „Du sollst Gott, deinen Herren, lieben von ganzen Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt …“ und: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“.

Und Jesus gibt uns dazu noch eine Handlungsanweisung:

„Verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm, folge mir nach!“ (Markus 9, 21b) Dies sagte er zu „einem“, nachdem er „ihn lieb gewonnen“ hatte. Und die Reaktion des Unbekannten war: „Er wurde betrübt über das Wort und ging traurig davon; denn er hatte viele Güter.“ (ebd. Vers 21).

Ich kann mich sofort mit dem Unbekannten identifizieren. Nehme ich die Aufforderung Jesu wörtlich und beziehe sie auf mich, heißt das: Ich muss mein Haus in Pullach und mein für meine Altersvorsorge Erspartes verkaufen und den Erlös an Bedürftige spenden. Dann folge ich Jesus nach.

Wenn das so ist, denke ich mir, dann werde ich dir nicht nachfolgen. Und – ja – dann habe ich halt keinen Schatz im Himmel. Das ist dann halt so! Und ich bin auch nicht an erster Stelle betrübt, sondern ich bin zunächst einmal ärgerlich. Was wird da von mir verlangt? Nein – das kann ich nicht und das will ich auch nicht!

Aber: Ist es wirklich so gemeint? Angenommen, ich würde es doch tun – würde ich damit wirklich Gott, den Herren, von ganzem Herzen lieben … und meinen Nächsten wie mich selbst? Ich bin mir da nicht so sicher. Ich möchte das mal so stehen lassen – um mich in Ruhe unserem heutigen Predigttext zuwenden zu können. Und vielleicht ergibt sich daraus ja sogar eine Antwort …

Liebe Gemeinde,

den Predigttext für den heutigen Sonntag kennen Sie alle: Es sind die Zehn Gebote, der sogenannte Dekalog. „Dekalog“ ist griechisch und heißt wörtlich: „Zehn Worte“. Und genau so werden die „Zehn Gebote“ in der jüdischen Tradition auch genannt (vgl. Exodus 34, 28: „Und er (Mose) schrieb auf die Tafeln des Bundes, die zehn Worte.“)

F. Weinreb schreibt: Die zehn Worte haben nicht so sehr den Charakter, dass man etwas tun muss – „es sind vielmehr Hinweise auf den rechten Weg, den man in der Überzeugung, dass das auch gut ist, gerne gehen will. Wenn man jemand sagt, er solle eine Jacke anziehen, weil draußen ein schneidend kalter Wind weht, dann ist das nicht so sehr ein Gebot als vielmehr ein Hinweis im Interesse des Betreffenden.“ (S. 751-752)

Was noch nicht bedeutet, dass der Andere diesen Hinweis ernst nimmt und ihn auch verwirklicht. Wir leben in einer Zeit, in der ein „Das sehe ich gar nicht ein!“ Hochkonjunktur hat. Nur so ist zu verstehen, dass die Trotz- und Mit-mir-nicht-Parteien erheblichen Zulauf genießen. Hört man sich ihre Botschaften genauer an, merkt man, dass es selten um Sachargumente geht. Stattdessen gibt es Emotionen: vor allem Wut und Empörung. Der Duktus ist: „Wir lassen uns doch unsere Freiheit nicht nehmen!“

Diese Reaktion ist im übrigen nicht neu. Als Moses mit den 10 Worten vom Sinai herab kam, fand er sein Volk tanzend um das „goldene Kalb“ vor. Auch er konnte seine Gefühle nicht halten. Vor Wut entbrannt, warf er „die Tafeln aus der Hand und zerbrach sie unten am Berge“ (2. Mose 32, 19). Und davor konnte Gott selbst seinen Zorn nicht halten: „Und der Herr sprach zu Mose: Ich habe dies Volk gesehen. Und siehe, es ist ein halsstarriges Volk. Und nun lass mich, dass mein Zorn über sie entbrenne und sie verzehre.“ (ebd. V. 10a). Wir können darauf lernen:

Erstens: Wir Menschen sind hoch aggressive Lebewesen.

Zweitens: Es gibt eine naheliegende destruktive Bewegung: Enttäuschung führt zu Zorn, Zorn für führt zu Hass, Hass führt zu Vernichtung.

Die Zehn Worte sind eine Art Brandmauer gegen diese Destruktion.

Die nur dann und solange hält, wie sich Menschen von ihnen erreichen lassen.

Das Wort „Gebot“ gehört im übrigen zum Stamm „bieten“. Dies geht wiederum auf die indogermanische Wurzel „*bheudh-“ zurück und bedeutet: „erwachen, bemerken, geistig rege sein,aufmerksam machen, warnen, gebieten“ (vgl. Duden, Herkunftswörterbuch Band 7, S. 81) Auch in „Buddha“, der „Erwachte“, ist es enthalten. Erwacht aber bedeutet für mich nichts anderes, als die Wirklichkeit mit beiden Augen zu sehen. So kann ein „ein-heitlicher“ Blick entsteht. Dies geht nur in einer permanenten Feinabstimmung zwischen dem linken und dem rechten Auge.

Die Zehn Gebote sind für mich „Zehn Worte“ für einen ganzheitlichen Blick auf mich selbst, auf meine Mitmenschen, auf die ganze Welt. Aus diesem Blick heraus folgt von selbst die Lebenshaltung des Erwachten.

Jesus hat diese Haltung zusammengefasst und komprimiert in seinem sogenannten Doppelgebot der Liebe: „„Du sollst Gott deinen Herren, lieben von ganzen Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt …“ und: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“.

Und Augustinus hat gesagt: Liebe – und mach, was du willst!“ (Ama, et fac quod vis!)

Und Meister Eckhart hat auf die Frage, was das Wichtigste ist im Leben sei, geantwortet:

„Die wichtigste Zeit ist stets der Augenblick.
Der wichtigste Mensch ist stets der, der dir gegenüber ist.
Und das notwendigste Werk ist zu lieben.“

In den Zehn Worten geht es um die Verwirklichung des erlebten Glaubens an einen befreienden Gott. In der Überlieferung wird darauf hingewiesen, dass den zehn Schöpfungsworten zu Beginn der 5 Bücher Mose die „Zehn Worte“, die Gott seinem Volk inmitten der Wüste gibt, gegenüberstehen.

Die Schöpfungsworte beginnen mit dem 2. hebräischen Buchstaben, dem Beth. „Bereschit bara …“ (Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.)

Die „Zehn Worte“ beginnen mit dem Alef, dem ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets. Mathematisch ausgedrückt handelt es sich um die Bewegung von der Zwei zur Eins. Psychodynamisch geht es um das Aufgeben von Ambivalenzen und Spaltungen hin zu einer neuen, integrativen Einheit; zu etwas Ganzheitlichem. Die „Zehn Worte“ sagen nicht direkt aus, wie diese Einheit zu denken ist. Sie sagen vor allem aus: Worauf zu verzichten ist, was zu unterlassen ist auf dem Weg des Erlebens von Ganzheit. Darin gründet ihre überwiegend negative Formulierung: Acht Worte sind negativ formuliert. Nur zwei Worte sind bejahend: „Gedenke des Sabbattages“ und „ehre deinen Vater und deine Mutter“.

Das Fundament dieses Lebens ist ein Leben aus der Liebe heraus. Einer Liebe, die vor uns da war und nach uns da sein wird. Es ist eine Liebe, die befreit. So ist zu verstehen, dass der erste Satz der 10 Worte lautet: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft herausgeführt habe.“ (Exodus 20, 2) „Ägypten“ heißt im Hebräischen „mizrajim“ was wörtlich bedeutet: „Das Leiden an der Zweiheit“ (Weinreb). Die Bibel, das Alte Testament, bezeichnet dieses „Leiden an der Zwei“ als „Sklaverei“. Es versklavt unser Denken.

Wie ist das zu verstehen? Zunächst einmal funktioniert menschliches Denken in Zweiheit – also digital. Indem ich „das Eine“ denke, wird implizit „das Andere“ mit gedacht. Wenn ich „rechts“ sage, schließe ich ein, dass es auch „links“ gibt. Wenn ich „gut“ sage, schließe ich ein, dass es auch „schlecht“ gibt. Wenn ich falsch sage, schließe ich ein, dass es ein richtig gibt. Das „Leiden an der Zwei“ ist ein „Leiden an der Bewertung“. Und wir bewerten unentwegt. Und wir werden unentwegt bewertet.

Es sind die Mystiker, die „hinter“ dieses Geschehen geblickt, gedacht haben.

„Es gibt einen Ort, jenseits von falsch und richtig. Dort treffen wir uns.“ (Rumi) Die 10 Worte sind nichts anderes als Markierungen in diesem Land – jenseits von falsch und richtig. Und sie beginnen spannender Weise nicht mit einem „du sollst…“ sondern mit: „Ich bin!“ „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägyptenland (dem Land der Sklaverei) herausgeführt hat.“

Im Land jenseits von falsch und richtig steht nicht das Machen im Mittelpunkt – sondern das Sein. Aus ihm heraus folgt kein mechanisch-unbewusstes Machen. Aus ihm heraus folgt bewusstes Handeln. Wenn ich weiß, wer ich bin, weiß ich auch, was ich auf dieser Welt zu tun habe.

Die zehn Worte sagen: „Ich bin der, der dich aus dem Land, in dem du versklavt worden bist, herausgeführt hat. Du bist jetzt frei. Und jetzt sage ich dir, worin sich deine Freiheit realisiert: Als Befreiter wirst du nicht länger „fremde Götter neben mir haben“; „du wirst dir keine Bilder machen“, „du wirst den Namen Gottes nicht missbrauchen“, „du wirst den Sabbat heiligen“, „du wirst deinen Vater und deine Mutter ehren“, „du wirst nicht töten“, „du wirst nicht ehebrechen“, „du wirst nicht stehlen“, „du wirst kein falsch Zeugnis reden“, „du wirst nicht begehren, deines Nächsten Haus“.

„Der Ort jenseits von falsch und richtig“ ist da, wo nichts ist. Er ist nicht zu finden, weil er nicht ist. Das Alte Testament veranschaulicht dieses „Nichts“ als „Wüste“ – den Ort der „Leere“ oder den Ort des „Nichts“. Ein anderer Mystiker, der Heilige Johannes vom Kreuz, beschreibt diesen Ort so: „Hier gibt es keinen Weg mehr, denn für den Gerechten gibt es kein Gesetz. Er ist sich selber Gesetz.“ Der „Pfad“ dort hin, so Johannes vom Kreuz, ist „nichts, nichts, nichts, nichts.“

Wilfred Bion, der Mystiker unter den Psychoanalytikern, sagt: Die Haltung des Therapeuten in einer Therapiestunde ist: „Ohne Erinnerung, ohne Wunsch und ohne Verstehen.“ (without memory, without desire, without understanding) Oder, poetischer ausgedrückt: Psychoanalyse bedeutet (für mich), sich gemeinsam mit dem Patienten Stunde um Stunde in die Wüste zu begeben.

Damit verbinde ich Jesu Satz: „Verkaufe alles und gib es den Armen!“

Heißt: Lass all das los, woran du dich klammerst, womit du dein Leben füllst, woran du dein Herz hängst. In diesem Loslassen geschieht deine Befreiung. Für Johannes ist dieses Loslassen der „Pfad der Vollkommenheit“. Und er meint mit „Vollkommenheit“ die „Gleichgestaltung“ oder das „Einswerden“ mit Gott.

(Bion nennt das „becoming O“.)

Ein persönliches Bekenntnis am Schluss:

Ich bin der tiefen Überzeugung, dass uns Menschen eine gottlose Gesellschaft überfordert. Der Atheist Gregor Gysi hat kürzlich gesagt: „Ich glaube zwar nicht an Gott, aber ich möchte auch keine gottlose Gesellschaft.“ Ich auch nicht. In ihr sind wir nämlich unseren destruktiven Trieben und unseren narzisstischen Attitüden schutzlos ausgeliefert. Sie sind es, die uns versklaven und am Ende zerstören. Was wir brauchen ist die starke Verbindung mit einem barmherzigen und freundlichen Gott, der uns unsere „Fehler“ vergibt. Nur diese Verbindung kann uns vor uns selbst, vor unserer Destruktivität retten. Ob dieser „“Gott“ Allah, Jahwe, Christus oder Om heißt, ist demgegenüber zweitrangig.

Wir brauchen einen Gott, der uns lehrt, gütig zu werden: Im Umgang mit uns selbst und mit allen Lebewesen, die uns anvertraut sind. Dazu helfe uns jener Gott, der sich in seinem Sohn als die schlechthinnige Liebe offenbart hat. Der Weg zu ihm aber ist ein Weg des Loslassens von allem.

Oder, wie Johannes sagt: Der Pfad des Nichts. AMEN.

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Confiteor: Ein Gebet meiner Seele (nach Psalm 103)

Ein Gebet meiner Seele (nach Psalm 103)

Mit allen Fasern meines Lebens will ich dich loben, lieber Gott, denn alles was mein Leben reich macht, trägt deinen Namen.

Mit allem, was in mir ist, will ich dich loben:

meine alten Knochen, meine schwächer werdenden Muskeln, mein verspanntes Bindegewebe –

sie alle wollen dich loben und danken dafür, dass sie das Leben, dass sie mein Leben getragen haben und tragen.

Es tut mir leid, lieber Gott, dass ich so oft dein Lob vergesse.

Die dadurch entstehende Lücke füllt mein Jammern und Hadern aus,

über mich, über meine Mitmenschen über das Leben.

Dann wird es dumpf und dunkel in mir, ich fühle mich als Versager oder halte meine Mitmenschen für Versager.

Du aber – lieber Gott – du rechnest nicht auf, was ich alles falsch gemacht habe. Du bestrafst mich auch nicht für meine Verfehlungen.

Im Gegenteil: Du freust dich, wenn ich zu dir zurück finde.

Du bist der große Brückenbauer meines Lebens.

Wie eine Brücke über aufgewühltem Wasser bist du …

Du stehst einfach da.

Jederzeit kann ich sie benutzen.

Meine Angst rät mir davon ab, hält mich davon ab.

Meine Angst sagt: Wer weiß, ob die Brücke hält.

Ich will mich aber nicht länger von meiner Angst leiten lassen, lieber Gott.

Ich will zu dir kommen …

Ich will deine Lieder singen, die von der Verantwortung für das Leben handeln und von der Freiheit und von der Gleichberechtigung aller Lebewesen.

Mit allen Fasern meines Lebens will ich dich loben, AMEN.

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Predigt über Lukas 17, 11-19 am 14. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Gemeinde,

was haben die folgenden Sätze gemeinsam?

„Jetzt hab‘ ich mir soviel Mühe für die Vorbereitung des Gottesdienstes gegeben. Und jetzt sind nur so Wenige gekommen Menschen.“

Oder: „Jetzt bin ich stundenlang in der Küche gestanden, um so was Leckeres zu kochen – und jetzt sagst du, dass du keinen Hunger hast … „

Oder, als Reaktion auf einen Therapieabbruch: „Ich hab mich in Ihnen getäuscht. Ich dachte, Sie wollten ernsthaft an sich (therapeutisch) arbeiten …“

Oder: „Ich habe doch immer so gesund gelebt. Und jetzt bekomme ich die Diagnose Krebs. Das glaube ich nicht!“

Oder – aus unserem Predigttext -: „Sind nicht die zehn rein geworden. Wo sind aber die neun? Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrt, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde?“

Der Inhalt dieser Sätze ist sehr unterschiedlich.

Und doch gibt es eine Verbindung, eine Klammer.

Es geht um ein Gefühl. Umgangssprachlich heißt dieses Gefühl: „Frust“.

Zu deutsch: „Enttäuschung“.

In allen Sätzen spricht jemand, der enttäuscht ist.

Enttäuschung gibt es, weil es Erwartungen gibt. Das Gefühl der Enttäuschung entsteht, wenn eine Erwartung nicht eintrifft. Wenn ich mir eingestehen muss: Ich habe mich in dem, was ich erwartete getäuscht.

Enttäuschung ist ein schmerzhaftes Gefühl, ein Gefühl, das so gar keinen Spaß macht,

Und: Enttäuschungen gehören zum Leben dazu. Sowohl für kleine als auch für große Menschen.

„Ich war mir so sicher, dass ich hier der Prinz/die Prinzessin bin. Und jetzt wird mir ein Geschwister vor die Nase gesetzt. Was soll denn das?“

Und weil Enttäuschungen sehr unangenehme Gefühle mit sich bringen, tun wir Menschen – egal ob klein oder groß – viel dafür, sie nicht spüren zu müssen.

Deshalb ziehen wir Menschen es vor, in Täuschungen oder auch Illusionen zu bleiben.

Wir wollten doch allesamt nicht wahrhaben, dass Putin zu solch einem brutalen Krieg im Stande ist. Dabei hat sein Engagement in Syrien genau das gezeigt. Dabei hat er gestz- und völkerrechtswidrig 2014 die Krim besetzt und annektiert.

Oder: Noch immer gibt es Menschen, gerade auch unter Politikern, die nicht wahrhaben wollen, dass es einen von uns Menschen gemachten Klimawandel gibt, der ein hohes zerstörerisches Potential hat. (Erstmals hat der Club of Rome in einer Studie aus dem Jahr 1975 darauf hingewiesen.)

Auf der anderen Seite ist es wohl so, dass wir Menschen zum Leben, zum Überleben, Illusionen brauchen. Die Bereitschaft, diese Illusionen aufzugeben, erfordert sehr viel Kraft,. Es ist ein Weg in die Nüchternheit, in die Anerkennung der nüchternen Wirklichkeit. Die Populisten aller Zeiten verführen damit, dass es gut ist, sich der Wirklichkeit nicht zu stellen. Dass es gut ist, sich den eigenen Illusionen hinzugeben, die eigene Lust zu leben. Die Realisten werden gerne als „Untergangspropheten“ oder „Moralapostel“ abgewertet und abgelehnt. Sie sind die „Miesmacher“.

„Es gibt keinen menschengemachten Klimawandel – wir nennen es Wetter“ ist z.B. so ein populistischer Satz. Ein Satz, der im Angesicht verheerender Waldbrände und Überschwemmungen etwas Zynisches hat.

Liebe Gemeinde,

ich habe heute über eine Geschichte aus dem Lukasevangelium zu predigen, die davon handelt, dass auch einem Jesus Gefühle der Enttäuschung nicht fremd gewesen sind. Nachdem er 10 Aussätzige geheilt hatte, kehrte nur ein einziger von den geheilten Aussätzigen zurück: „… und pries Gott mit lauter Stimme und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm.“ (Vers 15b)

Und Jesus? Wie reagiert er? Er nimmt ihn zunächst gar nicht zur Kenntnis, sondern ist mit sich und seiner Enttäuschung und Empörung beschäftigt: „Sind nicht die zehn rein geworden? Wo aber sind die neun? Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben als dieser Fremde?“ (Vers 17b-18).

Das Verhalten von diesem Jesus ist – jedenfalls für mich – schwer verdaulich. Genauer: Es passt nicht in mein persönliches (höchst subjektives) Bild, das ich mir von Jesus mache, Sein Verhalten erlebe ich als kalt, abweisend, von oben herab. Es scheint ihm überhaupt kein Bedürfnis zu sein, sich persönlich dem dankbaren geheilten Rückkehrer zuzuwenden. Jesus ist gekränkt, enttäuscht und verärgert. Anstelle sich zu freuen, dass da einer wirklich dankbar ist, wird er auch noch abgewertet: „dieser Fremde“ heißt es. Gut: In Jesus ist Gott Mensch geworden. Aber gleich so ein wenig sympathischer Mensch: Muss das sein?

Doch halt! Jetzt erlebe ich ja gerade selbst, wovon ich vorhin gesprochen habe: Über diesen Jesus bin ich enttäuscht! Gut – Gott ist Mensch geworden – aber für mich heißt Mensch-sein, gelernt zu haben, mit den eigenen Gefühlen von Enttäuschung umgehen zu können, sie bei sich halten zu können – und schon gar nicht, sie an Anderen auszulassen! Dies erwarte ich von mir, von Eltern, von Lehrern, von Vorgesetzten, von Pfarrern auch von Jesus. Wäre der „Fremde“ selbstbewusst gewesen, hätte er sagen müssen: „Ich wollte mich nur bei dir bedanken. Aber dir scheinen die Anderen wichtiger zu sein als mein Dank!“

Und schon wieder ruft eine Stimme in mir: Halt!

Wie oft hast du denn schon deine Enttäuschung an anderen Menschen ausgelassen?

Du solltest nicht etwas predigen, was du selber nicht kannst!

Und noch eins:

Die „Aussätzigen“ unserer Geschichte sind jene Menschen, mit denen niemand etwas zu tun haben will. Sie haben Lepra, und das ist hoch ansteckend. Also wurden sie aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Die Aussätzigen wurden „ausgesetzt“ – um die Gemeinschaft zu schützen.

Daraus erwuchs ihr Selbst-Verständnis: Wir sind die Ausgeschlossenen!

Von daher ist es doch sehr verständlich, wenn die große Mehrheit dieser Aussätzig-Ausgeschlossenen sich nicht für das Heil-Werden bedankt. Jesus, der Heiler, hat ihnen das genommen, wovon sie gelebt haben: Ihre Identität. Ihr Selbstverständnis. Und dafür soll man sich auch noch bedanken?

Wer den Mut hat, sich auf einen echten Veränderungsprozess einzulassen, der erlebt übrigens notwendiger Weise Gefühle von Verwirrung. Veränderung heißt „anders“ werden. Dazu gehört, dass man sich nicht mehr auskennt. Wirkliche Veränderung führt notwendig zum Verlassen des Vertrauten, zum Verlassen der „Komfort-Zone“. Echte Veränderung führt in Neuland. Und Neuland heißt: Ich kenne mich nicht aus. Habe keine vertrauten Ankerpunkte! Das ist übrigens meines Erachtens der entscheidende Grund, dass Psychoanalyse keine beliebte Therapieform ist. Wir Menschen mögen keine in die Tiefe gehende Veränderung. Sie verunsichert. Und Verunsicherung ängstigt! Am vertrauten Unglück festzuhalten hat einen riesigen Vorteil: Ich kenne mich aus.

Liebe Gemeinde,

jetzt ist passiert, was mir öfters passiert. Ich kenne mich nicht mehr aus!

Ich hatte mir vorgenommen, über Dankbarkeit bzw. Undankbarkeit zu predigen. Und bin bei der Frage nach Veränderung/Heilung herausgekommen. Das ist auch so ein Veränderungs-Geschehen im Entwerfen einer Predigt: Irgendetwas macht sich da selbstständig. Dieses „Irgendetwas“ ist der Fluss meiner Gedanken. Die suchen sich ihr ganz eigenes Flussbett – und mein Ich steht irgendwie blöd daneben. Wieder einmal ist es anders gekommen, als ich dachte: Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt …

Eigentlich wollte ich ja diese Predigt mit dem schönen Satz beginnen: „Ich danke, also bin ich!“ Es ist eine Abwandlung des berühmten Descartschen „cogito, ergo sum“ (Ich denke, also bin ich.) Nur ein einziger Buchstabe ist anders – und schon ergibt sich ein neuer Sinn. Aber: Ist das wirklich ein neuer Sinn – oder ein neuer Nicht-Sinn, ein Un-Sinn (Nonsense)? Das würde ja bedeuten, die Grundlage meines Lebens, meiner Existenz wäre der Dank. Dazu würde der Satz von Meister Eckhart passen: „Hätte der Mensch nicht mehr mit Gott zu schaffen, als dass er dankbar ist, es wäre genug.“ (Predigt 34, Deutsche Werke S. 374, 6)

Und bei Paulus – auf den sich Meister Eckhart bezieht – heißt es: „… eure Gedanken mögen in Danksagung oder Flehen bei Gott erkannt werden“ (Phil. 4, 6b)

Und wie gelange ich in solch eine Haltung der Dankbarkeit?

Dankbar sein ist etwas sehr anderes als danke zu sagen.

Danke sagen geht leicht und schnell.

Aber dankbar sein? Was ist das?

„Ich danke dir Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner…“ (Lukas 18,11) Das ist das Dankgebet eines Selbstgerechten. Das Gebet des Zöllners lautet: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ (ebd. 13c).

„Gott sei mir Sünder gnädig!“ Hier fehlt das Wort „danke“. Und doch führt der Weg in die Dankbarkeit über das Erleben des eigenen Unvermögens, des eigenen Nicht-Könnens. Der Weg aus den Illusionen, wie toll ich doch bin, und dass ich in allem recht habe, führt über das Sich-Eingestehen: Da habe ich mich getäuscht. So grandios, wie ich meinte, bin ich nicht. Erst wenn ich mir dies eingestehen kann, wenn ich mir mein „Sünder-Sein“ eingestehen kann, kann ich um Gnade beten. Und erst dann kann ich Barmherzigkeit erleben. Die Selbstgerechten, die Allwissenden, die Pharisäer brauchen keinen barmherzigen Gott. Und die in ihrem Sünder-sein stecken Gebliebenen, die um ihr „Fehler“ und Selbstvorwürfe Kreisenden . , die bekommen keinen barmherzigen Gott, weil sie meinen, dies stehe ihnen nicht zu.

Beide sind immun gegen das Erleben von Gnade geworden.

Wer meint, er kann aus sich heraus leben, und wenn es gerade nicht weiter geht, dann muss man sich halt neu erfinden – der braucht keine Barmherzigkeit, der braucht keinen Gott. Wer meint, seine Existenz ist es, vor Gott und auch sonst zu wenig zu sein – der muss Barmherzigkeit ablehnen. Der eine kann sich nichts schenken lassen, weil er alles schon selber hat, der andere kann sich nichts schenken lassen, weil er der Überzeugung ist, dies stehe ihm nicht zu. Beiden gemeinsam aber ist: Es ist gibt keine Bewegung hin zu einem neuen Leben in Gott. Und zwar ganz einfach deshalb: Weil die Bereitschaft fehlt, sich etwas schenken zu lassen.

Im Paradies ist es Satan, der damit verführt zu sagen: Wozu braucht Ihr Gott? Ihr seid doch selber Gott gleich. Lass Euch doch von diesem Gott nicht irgendwelche sinnlosen Verbote aufdrücken. Lebt, was Euch Spaß macht, esst, worauf Ihr Lust habt! Genau: Wir lassen uns doch unsere Lust am Essen nicht verbieten. Reist, wohin Ihr wollt und womit Ihr wollt! Genau: Wir lassen uns doch unsere Lust am Reisen nicht verbieten! Heizt, womit Ihr wollt. Genau: Was soll dieser Schwachsinn mit Wärmepumpen, Windrädern und Solarmodulen!

So gesehen ist Satan der erste Populist.

Er hat nicht die Kraft, „sein Joch“ auf sich zu nehmen, sich der Realität, der Wirklichkeit unseres menschlichen Lebens zu stellen. Er lebt in seinen Illusionen. Und es gibt für ihn keine Möglichkeit, diese zu modifizieren. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als für seine Art zu leben, zu werben und zu verführen. Die Populisten verführen mit einfachen Pseudo-Lösungen. Dies betrifft auch die Geschichte der christlichen Religion. Hier lautet die populistische Verführung: Wenn du brav bist und gottgefällig lebst, darfst du ewig im Paradies leben.

Anders unsere Vorfahren, Eva und Adam. Sie haben sich zunächst (auch) von Satan verführen lassen. Aber dann – und das ist entscheidend – machen Sie sich auf ihren ganz eigenen Weg. Dazu müssen sie das Paradies verlassen. Und indem sie dies tun, bejahen sie ihr Leben, bejahen das, was auf uns Menschen zukommt, wenn wir es wagen, erwachsen zu werden: Arbeiten, Kinder kriegen, alt werden und am Ende wieder verschwinden.

Übrigens: Dass das Verlassen des Paradieses nichts mit einem „bösen“ strafenden Gott zu tun hat, kann man an einem wunderschönen Detail erkennen, das gerne weggelassen wird:

„Und Gott der Herr machte Adam und seiner Frau Röcke von Fellen und zog sie ihnen an,“ (Genesis 3, 21). Gott macht das, was gute Eltern tun: Sie statten ihre Kinder damit aus, im Leben zurecht zu kommen. Dazu brauchen die Eltern die Kraft und die Fähigkeit, ihre Kinder ihren eigenen Weg gehen zu lassen.

Sie sein zu lassen.

Und wenn es heißt: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen“ (ebd. V. 19b.) – dann ist keine Drohung und auch keine Strafe in dem Sinne: Das habt Ihr jetzt davon, weil Ihr so böse gewesen seid und Euch nicht an mein Gebot gehalten habt.

Es ist vielmehr die Beschreibung dessen, was es heißt, als Erwachsener zu leben.

Ja, so ist das: Arbeit ist anstrengend. Wer meint, das Leben ist ein Ponyhof – auf dem man übrigens auch ins Schwitzen kommen kann – wer meint, Leben heißt, möglichst viel Lust zu erleben und Unlust zu vermeiden, der wird immer enger, immer starrer, immer abhängiger davon, dass er diese Lust erleben kann. Bis er am Ende süchtig geworden ist: süchtig nach Lust. Die Kehrseite davon ist der mörderische Hass auf alles, was seinem Lusterleben im Wege steht. Für die totalitären Herrscher ist das die Demokratie. Sie ist es deshalb, weil sie ein relatives System ist, das auf Diskurs und Meinungsverschiedenheit aufgebaut ist. Dies auszuhalten macht Un-Lust; und es verunsichert. Die Botschaft des Satans, die Botschaft der Populisten aber lautet: Wenn Ihr mir nachfolgt, braucht ihr keine Unlust erleben.

„Ich führe Euch herrlichen Zeiten entgegen“, hatte Kaiser Wilhelm II. zu Beginn des 1. Weltkriegs gesagt.

Jesus hat gesagt: „Wer mir folgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich täglich und folge mir nach.“ (Lukas 9, 23)

Und weiter: „Denn wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren; wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s erhalten.“ (ebd. V. 24) AMEN.

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Predigt über Matthäus 5, 13 – 16 am 8. Sonntag nach Trinitatis 2023

Liebe Gemeinde,

„seien Sie diese Salz und das helle christliche Matthäus!“

Dies kam mir als erstes entgegen, als ich „Auslegung zu Matthäus 5,13-17“ in Google eingab. Es handelt sich um die Werbung für ein T-Shirt mit der Aufschrift: „Be these Matthew 5,13“. Es wird als „atemberaubendes und trendiges Produkt“ beschrieben. Als ich das las, dachte ich mir: Wenn Jesus das mitbekommen hätte, er hätte sich im Grab umgedreht. Dieser Gedanke erheiterte mich, weil ich vergessen hatte, dass Jesus ja im Grab nicht zu finden ist.

„Ihr seid das Salz der Erde!“ Mit diesem bekannten Ausruf beginnt unser heutiger Predigttext, das vorhin gehörte Evangelium. Er findet sich am Beginn der Bergpredigt, in unmittelbarem Anschluss an die bekannten Seligpreisungen. Nimmt man diese Verbindung ernst, so hieße das:

Wer aus den Seligpreisungen heraus lebt, der wird zum Salz der Erde. Und der wird zum „Licht der Welt“, fügt Jesus hinzu.

Und so klingt das in unserem heutigen Predigttext:

13Ihr seid das Salz der Erde. Wenn aber das Salz fade wird, womit sollen wir salzen? Es ist völlig unbrauchbar geworden, wird weggeworfen und von den Leuten zertreten. 14Ihr seid das Licht der Welt. Die Stadt hoch auf dem Berg kann sich nicht verstecken. 15Niemand zündet ein Licht an und stellt es dann unter einen Krug. Es wird vielmehr auf den Leuchter gesetzt. Dann leuchtet es für alle, die im Haus sind. 16So soll auch euer Licht den Menschen leuchten, damit sie eure guten Taten sehen und euren Gott im Himmel loben.“

Vorab zwei Erklärungen: Erstens: Damals war Salz ein sehr wertvoller Stoff. Es wurde z.B. aus dem Toten Meer gewonnen und enthielt viele „Fremdstoffe“, Man konnte es nicht so gut reinigen wie heute, so dass es, einmal feucht geworden, nicht mehr als Gewürz zu gebrauchen war, da es sich auflöste.

Zweitens: Der Scheffel ist ein Hohlmaß. Damit wurde zum Beispiel Getreide gemessen. Ein Scheffel war relativ groß und man kann ihn sich wie eine Art Bottich vorstellen. Wenn man nun darunter ein Licht gestellt hat, dann war die Funktion des Lichtes zu leuchten nicht mehr gegeben. Es war völlig sinnlos, so etwas zu machen.

So weit – so gut:

Aber – und das ist jetzt die entscheidende Frage -:

Was bedeuten diese Sätze für uns, die wir heute leben, für die Salz in jedem Supermarkt für wenig Geld zu erwerben ist, genauso wie Kerzen oder Glühbirnen.

Ich weiß nicht wie es Ihnen geht: Aber ich reagiere empfindlich bis ablehnend darauf, wenn ich solche „Zuschreibungen“ bekomme. „Sei doch nicht so blöd!“ sagte meine Mutter zu mir, als sie erfuhr, dass ich meine Steuererklärung ehrlich und gewissenhaft machte. „Du Idiot!“ sagte mir ein sogenannter „Freund“, als er erfuhr, dass meine Frau und ich sich einen völlig unerzogenen, auch noch tauben älteren Hund aus einem Tierheim geholt haben.

Das sind zwei Beispiele für abwertende Zuschreibungen aus eigener Erfahrung. Es gibt natürlich auch aufwertende Zuschreibungen. Z.B. wenn ein Patient sagt: „Sie sind mein Retter!“ Oder ein Mann zu seiner Frau sagt: „Du bist mein Ein und Alles!“ Auch solche Sätze führen in die Unfreiheit, weil zu hohe Erwartung notgedrungen enttäuscht werden muss.

Ich weiß nicht wie es Ihnen geht, liebe Gemeinde, aber in mir wehrt sich alles gegen die Zuschreibung, Salz der Erde oder Licht der Welt zu sein. Um Gottes Willen, nein, das bin ich nicht! Das ist viel zu viel, zu hoch, zu extrem. Außerdem: Zuschreibungen sind Bemächtigungen. In Bemächtigung steckt „Macht“. Zuschreibungen üben Macht aus: Wieder in beide Richtungen. Sie erhöhen in Richtung Messias, Retter, Heiland. Sie erniedrigen in Richtung Teufel, Verführer, Versager. Es ist die Macht der Manipulation, die von Zuschreibungen ausgeht.

Indem ich die Kraft entwickle, Manipulationen zu durchschauen, verlieren sie ihre Macht. Dann kann ich mich von den Zuschreibungen distanzieren. Und dann kann ich auch die Enttäuschungen ertragen, die ich auslöse, indem ich sage: Was du in mir siehst oder das du von mir erhoffst: Das bin ich nicht!

Nein – ich bin nicht Salz der Erde, auch nicht Licht der Welt.

Ich weiß nicht genau, was oder wer ich bin. Was ich weiß, ist, dass ich versuche, da zu sein und zu leben: als Mensch, als Mann, als Vater, als Großvater, als Ehemann, als Pfarrer, als Therapeut. Und ich versuche aufmerksam zu sein. Ich versuche, das, was mir begegnet (sei es Belebtes, sei es Unbelebtes), auf mich wirken zu lassen – ohne es zu bewerten oder gar zu verurteilen. Ich sage sehr bewusst: „Ich versuche“. Weil ich alltäglich die Erfahrung mache, dass es mir nicht gelingt. Weil ich alltäglich Gedanken in mir habe, die sagen: Das gibt es doch nicht: Wie können Menschen so blöd, so grausam, so selbst verliebt sein. Dies gilt ganz besonders für Menschen in Institutionen, die mir nahe sind, zu denen ich selbst gehöre. Kirchliche Amtsträger z.B. oder Funktionäre in psychotherapeutischen Institutionen. Und wenn ich dann selbst beurteile und abwerte, dann merke ich: Dies fließt aus meiner eigenen Enttäuschung.

Augenblicklich können wir dieses Phänomen in der Politik erleben. Den Zulauf, den eine rechtsextreme Partei derzeit hat, sehe ich in direktem Zusammenhang mit der Enttäuschung über die etablierten Parteien. Damit verbunden ist die Enttäuschung über die Demokratie als Staatsform, die sich das Grundgesetz gegeben hat: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Und Geflüchtete, black coulored people, Homosexuelle usw. – sind zunächst einmal Menschen. Mit-Menschen.

Die revolutionäre Idee unseres Grundgesetzes ist: Die Würde des Menschen steht für sich – losgelöst davon, ob er Salz der Erde oder Licht der Welt ist.-

Wozu dann diese „Ihr seid …“ – Sätze?

Sie stiften vermeintliche Identität. Und sind die andere Seite der „Ich-bin-Worte“ Jesu. „Ich bin das Brot des Lebens“, „ich bin das Licht der Welt“, „ich bin die Tür“, „ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ usw.

Man hat gesagt, diese Worte sind Ausdruck dessen, dass Jesus für sich beanspruchte, der Messias zu sein. Da wir historisch über ihn so wenig wissen, wissen wir auch nicht, wie Jesus sich selbst sah. Was aber in jedem Fall gilt: Sie sind Ausdruck der Messiassehnsucht, die der oder die Verfasser des Johannesevangeliums hatte bzw. hatten. Diese Sehnsucht ist allgemein menschlich, sehr verständlich – und entwicklungsfeindlich.

Sich entwickeln heißt, sich der Wirklichkeit, so wie sie nun einmal ist, zuzuwenden. Unsere Sehnsüchte lehnen diese Wirklichkeit ab. Sie wollen eine andere Welt, Das Aufgeben einer Sehnsucht aber ist unweigerlich mit Gefühlen der Enttäuschung verbunden. Und Enttäuschungen können sehr, sehr schmerzhaft sein. Sich der Wirklichkeit hingeben heißt anzuerkennen, welche Steuern ich zu bezahlen habe. Heißt anzuerkennen, dass wir uns alle täuschen können, auch als hochrangige Politiker oder Kleriker. Und heißt zu akzeptieren, dass ich ziemlich allein auf dieser Welt bin.

Adam und Eva – von denen wir alle abstammen – entwickeln diese Kraft, die Wirklichkeit anzuerkennen, indem sie das Paradies verlassen. Sie entwickeln die Kraft, anzuerkennen, dass sie das Paradies verloren haben. (Vgl. hierzu die geniale Dichtung von John Milton, „Paradise lost“.) Sie entwickeln diese Kraft, nicht weil sie an einen allmächtigen Gott glauben, sondern weil sie einen barmherzigen, fürsorglichen und einfühlsamen Gott erleben.

Dieser Gott näht ihnen Felle, damit sie nicht frieren. Dieser Gott sendet Ihnen seinen eigenen Sohn, der ihnen hilft, die Widrigkeiten und Enttäuschungen ihres Lebens zu überleben – ohne dafür in das alte Allmachtsdenken zurück zu fallen.

In Jesus Christus offenbart sich nicht an erster Stelle ein Macht-Gott. In Jesus Christus offenbart sich ein Gott, der zu Liebe, Rücksichtnahme, Empathie gerade auch für die „schwachen“ Mitglieder unserer Gesellschaft fähig ist.

Und es ist ein Teufelswerk, daraus einen Allmachtsglauben zu „zaubern“.

Genau dies aber ist in der Geschichte des Christentums geschehen durch die von Paulus stammende Engführung des Glaubens an Jesus Christus als den „Auferstandenen“. Nicht die Auferstehung ist das Zentrum der Geschichte Jesu, sondern seine Predigt der bedingungslosen Liebe Gottes, die allen Lebewesen, die allem, was da ist, gleichermaßen gilt. Jesus hat sein Leben dieser „Kunst des Liebens“ gewidmet. Sie ist es, die nicht tot zu kriegen ist. Sie ist es, die nicht im Grab zu finden ist.

Dorothee Sölle hat einmal über Jesus gedichtet:

Vergleiche ihn ruhig mit anderen grössen

sokrates

rosa luxemburg

gandhi

er hält das aus

besser ist allerdings

du vergleichst ihn

mit dir

Indem ich mich, mein Leben mit Jesus vergleiche, bekommen die beiden Bilder vom Salz der Erde und vom Licht der Welt eine ganz neue Bedeutung, die mich berührt.

Es geht nicht darum, dass ich irgend etwas Tolles mache.

Die Kraft des Salzes besteht darin, sich aufzulösen.

Die Kraft des Lichtes – des Kerzenlichtes – besteht darin, zu verbrennen.

Die Kraft dessen, was Jesus uns vorgelebt hat, ist die Kraft liebevoller Hingabe. Dies ist das Gegenteil von Machtausübung. Macht auszuüben verleiht mir die Illusion zu meinen, ich hätte alles im Griff, „unter Kontrolle“.

Hingabe ist die Kraft, Kontrolle aus der Hand zu geben, sich zu überlassen.

Sich der eigenen Intuition, sich der eigenen Wahrheit zu überlassen. Dann geht es nicht mehr um mich, sondern um die Wahrheit, die aus mir spricht. Und je inniger die Verbindung zwischen mir und der Wahrheit wird, desto mehr nähere ich mich dem an, was Jesus im Johannesevangelium sagt: „Ich bin die Wahrheit.“ Und je tiefer ich mich meiner Wahrheit überlasse, desto leicht lasse ich los von meinen Sehnsüchten, wie ich, wie mein Leben sein sollte und wie der Andere für mich sein soll.

Vielleicht denken Sie sich jetzt – Das kann ich nicht! Und das will ich auch nicht!

Ja, wo kämen wir denn da hin, wenn ich mich nicht mehr nach meinen Wünschen richten würde, wenn ich meinen Empörungen keinen Raum mehr geben würde. …

Wo kämen wir hin,

wenn jeder sagte,

wo kämen wir hin

und keiner ginge,

um zu sehen,

wohin wir kämen,

wenn wir gingen. (Hat Kurt Marti gedichtet. )

Vielleicht würden wir dann ein bisschen salziger werden und ein bisschen erleuchteter. Vielleicht auch nicht.

Rauskriegen tun wir das erst, wenn wir dahin gingen, wo wir von vorne herein sagen: „Ja, wo kämen wir denn da hin!“ AMEN.

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„Der verlorene Sohn“ bzw. „die verlorene Tochter“: Predigt über Lukas 15 am 3. Sonntag nach Trinitatis 2023

Liebe Gemeinde,

„der Menschensohn ist gekommen zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“ Dieser Satz aus dem Lukasevangelium gibt unserem heutigen Gottesdienst seine Überschrift.

Er ist wohl gut gemeint.

Nur – kommt er auch „gut“ an?

Es könnte ja sein, dass jemand sich eben deshalb versteckt, um nicht gefunden zu werden. Sein Misstrauen und seine Angst sind stärker als das Vertrauen darauf, dass er „selig gemacht“ werden soll.

Es gibt ein wunderschönes Buch des englischen Psychoanalytikers John Steiner über „Orte seelischen Rückzugs“. Die zugrunde liegende Erkenntnis ist die, dass seelisch Not leidende Menschen sich Orte suchen und finden, in denen sie vermeintlich sicher sind. Die ihnen Schutz vor befürchteten Angriffen geben. In denen sie „ihre Ruhe“ haben. Für Kinder ist so ein Zufluchtsort gar nicht selten die Toilette, wo es erlaubt ist, hinter sich abzusperren.

Auch Musik kann sich dafür eignen.

Es muss jedenfalls ein Ort ein, wo der/die Andere nicht hinkommt.

Für mich war und ist so ein Rückzugsort die Spiritualität.

Und wenn ich – wie gerade – einen Gottesdienst leite, dann stehe ich zwar in der Öffentlichkeit, bin also ungeschützt. Aber ich habe die mir vertraute Liturgie des Gottesdienstes und dadurch weiß ich – zumindest meistens – was auf mich zukommt. Dieses Wissen verleiht mir Sicherheit und bindet meine Ängste. Nicht zu wissen, was auf einen zukommt, ist ein ekelhaftes Gefühl. Ich vermute, dass die Angst vor dem Tod zum größten Teil eine Angst davor ist, nicht zu wissen, was da auf einem zukommt.

Jetzt – beim Predigen – habe ich mein Manuskript. Auch das gibt mir Sicherheit. Wenn ich völlig „neben der Spur“ bin, kann ich mich daran festhalten.

Unser heutiges Evangelium, das Gleichnis vom verlorenen Sohn – Sie haben es vorhin wahrscheinlich nicht zum ersten Mal gehört – ist die Geschichte von einem, der sich aus seiner Familie zurückzieht. „Er reiste weg in ein fernes Land“ (V. 13b). Womöglich dachte er: Je weiter ich von zu Hause weg bin, desto freier bin ich. Endlich kann ich mal machen, was ich will!

Dort „verprasste“ – so in der Übersetzung M. Luthers – er sein Erbteil. Dies ist natürlich eine Wertung. Wörtlich steht da: Er „vergeudete sein Vermögen, indem er verschwenderisch lebte“. Was war sein Vermögen? Es war auch aber nicht nur sein Erbteil. Im Griechischen heißt „Vermögen“ „Ousia“, wörtlich: „Existenz“ im Sinne von „Sein“.

Er vergeudete seine „Existenz“ wäre also die wörtliche Übersetzung. Man könnte auch sagen: Er opferte seine Existenz für seine „Lust“, für seinen Spaß, für den Genuss. Ohne es zu merken, bezahlte er einen sehr hohen Preis für sein Verlangen, möglich viel Lust aus dem Leben heraus zu holen. Wenn dies von vorneherein abgewertet wird, geht eine wesentliche Erkenntnis verloren: Dass nämlich vor dem Erwachsen-Werden die Pubertät steht. Für das Erleben-Dürfen einer gesunden Pubertät gehört, die eigenen Eltern in Frage stellen, sich von ihnen trennen zu dürfen. Und es gehört ein Gefühl von Unverletzlichkeit, ja Allmacht dazu. Das ist alles völlig normal. Irgendwann, Mitte zwanzig, kommt dann die Erfahrung: Jetzt geht es so nicht mehr weiter. Dies kann eine Trennung sein, ein Unfall, ein Schicksalsschlag.

Bei dem „verlorenen Sohn“ ging es solange gut, bis er nichts mehr hatte, bis er mit leeren Händen da stand. Da fing er selbst an, „Mangel zu leiden“ (V.14b). Dies führte ihn dazu, „sich an die Fersen“ eines Bürgers aus jenem fremden Land zu „hängen“. Er machte sich von ihm abhängig, da er so wahnsinnig hungrig war. Dieser Mann gab ihm den niedrigsten Job, der damals auf einem Bauernhof zu vergeben war: „Du kannst die Schweine hüten!“ Dies tat er und war noch einmal angetrieben von seiner Begierde: „…er begehrte seinen Bauch zu füllen mit den Schoten, die die Schweine fraßen.“

„Und niemand gab ihm.“ Heißt: Und niemand kümmerte sich um ihn. Er spürte: Das ist keine Lösung! Ich bin so hungrig und so werde ich nicht satt.

„Als er aber zu sich kam…“ (V.17a). Dies ist der Wendepunkt in der Geschichte des verlorenen Sohnes: „Er kommt zu sich!“

Das heißt: Eigentlich handelt seine Geschichte davon, wohin es führt, wenn man sich selbst verliert. Wenn man sich zu sehr davon leiten lässt: Was macht mir Spaß, was vermehrt meine Befriedigung? Dann ist die Gefahr groß, zum Sklaven der eigenen Lust, zum Sklaven der eigenen süchtigen Suche nach Befriedigung werden.

Es ist die große Schwäche des Kapitalismus, dass er das Prinzip: „Ich mache, was ich will“ verherrlicht. „Wir leben in einer Demokratie – d.h. jeder kann essen, was er will“, hat unser Ministerpräsident vor kurzem gesagt. Das ist leider Ausdruck eines schwachen Ichs, das sich der eigenen Begierde unterwirft. Und weil es zu beschämend ist, sich das einzugestehen, heißt es: „Ich will das gerade so!“

Ein starkes Ich aber zeichnet gerade nicht dadurch aus, dass es darauf angewiesen ist, jederzeit machen zu können, was es will. Ein starkes Ich zeichnet aus, dass es stärker ist als die eignen Begierden und Gelüste. Ein starkes Ich ist per definitionem ein soziales Ich. Es hat gelernt, im Dienste von sozialer Verantwortung zu geben, zu nehmen – und zu verzichten. Ein starkes Ich kann und will seine eigenen Begierden hemmen – für ein konstruktives Miteinander. Mit anderen Worten: Ein starkes Ich kann sich selbst (zurück-)halten.

Damit sich etwas verändert, ist es notwendig, „zu sich zu kommen“. Der verlorene Sohn kommt nicht freiwillig zu sich, sondern weil ihm das Geld ausgegangen ist. Wirkliche Veränderung geschieht nur über das Erleiden dessen, dass es „so nicht weiter geht“. Zur wirklicher Veränderung gehören die Gefühl von Katastrophe. Dass wir in Deutschland (noch – und hoffentlich noch lange!) in einer stabilen Demokratie leben dürfen, hat mit dem katastrophalen Ende des nationalsozialistischen Regimes zu tun. In gewisser Weise muss man anerkennen: uns wurde die Demokratie aufgepfropft. Die jetzigen Versuche, Energie zu sparen, klimaneutral zu leben, fließen auch aus der Einsicht, dass „es so nicht weiter geht“. Und natürlich gibt es auch den Widerstand dagegen, der sich „nichts vorschreiben lassen will“.

Der verlorene Sohn ist dabei, sich selbst zu finden, indem er „umkehrt“. Es ist die Bewegung der Rückkehr, der Umkehr, die zu meinem Selbst führt. Diese Bewegung geht notwendig einher mit Reue: „Ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir, ich bin nicht mehr würdig, dein Sohn zu heißen.“ (V.18bf)

Und ich füge hinzu: „Ich habe gesündigt vor meinem eigenen Selbst. Ich habe mein eigenes Leben verraten, habe mein Vermögen, mein Können, meine Existenz verkauft. Jetzt, wo ich zurückkehre, merke ich: „Lieber bin ich ein Tagelöhner – aber ich weiß, wo ich hingehöre, bin mit mir, mit meiner Identität in guter Verbindung.“ Wer mit sich selbst in liebevoller Verbindung ist, der benötigt keine Rückzugsräume. Er muss sich nicht länger über Flucht und Rückzug schützen.

Die liebevolle Verbindung zu und mit sich selbst ist auch unabdingbar dafür, was das Schwierigste im Leben ist: Sich selbst zu vergeben. Der Weg in die ersehnte Freiheit führt über das Loslassen der alten vertrauten Fesseln. Loslassen aber heißt weggeben. Eben vergeben.

Der verlorene Sohn hat auf seinem Heimweg, auf dem Weg zu sich nach Hause, einen neuen Vater gefunden: Einen Vater, der vergibt. Ein Vater der sich mit seinem Sohn freut über den Weg, den sein Sohn gehen konnte. Echte Freude kann nur der erleben, der all das, womit er nicht einverstanden ist, was alles in seinem Leben nicht hätte passieren dürfen – losgelassen hat. Nicht im Sinne eines billigen „Schwamm drüber“. Sondern im Sinne eines ehrlichen Betrauerns dessen, was man anderen Menschen und sich selbst an Leid zugefügt hat.

„Vergib uns unsere Schuld – wie auch wir vergeben unsern Schuldigern!“

Diese Bitte geht für den Menschen in Erfüllung, der das Risiko auf sich nimmt, zu sich und so zu Gott zurück zu kehren. Dazu braucht er einen Gott, der fähig und bereit für Vergebung ist.

Wie schwierig das ist, wird am Verhalten des anderen Sohnes, seines älteren Bruders deutlich. Er kann und will nicht einsehen, dass das so „einfach“ gehen soll. Er ist zornig, fühlt sich sehr ungerecht behandelt. „Siehe, so viele Jahre diene ich dir und niemals habe ich ein Gebot von dir übertreten, und mit hat du niemals ein Böckchen gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich gewesen wäre. Da aber dieser dein Sohn gekommen ist, der deine Habe mit Huren durchgebracht hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet.“ (V. (V. 29b-30)

Aus ihm spricht der Neid des vermeintlich zu kurz Gekommenen. Im Neid ist Vergeben und Verzeihen unmöglich. Neid und Hass sind Geschwister. Sie wollen festhalten. Es wird auch deutlich, dass sein erst geborener Bruder gar nicht aus innerer Beteiligung und Freude sein Leben auf dem Hof des Vaters gelebt hat, sondern aus dem Pflichtgefühl heraus, „es recht zu machen“. „Ich habe alle deine Gebote gehalten“ sagt er. Und der Vater antwortet: „Kind, du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, ist dein. Aber man musste doch jetzt fröhlich sein und sich freuen; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden und verloren und ist gefunden worden.“ (V.32)

Natürlich haben die Menschen dieses Gleichnis in Bezug zu Gott gehört. Und es hat sie radikal verunsichert. Was redet Jesus da? Gott freut sich über die Umkehr eines Sünders so sehr, dass er ihm seine Verfehlungen nicht übel nimmt? Ja – er scheint sich über die Umkehr eines Sünders mehr zu freuen, als über denjenigen, der von Anfang an ein Gott gefälliges Leben lebt? Das ist doch unerhört! Wozu gebe ich mir dann überhaupt soviel Mühe, die Gebote zu halten?

Jesus hat die Schwäche dessen schonungslos aufgedeckt, was man pharisäische Moral nennen könnte. Es ist insofern eine verdrehte Moral, als sie nicht „von Herzen“ kommt. Es ist eine Moral, die darauf aus ist, vor Gott gut da zu stehen. Und es ist eine Moral, die es gar nicht mag, kritisiert zu werden. Diese Moral ist selbstgerecht und überheblich. Überheblichkeit oder Arroganz sind im übrigen auch verbreitete Schutzräume von Menschen mit einem unsicheren Ich.

Jesus Kritik an der pharisäischen Moral provoziert ihre Vertreter, die Pharisäer, so sehr, dass sie ihn töten mussten. Sie meinten, damit auch seine Gedanken beseitigen zu können. Auch unser Gleichnis ist eine einzige Provokation an diejenigen (unter uns?), die der Meinung sind, doch alles richtig zu machen. Der Gott, den Jesus verkündet, legt keinen Wert auf die „Rechthaber“ und „Richtig-Macher“. Er legt Wert auf die, die fähig und bereit sind, sich selbst und das was sie denken und tun, kritisch zu hinterfragen. Und die den Mut und die Kraft haben, neue Erkenntnisse auch zu realisieren. Was sich nicht selten als 180 Grad-Wendung, oder biblisch: als Umkehr anfühlt. Diese Wendung zu vollziehen fällt so schwer, weil mit ihr das Verlassen der vertrauten Denk- und Schutzräume einher geht.

Aber: „… was nützt es einem Menschen, die ganze Welt zu gewinnen und sein Leben einzubüßen?“ (Markus 8, 36) Das ist auch so eine Provokation dieses Mannes aus Nazareth!

AMEN

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Predigt an Christi Himmelfahrt 2023 über Lukas 24, 50-53

Liebe Gemeinde,

als wir vorhin zusammen den Psalm 47 beteten, kamen mir Bilder von der Krönung von König Charles III. In den Sinn.

Beide Male geht es um eine Inthronisation. „Gott fährt auf unter jauchzen“ heißt es in Psalm 47. Er ist „König über die ganze Erde“.

Und natürlich gibt es auch bei uns, in der christlichen Religion die, die sagen:

„This is not my King!“

Wir brauchen keinen König. Und wir brauchen auch keinen Gott.

Unser amtierender Kanzler hat bei seinem Amtseid auf den Zusatz „so wahr mir Gott helfe“ verzichtet. Das war in jedem Fall ehrlich. Und es ist ein leichtes, die Kirche als menschliche Institution zu kritisieren. Es ist ein Leichtes, auf die unselige Koalition von kirchlichem Establishment und Machtpolitik zu verweisen, aktuell vorgelebt vom Moskauer Patriarchen Kyrill I. So wie es ein Leichtes ist, auf die negativen Seiten der Kolonisierung hinzuweisen. Es ist ein Leichtes, dagegen zu sein.

In der Demokratie gibt es die Regierung und die Opposition.

Welch eine wertvolle Errungenschaft von uns Menschen, dass beides, das Dafür und das Dagegen, seinen Platz bekommt. Und die Geschichte lehrt, wie fragil diese Errungenschaft ist. Und wie groß die Verführungen und Verlockungen der Macht sind. Jener Macht, die sich selbst absolut setzen will.

Die große öffentliche Aufmerksamkeit, die die Krönung von Charles III. bekommen hat, macht aber auch noch was anderes deutlich: Unser aller Sehnsucht nach einer guten, sinnstiftenden Ordnung die durch einen „guten Führer“ repräsentiert wird. Eine Sehnsucht, die sich auch bei grausamen Diktatoren findet. Putin hat einmal gesagt: „Ja, es stimmt. Ich bin ein Diktator – aber ich bin ein guter!“

Und die Gräuel, die im Namen dieses Gut-Seins, die auch im Namen unseres Herrn und Heilands Jesus Christus begangen worden sind – die sind vom subjektiven Erleben her keine Gräuel, sondern sie waren notwendig für den Sieg „des Guten“. Die Kreuzzüge waren notwendig, um die „Heilige Stadt Jerusalem“ von den „Ungläubigen“, den muslimischen Mitmenschen zu befreien. Und Kaiser Karl der Große hat seine Minister auf die Bergpredigt eingeschworen. Und die Sachsen enthaupten lassen, falls sie sich nicht taufen ließen.

Auch bei der Krönung von Charles III. war zu hören: Das Vorbild des irdischen Königs ist Jesus Christus. Dazu gehören auch Sätze wie: „Ich bin nicht gekommen, um bedient zu werden … ich bin gekommen zu dienen.

Im Lateinischen heißt „Diener, Gehilfe“ „Minister“. Seine Aufgabe ist es, unserem Staat zu dienen.

 

Und was bitte hat das alles mit Christi Himmelfahrt zu tun? könnten Sie jetzt, liebe Gemeinde, zurecht fragen.

Diese Gedanken sind mir beim Lesen von Psalm 47 gekommen. Wir haben ihn vorhin gebetet. Sie sind mir nicht gekommen beim Lesen unseres heutigen Predigttextes, den Sie vorhin als Evangelium gehört haben. Zu diesem ist mir zunächst einmal – gar nichts eingefallen.

Lukas berichtet (als einziger) der vier Evangelisten von der Himmelfahrt Christi. Am Beginn seiner „Apostelgeschichte“ erzählt er diese noch einmal und fügt hinzu: „Und als sie (sc. die Jünger) ihm nachsahen, wie er gen Himmel fuhr, da standen bei ihnen zwei Männer mit weißen Gewändern. Die sagten: Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und seht gen Himmel?“

Etwas freier übersetzt könnte man sagen: Die beiden Männer in den weißen Gewändern sagen: „Was steht ihr da so dumm rum und glotzt blöd in den Himmel …“

Und die Einleitung ist mir eingefallen, um hier nicht so dumm rumzustehen.

Denn ein Pfarrer, dem nichts zu seinem Predigttext einfällt, der steht dumm rum. Und weil das arg peinlich ist, versucht er es mit klugen Gedanken zu überspielen – und kluge Gedanken haben wir alle in unserem Theologiestudium zuhauf bekommen.

Liebe Gemeinde,

vielleicht kennen sie das ja noch aus der Schule: Man soll einen Aufsatz zu einem „saublöden“ Thema schreiben, und es will einem partout nichts einfallen. So mancher Bleistift wurde da vor lauter „mir fällt nichts ein“ zerkaut.

Die Gefühle des „mir fällt nichts ein“ verführen zu Ablenkung, Im Zeitalter von Google und You tube ist es ja mühelos, sich abzulenken. Der Nachtteil davon ist: Solange ich mich ablenke, kann mir gar nichts einfallen.

Ein anderer Umgang mit „mir fällt nichts ein“ ist: Was ist denn anderen eingefallen? Schauen wir doch mal, welche Predigten zu Himmelfahrt sich im Internet finden. …

Ich bin auf der Suche nach einer Idee für meine Himmelfahrtspredigt auf eine Predigt von Abt Aloysius Althaus (Abtei Königsmünsterin Meschede) in gestoßen. Unter anderem sagt er:

„So gesehen könnte man das Fest Christi Himmelfahrt auch als Fest unserer Erde bezeichnen, als Fest des Glaubens, der die Erde lieben darf, weil diese Erde nun in Christus eine Mitte, einen Sinn und ihr großes Geheimnis gefunden hat. Das Fest des Himmels wird zum Fest der Erde, des Jenseits zum Fest des Diesseits, denn nun ist dieses unser Diesseits Raum Gottes geworden, da der ferne Gott durch Jesus und durch seinen Geist, ‚der in uns ausgegossen ist‘, zum nahen Gott und zum Gott unseres Herzens geworden ist.“

Neidgefühle steigen in mir auf. Anstatt mich zu freuen und dankbar zu sein, solch gute Gedanken zu finden, sagt eine gehässige Stimme in mir: „Und warum ist dir das nicht eingefallen?“ Und die gehässige Stimme rät: „Aber du kannst das doch predigen – musst ja niemanden sagen, dass es nicht auf deinen Mist gewachsen ist … !“

So ist das mit den Verführungen! Und Neid ist ein sehr großer Verführer. „Ich will das auch haben!“ sagt er. Aber den schmerzhaften Prozess, der zu wahrer Kreativität unbedingt dazu gehört, den will ich nicht haben.

Neid plädiert für schnelle, schmerzfreie Lösungen.

Das passt übrigens sehr gut zu einem bestimmten Verständnis von Christi Himmelfahrt: Wer aus dieser Erde „aussteigt“ und direkt „in den Himmel fährt“, dem bleiben die Schmerzen und Leiden des Sterbens erspart. Als 12jähriger war mein persönlicher Held Dietrich von Bern gewesen. Warum? Weil er am Ende seines heldenhaften Lebens auf seinem schwarzen Hengst Falke direkt in den Himmel geritten ist.

Und Reinhard May hat in seinem Lied „Über den Wolken“ gedichtet:

Über den Wolken
Muss die Freiheit wohl grenzenlos sein
Alle Ängste, alle Sorgen
Sagt man
Blieben darunter verborgen
Und dann
Würde was uns groß und wichtig erscheint
Plötzlich nichtig und klein

Dazu passen die Träume vom Fliegen-Können. Sie sind stets mit einem euphorischen Glücksgefühl verbunden. Endlich kann ich abheben, die „Niederungen“ dieser Erde unter mir lassen. Peter Pan repräsentiert diese Form des Glücks. Und „Pan“ heißt im Griechischen „alles“ . All-mächtig und all-wissend sein – das wär’s doch! Nicht länger müsste man sich in den Niederungen dieses Erden-Daseins plagen und quälen.

Und da finde ich den vorhin zitierten Gedanken von Abt Althaus hilfreich: Christi Himmelfahrt als Fest der Verbindung zu verstehen und zu feiern: Als Fest der guten und sicheren Verbindung zwischen oben und unten, zwischen Himmel und Erde, als Fest des Glaubens, der die Erde lieben darf.

Als Fest, an dem ich mich über jeden konstruktiven Gedanken freuen kann – auch wenn er nicht von mir ist. Weil es nämlich nicht um mich, sondern um die Wahrheit geht!

„Lehre mich Herr, an anderen Menschen unerwartete Talente zu sehen, sie zu fördern und verleihe mir die schöne Gabe, sie auch zu erwähnen.“ betet Theresa in ihrem schönen Gebet vom Älter-werden.

Dies aber setzt die Fähigkeit voraus, in Liebe verbunden zu sein mit allem, was mich umgibt. Der springende Punkt ist: In Liebe verbunden zu sein. Die Alternative zur Verbindung in Liebe ist die Verbindung in Macht. Diktatoren und Diktatorinnen – und sie gibt es überall, auch in kirchlichen Räumen – geht es nicht um Liebe. Ihnen geht es um Macht. Und damit um Kontrolle. Denn das Ausüben von Macht ist unweigerlich verbunden mit Kontrolle.

Jesus aber sagt und lehrt: „Die Wahrheit macht Euch frei!“

Die Wahrheit ist nicht kontrollierbar. Sie entzieht sich jeglicher Kontrolle.

Deshalb wird von denen, die sich und ihre eigenen Gedanken absolut setzen, so gehasst.

Die Wahrheit lässt sich auch nicht „machen“. Die Wahrheit leuchtet. Sie leuchtet ein. Sie fällt ins Denken hinein – unkontrollierbar. Die Wahrheit lässt sich auch nicht zensieren. „Und sie dreht sich doch“, soll Galileo Galilei gesagt haben, als er von der katholischen Kirche gezwungen wurde, seine Entdeckungen zu widerrufen.

Um dies alles zu ertragen, bedarf es einer starken Liebe zur Wahrheit. Nur aus ihr heraus ist der Schmerz, den die Wahrheit zufügt, erträglich.

Dazu eine chassidische Geschichte: Der Baalschem – ein jüdischer Lehrer – sagte: „Was bedeutet das, was die Leute sagen: ‚Die Wahrheit geht über die ganze Welt?‘ es bedeutet, dass sie von Ort zu Ort verstoßen wird und weiterwandern muss.“ (S. 158)

Wer ein Jünger dieses Jesus aus Nazareth sein will, wer sich der Wahrheit (auch seines eigenen Lebens) verpflichtet fühlt, der glotzt nicht blöd in den Himmel. Dazu hat er keine Zeit. Er wandert weiter auf seinem ganz eigenen Lebensweg.

Er lebt, was Angelus Silesius gedichtet hat:

Halt an, wo läufst du hin? Der Himmel ist in dir. Suchst du ihn anderswo, du fehlst ihn für und für.

 

Der Himmel ist in jedem von uns schon gegenwärtig. Ich muss mich ihm nur zuwenden. So wie jeder von uns seine eigene Wahrheit in sich trägt. Ich muss mich ihr nur hinwenden. Das bedeutet aber eine Wendung um 180 Grad. Statt vor meiner Wahrheit davon zu laufen – oder davon zu fliegen – bleibe ich stehen und drehe mich mich um. Und lasse es geschehen, überlasse mich meiner Lebens-Wahrheit. In diesem Stehen-Bleiben, in dieser Hinwendung wird die Himmelfahrt Jesu zu einem Bild, bei dem Diesseits und Jenseits, oben und unten, hier und dort, horizontal und vertikal ineinander verschränkt sind. Das geometrische Abbild dieses Geschehens ist das Kreuz. Das Kreuz das zugleich die Auferstehung ausdrückt. Und die Auferstehung, die zugleich das Kreuz bezeichnet.

 

Möge Gottes Liebe, die in und durch Jesus Christus auf diese Erde gekommen ist, für uns alltäglich erlebbar sein, möge sie in uns leuchten wie die Sonne, die unser benebeltes Denken befreit für ein Leben in und mit und aus Gott heraus,

Predigt an Christi Himmelfahrt 2023 über Lukas 24, 50-53 Read More »

Predigt über 1. Petrus 5, 1-4 am Hirtensonntag 2023 (misericordias domini)

Liebe Gemeinde,

die Barmherzigkeit Gottes steht im Mittelpunkt dieses Sonntags. Ich will ewig singen von der Barmherzigkeit Gottes heißt es in Psalm 89, 1.

Nun – ich will predigen von der Barmherzigkeit Gottes. „Rachamim“ heißt Barmherzigkeit im Hebräischen. Es ist abgeleitet von „Rächäm“ – „Mutterleib. Das Verb dazu heißt „racham“ – sich erbarmen. Es geht um die „weichen Gefühle“, um die Fähigkeit, sich „einzufühlen“ (Empathie) – sich auch dann noch in den Anderen einzufühlen, wenn ich Recht habe. Es geht um die Kraft des Perspektivenwechsels: Immer wieder zu versuchen, die Welt aus der Perspektive des Anderen zu sehen. Die Früchte eines Lebens in und aus Barmherzigkeit sind Gelassenheit, innere und äußere Ruhe und Kreativität.

In unserem Alltag tritt leicht an die Stelle der Einfühlung der Vorwurf. Gerade im Umgang mit Schwächeren, mit Kindern oder Älteren wird gerne der erhobene Zeigefinger ausgepackt. Und so geht auch unserer heutiger Predigttext mit einem erhobenen Zeigefinger an: „Ich ermahne“ euch, heißt es da – griechisch: „parakaleo“. Wörtlich heißt das jedoch „ich rufe herbei…“. Im Johannesevangelium ist der „Heilige Geist“ der Paraklet – er ist der „herbeigerufene Tröster“, der die Jünger über die Abwesenheit ihres Freundes und Meisters hinweg tröstet. Es geht also nicht um eine moralische Ermahnung mit erhobenem Zeigefinger. Es geht vielmehr um Trost, um Stärkung und Ermunterung im Sinne eines „Ihr kriegt das schon hin! Ich glaube an Euch!“

Und was soll man hinkriegen? Ich lese aus dem ersten Petrusbrief 5, 1-4.

„Die Ältesten unter euch ermahne ich, der Mitälteste und Zeuge der Leiden Christi, der ich auch teilhabe an der Herrlichkeit, die offenbart werden soll: Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist, und achtet auf sie, nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt, nicht um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund, nicht als solche, die über die Gemeinden herrschen, sondern als Vorbilder der Herde. So werdet ihr, wenn erscheinen wird der Erzhirte, die unverwelkliche Krone der Herrlichkeit empfangen. Desgleichen ihr Jüngeren, ordnet Euch den Ältesten unter.“

Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Briefes ist das Christentum auf dem Weg, sich aus einer jüdischen Sekte heraus zu verwandeln. Eine eigene Religion zu werden. Es hat sich ausgebreitet, viele christliche Gemeinden sind entstanden. Und wenn Menschen in Gruppen zusammen kommen, bedarf es einer Ordnung. Unser Text ist also auch ein Zeugnis darüber, wie versucht wurde, eine Ordnung in die noch junge Gruppe der Christenmenschen zu bringen.

Petrus bzw. der Verfasser des ersten Petrusbriefes, bezieht seine eigene Autorität als „Mitältester“ daraus, selbst Zeuge der Leiden Christi gewesen zu sein – verbunden mit der „Teilhabe“ an seinem „Glanz“ (doxa), was Luther als Herrlichkeit übersetzt. Aus dieser, seiner Autorität heraus, wird jetzt gesagt, was die Identität und Aufgabe eines Ältesten, eines „Leiters“ einer Gemeinde ist: Seine Identität ist „Hirte zu sein“. Seine Aufgabe ist die „Herde Gottes“ zu „weiden“ im Sinne von „behüten“. Und zwar so, dass die Erfüllung dieser Aufgabe nicht aus einem äußeren Zwang heraus geschieht – sondern „freiwillig“ – auch nicht aus „Gewinnsucht“ sondern von „Herzensgrund“ wie Luther so schön übersetzt. Anders ausgedrückt: Das Leiten einer Gemeinde sollte eine „Herzensangelegenheit“ sein. Und schließlich sollte der „Älteste“ nicht danach streben, über seine Gemeinde zu „herrschen“ – sondern er sollte selbst zum Vorbild für seine ihm anvertrauten „Schafe“, seine Gemeindeglieder werden.

Auch wenn das Bild des Hirten, der seine Schafe weidet, antiquiert ist: Die dahinter stehende Idee ist doch sehr bemerkenswert. Der gute Hirte ist ein „Kümmerer“ – und dieses Sich-Kümmern ist ihm eine Herzensangelegenheit. Abgegrenzt davon wird die „schändliche Gewinnsucht“.

Der „gute Hirte“ übt seine Aufgabe „bereitwillig“ aus – er fragt nicht danach: „Was bringt mir das?“ Diese Frage stellt sich dann nicht, wenn ich mit dem, was ich tue, in leidenschaftlich-liebevoller Verbindung stehe. Wenn es mir eben eine „Herzensangelegenheit“ ist. Eltern, die ihr Kind lieben, werden sich nicht fragen: Was bringt es mir, wenn ich für das Wohlergehen meines Kindes sorge? Menschen, die ihr Haustier, ihren Hund oder ihre Katze lieben, werden die „Was bringt mir das“-Frage ebenso wenig stellen. Und ein guter Hirte, ein guter Leiter einer Gemeinde, denkt bei seinem Tun nicht an den (narzisstischen) Gewinn, sondern an seine Gemeinde, an das Wohl der ihm anvertrauten Menschen. Dies ist für mich um übrigen auch das entscheidende Kriterium für einen guten Politiker.

Die Ausübung dieses Hirtenamtes ist für Petrus kein „herrschen“ im Sinne eines den Anderen zu etwas „Zwingen“ – die Ausübung des Hirtenamtes geschieht, indem der Hirte zum „Vorbild der Herde“ wird. Das griechische Wort, das hier steht, heißt: „typos“. Es gehört eigentlich in den Bereich der Bildhauerei: Ein Stein wird so lange „geschlagen“ (typto) bis er eine bestimmte Form erhalten hat oder bis ihm die gewünschte Form eingeprägt worden ist. So bedeutet typos auch Prägung. Ein Mensch, der eine Gemeinde leiten möchte, sollte also „prägend“ sein: Er soll über eine Ausstrahlung, über ein Charisma verfügen, das die Menschen anspricht, an dem zu orientieren sie Lust haben. Ein guter Hirte prägt sich seiner Gemeinde ein: Indem er vormacht, wie „Führung“, wie „Leitung einer Gemeinde“ geht: nicht als Herrscher sondern als einer, der die Anliegen seiner Gemeinde wahrnimmt, versteht und ernst nimmt. Dabei heißt verstehen durch aus nicht alles billigen, bei allem mitspielen, zu allem „Ja und Amen“ sagen. Ein guter Hirte stellt sich seinen Schafen auch mal in den Weg, wenn er weiß, dass dieser Weg in einen gefährlichen Abgrund führt.

Der Lohn für das Hirte-Sein, so heißt es weiter, ist der „unverwelkliche Siegeskranz der Herrlichkeit.“ Dieses Bild eignet sich natürlich auch für die Befriedigung eigener unerlöster und ungelöster narzisstischer Bedürfnisse. Der unverwelkliche Siegeskranz – das ist ja mindestens eine olympische Goldmedaille. Und damit geht es um Leistung, um Konkurrenz, um siegen und verlieren. So ist es verführerisch, sein Amt als Pfarrer vor allem dafür zu verwenden, sich in der Gemeinde zu „verewigen“ – wofür sich z.B. Prestige trächtige (Bau-) Pprojekte eignen. Je ausgeprägter das Bedürfnis nach „unverwelklich“ ist – desto schwieriger wird es dann, das eigene Altwerden, die eigene Pensionierung und – damit unweigerlich verbunden – den eigenen Nachfolger zu ertragen. Das ist im übrigen für mich die Nagelprobe eines wirklich großen Führers. Ob er über die Kapazität verfügt, einen kompetenten und potenten Nachfolger nicht nur zu „ertragen“, sondern auch mithilft, ihn aufzubauen. Und seine größte Hilfe ist, den eigenen Platz für den Neuen, den Anderen zu räumen.

Dahinter aber steht das Ertragen von Vergänglichkeit. Es gibt in der Wirklichkeit dieser Welt keine unverwelklichen Blumen. Unverwelklich heißt im Griechischen „amarantos“. „Amaranthen“, das sind jene legendären Blumen, die nicht verwelken. Sie gibt es in der Mythologie – aber nicht in der Realität. In der Wirklichkeit gibt es Amaranthen – es sind Fuchsschwanzgewächse – deren Samen man in leckeren Gerichten zubereiten kann. Aber sie sind nicht ewig.

Unsere Wirklichkeit unterliegt dem Gesetz von Werden und Vergehen.

Und hierin sehe ich die eigentliche Lebensaufgabe von uns Menschen: Lernen zu ertragen, dass alles der Vergänglichkeit unterliegt und gerade so sich an der Einmaligkeit und Schönheit des Lebens zu freuen..

Ich verbinde diese Aufgabe mit der Aufforderung, die am Ende unseres Textes steht und bis vor kurzem noch zu unserem Predigttext gehörte: „Alle aber – das heißt Hirten wie ihre Herde – alle umkleidet Euch mit Demut: und zwar im Umgang miteinander.“

Die Demut beginnt damit anzuerkennen: Ich bin nicht allmächtig. Ich kann mir Mühe geben, ich kann mein Amt gewissenhaft ausüben – aber ich bin nicht allmächtig. Ich kann es nicht allen recht machen. Und: Ich bin nicht allwissend. Ich kann mich täuschen. Ich kann auch Fehler machen. Oft ist es im Nachhinein viel leichter, etwas als Fehler zu erkennen als dann, wenn ich in einer Situation drin stecke. Im Nachhinein war es falsch und naiv, sich energiewirtschaftlich derart von Russland abhängig zu machen. Irgend wer hat einmal gesagt: Der Blick auf unser Leben ist wie beim Rudern: Das, was auf einem zukommt, ist im Rücken. Und im Rücken hat man keine Augen. Erst im Nachhinein überblickt man die Biegungen und Windungen des eigenen Lebensflusses.

 

Liebe Gemeinde,

 

vielleicht enttäuscht auch meine Predigt Ihre Erwartungen an mich als Pfarrer und Prediger. Sollte nicht gerade am Ende meiner Predigt betont werden, dass es ein ewiges Leben gibt, dass wir an den glauben, der den Tod endgültig besiegt hat? Dass wir nicht nur in seinen Tod hinein – sondern genauso in seine Auferstehung hinein getauft sind?

Ja – das sind wir. Nur verstehe ich diese Auferstehung nicht konkretistisch, so als ginge das Leben nach einer kurzen Unterbrechung, genannt Tod, ewig weiter. Für mich ist der „unverwelkliche Siegeskranz“ die Hingabe an das eigene Leben. Die Hingabe daran, wie es gerade ist. Die Hingabe daran, was ich gerade zu erleben habe.

„Die Liebe sagt: Es ist, was es ist“ heißt es in einem Gedicht von E. Fried.

Hingabe an das „Es ist“ heißt: Das Dagegen-Sein aufzugeben. Loszulassen. Zu lösen.

Der vermeintliche Vorteil des Dagegen-Seins ist, etwas in der Hand zu haben. Trotzig Kinder ballen ihr Hände zu Fäusten, stampfen mit ihren Füßen auf den Boden. Ich will das nicht, schreien sie. Große trotzige Kinder gründen dann Protest-Parteien, die vom Protest leben. Wir „Protestanten“ könnten uns dazu zählen. Müssen wir aber nicht. Pro-testare heißt zunächst einmal: Etwas bezeugen, für etwas Zeugnis einlegen.

Jesus sagt: „Wer sein Leben, (seine Seele) retten will, der wird es verlieren – wer es verliert wird es erhalten.“ (Lukas 19, 33)

Das eigene Leben zu erhalten, das eigene Leben er-leben zu können und zu dürfen: Das hat für mich ganz viel mit Auferstehung und Osterfreude zu tun.

Gott lädt uns all-täglich ein. „Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde“ heißt es in Psalm 23, dem Hirten-Psalm.

Wir aber sagen: Was soll ich denn mitbringen? Das kann ich doch nicht annehmen!

Bring mir dein Leben mit, antwortet Gott.

Bring dich selbst mit – gerade so, wie du bist.

Du musst mir auch nichts vorspielen.

Ich kenne dich doch.

Ich habe dich schon erkannt, da warst du noch im Leib deiner Mutter.

Aber – sagen wir – : Dann stehe ich ja mit leeren Händen da.

Genau, antwortet Gott. Nur so hast du deine Hände frei, etwas Neues zu empfangen, zu begreifen. Dann bist du wirklich mit Demut bekleidet.

Und dann kann ich das tun, was ich am liebsten tue: Dir meine Gnade, dir meine Barmherzigkeit schenken. AMEN.

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Predigt zum Gründonnerstag 2023 über Lukas 22, 39-46: „eingeschlafen…“

Zweifle nicht an dem, der dir sagt, er hat Angst.

Aber habe Angst vor dem, der dir sagt, er kennt keinen Zweifel. (E. Fried)

„… schlafend vor Kummer … „

39 Und er ging hinaus und begab sich auf den Ölberg, wie es seine Gewohnheit war, und die Jünger folgten ihm.
40 Als er dort angelangt war, sagte er zu ihnen: Betet, dass ihr nicht in Versuchung kommt!
41 Und er selbst entfernte sich etwa einen Steinwurf weit von ihnen, kniete nieder und betete:
43 Vater, wenn du willst, lass diesen Kelch an mir vorübergehen. Doch nicht mein Wille, sondern der deine geschehe. Da erschien ihm ein Engel vom Himmel und stärkte ihn.
44 Und er geriet in Todesangst und betete inständiger, und sein Schweiss tropfte wie Blut zur Erde.
45 Und er erhob sich vom Gebet, ging zu den Jüngern und sah, dass sie vor lauter Kummer eingeschlafen waren.
46 Und er sagte zu ihnen: Was schlaft ihr? Steht auf und betet, damit ihr nicht in Versuchung kommt!
(Züricher Bibel)

Ich vermute, das kennen Viele von uns: Manchmal will ich einfach nur meine Ruhe haben. Für mich sein. Das richtet sich gar nicht gegen die Anderen. Es ist ein inneres Bedürfnis von mir. Hinzu kommt: Je mehr ich mich in Beziehungen verausgabe, das Gefühl habe, die Anderen füttern zu müssen, desto leerer werde ich. Ich kann nicht mehr – fühle mich fertig, bin „ausgebrannt“. „Burn out“ ist das neudeutsche Wort dazu.

So ein Bedürfnis scheint Jesus gehabt zu haben, als er zu seinen Jüngern sagte:

„Betet, dass Ihr nicht in Versuchung kommt!“ Er selbst nämlich blieb nicht bei seinen Jüngern, sondern zog sich „ungefähr einen Steinwurf weit von ihnen zurück“.

Wir singen: „Bleibet hier und wachet mit mir…“ (drei Mal) (700)

Betet, dass Ihr nicht in Versuchung kommt!“

Jeder von uns hat seine ganz eigenen Versuchungen.

Versuchungen haben mit Suche tun. Und mit Lust.

Eine Versuchung entsteht auf der Suche danach, Lust zu erleben.

„Ich hätte jetzt so eine Lust auf eine Praline. Auf ein schönes Glas Rotwein. Auf ein Steak. Auf Sex.“

Ich kenne eine Postkarte, da stehen zwei Labrador-Hunde (sie sind bekannt dafür, außerordentlich verfressen zu sein) vor einem Tisch mit einer leckeren Schokoladentorte. Darunter steht der Satz: „Versuchungen sollte man nachgeben; wer weiß, wann sie wiederkommen!“

Ich würde gerne in dieser Heiterkeit leben. Den Gründonnerstag erleben.

Leider ist diese Heiterkeit nicht angemessen für das Geschehen des Gründonnerstages. Hier geht es um Leben und Tod. Jesus schwitzte „Blutstropfen“. Er erlitt Todesangst.

Ich spüre: In mir wehrt sich etwas gegen die Härte dieses Geschehens. Es ist dieselbe Abwehr, die ich gegenüber Karfreitag verspüre. Ich will nicht, dass jemand für mich stirbt. Ich will auch nicht, dass jemand wegen mir Todesangst erleidet. Ich will das alles nicht,

Und; Ich verstehe das alles nicht.

Heiterkeit, Witze dienen der Abwehr von schwer erträglichen Gefühlen.

Auch seine Jünger litten. Sie merkten diffus, irgendetwas stimmt doch nicht.

Diffuse Ängste sind am schwersten zu ertragen.

Sie sind unerträglich, wenn ihnen die Sprache fehlt.

Wenn sie namenlos bleiben.

Namenlose Angst ist wohl das unerträglichste Gefühl, das wir kennen.

Die Jünger konnten Jesus nicht in seiner namenlosen Angst begleiten. Sie konnten seinen Wunsch, „bleibet hier und wachet mit mir!“ nicht erfüllen. Sie schliefen ein.

Wir singen: Bleibet hier … (700)

Jesu Freunde schlafen.

Sie schlafen nicht den Schlaf der Gerechten. Sie schlafen den Schlaf der Verzweifelten. Es gibt eine bleierne Müdigkeit. Ich kenne diese Müdigkeit aus unerträglichen Therapiestunden. Ich verstehe dieses Müdigkeit als Versuch der Seele, sich selbst zu betäuben. Aus dem Leben tropft der Saft des Lebens heraus: „Es wurde aber sein Schweiß wie große Blutstropfen, die auf die Erde herabfielen.“ Was zurück bleibt, ist eine leere, unlebendige Hülle.

„Blut und Wasser schwitzen“ – hier, im Garten Gethsemane ist der Ursprung dieser Redewendung. Es ist ein Synonym für “ namenlose Vernichtungsangst erleben.“

Und weil Vernichtungsangst nicht aushaltbar ist, versuchen wir irgendwie, der Situation zu entkommen. Und wenn wir nicht fliehen können, so können wir uns wenigstens mental entziehen.

Unser Körper fährt sein vegetatives System herunter. Wir schlafen ein.

Bevor Jesus Blut und Wasser schwitzte, hatte er noch gebetet. „Vater, wenn du willst, so nimm diesen Kelch von mir weg- doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe.“ Dies ist das zweite Zitat aus Jesu berühmten Gebet, das wir alle als „Vater unser“ kennen. Das erste Zitat steckt in dem Satz: „Betet, dass ihr nicht in Versuchung kommt!“ „Und führe uns nicht in Versuchung“ heißt es da.

„Dein Wille geschehe“ … hätte Jesus das fühlen können, hätte er wohl nicht Blut und Wasser schwitzen müssen. Wir erleben hier einen Jesus der nicht in Beziehung mit seinem Gott, mit seinem Vater ist. Der Kontakt ist abgebrochen.

Nicht Gott ist tot – die Beziehung zwischen Sohn und Vater ist tot.

Diese Beziehungslosigkeit ist die Quelle der unerträglichen, der namenlosen Angst, die Jesus in Gethsemane erleidet.

Wir singen: Bleibet hier und wachet mit mir

„Und er stand auf vom Gebet, kam zu den Jüngern und fand sie eingeschlafen vor Traurigkeit. Und er sprach zu ihnen: Steht auf und betet, damit ihr nicht in Versuchung kommt!“

Damit endet die Szene am Ölberg nach Lukas.

Wenn es im Hebräerbrief über Jesus heißt: „Der hat in den Tagen seines Fleisches sowohl Bitten als auch Flehen mit starkem Geschrei und Tränen dem dargebracht, der ihn aus dem Tod retten konnte…“ so ist das ein passender Kommentar genau zu unserem Text.

Die endgültige Rettung, die am Ende gültige Rettung aus dem Tod ist dem christlichen Glauben zufolge die Auferstehung Jesu. Die vorläufige Auferstehung ist Jesu Bitte: „Steht auf!“ Er hätte auch sagen können: „Wacht auf!“

„Macht die Augen auf!“

„Schaut Euch die Wirklichkeit an, in der Ihr seid!“

„Mag schon sein, dass sie nicht Euren Wünschen entspricht.

Mag schon sein, dass sie unangenehm, dass sie schmerzhaft ist.

Nur: Wenn ihr vor der Wirklichkeit flieht, lauft Ihr wie betäubt durch Euer Leben. Seid chronisch müde, tragt gefühlt Bleigewichte auf Eurem Körper, die Euch nach unten ziehen. Gott aber hat Euch den aufrechten Gang gegeben.

Gott hat Euch die Kraft gegeben, aufrichtig mit Euch und Eurem Leben umzugehen. Gott will keine Kriecher. Er will mutige Mitstreiter, die es wagen, auf sich gestellt aus Gottes Liebe heraus zu leben.

Die Losung von uns, seinen Jüngerinnen und Jüngern lautet:

„Ein neues Gebot gebe ich Euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander lieb habt. Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.“ AMEN

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Ein Macht-Gott ist ein vergifteter Gott: Predigt zu 4. Mose 21, 4-9 (Sonntag Reminiscere 2023)

Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, liebe Gemeinde,

offenbar tun wir Menschen uns schwer mit dem Allein-Sein. Wenn man den Geschichten der Bibel glauben kann, so sind die schlimmsten „Verfehlungen“ in Situationen des Allein-Seins, genauer des Allein-gelassen-worden-Seins entstanden. Schon im Paradies findet die erfolgreiche Verführung durch die Schlange zu einer Zeit statt, als Adam und Eva sich selbst überlassen waren – also in der Abwesenheit Gottes. Kain ermordet seinen Bruder Abel ebenfalls gleichsam „hinter dem Rücken Gottes“. Und das goldene Kalb entsteht, als das Volk das Warten auf Moses nicht mehr aushält. Jesus wird vom Satan verführt am Ende seiner 40tägigen Fastenzeit in der Wüste – auch da ist er ganz allein.

 

Unser heutiger Predigttext ist auch so eine Wüstengeschichte. Sie steht im 4. Buch Mose, das in der jüdischen Tradition „in der Wüste“ heißt. Es handelt von dem langen Weg des Volkes Israel durch die Wüste. Es kommt aus Ägypten von den „Fleischtöpfen“ und der „Sklaverei“ und sucht den Weg in das gelobte Land, wo Milch und Honig fließen. Ihr Führer ist – so wollte es Gott – der Mann Moses. Er stirbt – das „Gelobte Land“ vor Augen -, ohne es je betreten zu haben. Große Führer können und dürfen offenbar sich nicht nieder lassen, sich zur Ruhe begeben: „Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege“ (Matth. 8,20).

Aber auch vor ihrem eigenen Volk haben große Führer selten Ruhe. Das Volk Israel jedenfalls benimmt sich wie ein quengelndes, unzufriedenes Kind, dem man es einfach nicht recht machen kann.

Wären wir doch bloß in Ägypten geblieben. Da hatten wir jedenfalls genug zum Essen und Trinken. Warum musstest du uns hierher führen?“ murren sie immer wieder. Und murren sie besonders, wenn sie sich allein und hilflos fühlen.

Das hat man dann davon: Man setzt sein Leben dafür ein, die eigenen Leute aus der Sklaverei heraus zu führen, und was ist der Dank? Jammern, klagen, murren. Eben noch hatten sie mit Gottes Hilfe gegen die Kanaaniter gesiegt – aber statt Dank und Freude „ward das Volk verdrossen“ – wie Luther so schön übersetzt. „und redete wider Gott und wider Mose: Warum hast du uns aus Ägypten heraus geführt, dass wir sterben in der Wüste? Denn es ist kein Wasser und Brot hier und das Brotzeug hier widert unsere Seele an.

Da sandte ER gegen das Volk die Vipern, die Brandnattern aus, die bissen das Volk und viel Volk von Israel starb. Da kamen sie zu Mose, sprachen: wir haben gesündigt, dass wir gegen IHN und gegen dich geredet haben; setze dich bei IHM ein, dass er die Viper von uns nehme.

Mose setzte sich ein für das Volk. ER sprach zu Moses: Mache dir eine Brandnatter und tue sie an eine Bannerstange. So sei es: jeder Gebissene sehe sie an und er wird leben bleiben. Mose machte die Viper von Kupfer, er tat sie an eine Bannerstange. Es geschah: hatte die Viper einen Mann gebissen, blickte er auf die Viper von Kupfer und er blieb am Leben.“ (4. Mose 21,4b-9)

Folgen wir dem vertrauten Spuren, so wie wir das alle gelernt haben, dann ist die Geschichte schnell erklärt: Das Volk ist ungehorsam, undankbar, redet gegen Moses und Gott. Schlimmer noch: es findet die göttliche Wüstennahrung, das Manna „widerlich“. So viel Eigensinn scheint grausam bestraft werden zu müssen: wer „Widerworte gibt“, wem das Essen nicht schmeckt, der wird mit dem Tod bestraft. Erst als das Volk bekennt: „Wir haben gesündigt, wir waren böse“, versucht Moses sich bei Gott für das Volk einzusetzen. Daraufhin gewährt Gott einen Ausweg: wer nämlich die kupferne Schlange ansieht, für den ist der Schlangenbiss nicht tödlich.

Ich weiß nicht, wer von Ihnen den Film „Das weiße Band“ angesehen hat – ein Film, der die grausame Erziehungsmethode eines evangelischen Pastors in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts schildert. Mühelos könnte sich dieser Pastor auf unsere Geschichte berufen. Gott ist zum Repräsentanten eines kalten Macht-Vaters geworden, dem Widerworte zu geben vernichtend bestraft wird. Mit Prügeln, mit Einsperren, mit tagelangem Schweigen. Moses wäre in diesem System die Mutter und Ehefrau, die sich der väterlichen Tyrannei unterworfen hat. Ab und zu – je nach Laune des Diktators, kann sie ein gutes Wort bei ihm für die Kinder einlegen. Natürlich nur, wenn die Kinder vorher ihre „Verfehlung“ zugegeben und um Entschuldigung gebeten haben. Alles, was sie dabei erreicht, ist eine Begrenzung der Todesstrafe: wer sich selbst demütigt, „hinauf“ zu dem Bild blickt, wer sich vor dem Diktator in den Staub wirft und seine Hoheit bedingungslos anerkennt, der kommt mit dem Leben davon. Ich vermute, unter uns sind noch Menschen, die Nachwirkungen dieser Erziehungsmethode am eigenen Leibe erlebt haben. Im 5. Buch Mose heißt es übrigens wörtlich: „So erkennst du in deinem Herzen, dass der Herr, dein Gott, dich erzogen hat, wie ein Mann seinen Sohn erzieht.“ Erziehung über Demütigung und Prügel, mit dem Ziel, den anderen in seinem Eigenwillen zu brechen: man nennt diese Erziehungsmethode „schwarze Pädagogik“. Leider gehört sie nur bedingt der Vergangenheit an.

Aber ist das alles, was zu unserem Text zu sagen ist?

Mich befriedigt diese Erklärung, in der Gott zu einem beleidigten Vater wird, der in seinem Zorn seine quengelnden Kinder vernichtet, nicht. Was muss das für ein in sich selbst verliebter Gott/Vater sein, der keinen Widerspruch duldet? Der unfähig ist, seinen eigenen Herrschaftsstandpunkt zu reflektieren, der gar nicht auf die Idee kommt, so etwas wie Mitgefühl mit seinen Kindern, mit seinem Volk zu entwickeln? Ich glaube nicht an einen Diktator-Gott, dessen Macht darin besteht, den anderen Angst zu machen, ihn einzuschüchtern und zu vernichten. Nebenbei: Natürlich schürt eine solche Erziehungsmethode vor allem eines: Hass, Verachtung und den Wunsch nach Vergeltung. Ist aber die Angst vor dem Macht-Vater-Gott zu groß, so wird der Hass umgelenkt. Statt den Diktator abzusetzen, richtet sich der Hass auf alles, was nicht mit ihm konform ist, was ein Eigen-Leben führt. Die Autonomie des Schwächeren ist zu zerstören. Das gilt – wie wir augenblicklich erleben – auch für Staaten wie Taiwan, die Ukraine, Tibet usw.

Liebe Gemeinde,

so ein Macht-Gott ist nicht mein Gott.

Ich bin auf der Suche nach einem Gott, der mich, der mein Eigenleben und der auch und gerade meine Schattenseiten aushält. Der mir beisteht durch die Wüstenwanderungen meines Lebens, der mich hält, wenn ich zu fallen drohe, der mich begleitet und ermuntert, anstatt mich auch noch zu schlagen, wenn es mir ohnehin schon schlecht genug geht.

Ich bin auf der Suche nach einem Gott, der mich in die Freiheit meines einmaligen eigenen Lebens führt.

Dies ist der Weg des Loslassens, der guten Trennung von dem Macht-Gott. Er-Lösung hat mit Los-Lassen, los-lösen zu tun. Und genau diesen Weg geht das Volk Israel: Es ist der Weg, der aus der Abhängigkeit der „Fleischtöpfe Ägyptens“ („Hotel Mama“) „durch die Wüste“ in das eigene Land führt. So gesehen ist das Zetern und Quengeln des Volkes Israel nichts anderes als das Durchleben der Gefühle einer echten Pubertät: jeder Jugendliche ist mit den Problemen konfrontiert, groß und selbständig sein zu wollen und gleichzeitig klein und abhängig bleiben zu wollen. Letzteres wird natürlich gerne durch zur Schau getragene „Coolness“ überdeckt. Und – seien wir mal ehrlich: das Elternhaus als „kostenloses Vier-Stern-Hotel“ – wäre doch genial, oder?

Das Problem ist: erwachsen und selbstständig sein zu wollen. Es schon zu können.

Das Problem ist: sich den Gefühlen des erwachsen und selbstständig Werdens nicht auszusetzen. Lernen ist unangenehm und macht wenig Spaß. Gefühle des Nicht-Könnens und Nicht-Wissens sind zu ertragen. Unser Schulsystem verführt dazu, so zu tun, als wäre man schon erwachsen. Unser Schulsystem, besonders am Gymnasium, steht in der Gefahr, riesige Köpfe heranzuziehen, die nicht lernen, auf beiden Beinen zu stehen. Riesige Köpfe, die die Verbindung zu ihren Körpern verloren haben. Ich habe gehört, dass an der UNI München vor dem Raum, in dem die Immatrikulation stattfindet, ein großes Schild mit der Aufschrift steht: „Hier müssen Papa und Mama leider draußen bleiben!“

Was die Jugendlichen, was Ihr braucht, das sind Erzieher, die Eure körperlich-seelische Entwicklung, Euer ganzheitliches Wachstum freundlich begleiten und unterstützen. Was wir alle brauchen, ist ein Gott, dessen Anliegen unsere Entwicklung, unser seelisch-mentales Wachstum ist – und nicht unsere Unterwerfung unter ihm! Wir brauchen einen entwicklungsfreundlichen Gott. Die Geschichte der christlichen Kirche aber lehrt, dass sie sich mit Weiterentwicklung nicht gerade leicht tut. Klar: Entwicklung ist gefährlich: Man weiß ja nicht in welche Richtung die Entwicklung geht. Wer Kinder hat, weiß, was ich meine!

Zurück zu unserem Text. Ich lese ihn als Geschichte eines giftig gewordenen Gottes. Er schickt die Giftschlagen – nicht der barmherzige! Und wie ist Gott giftig geworden?

Es sind wir selbst, die Gott vergiften, nämlich immer dann, wenn wir die Wirklichkeit mit unseren verzerrten Annahmen über die Wirklichkeit verwechseln. Anders ausgedrückt: Das Bild des vernichtenden, strafenden Gottes ist eine Projektion unserer eigenen Vernichtungswünsche, unseres eigenen Hasses auf die Wirklichkeit. . In dieser Projektion wird die göttliche „Nahrung“, das Manna, widerlich und ekelhaft. Unser Hass aber quillt aus Gefühlen der Einsamkeit, des Sich-allein- und Im-Stich-gelassen-Fühlens. In diesem Hass vergessen wir die Güte Gottes und verwandeln ihn in ein uns vernichtendes gewalttätiges Monster. Indem wir lernen, Gottes Abwesenheit in Liebe zu ertragen, wird er quasi zurück verwandelt. Der Motor dieser Rückverwandlung ist unser Vertrauen, unsere Liebe zu einem barmherzigen Gott. Ein Beispiel für diese Wandlung des Hasses in Vertrauen finden wir in Psalm 22: Aus dem verzweifelten „mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ (Vers 2) wird ein „Ich will deinen Namen predigen meinen Brüdern…“(Vers 23).

Das Banner der ehernen Schlange ist natürlich eine Vorwegnahme des Kreuzes: Beide, das Banner wie das Kreuz können das Gebissen-Werden von den Giftschlagen nicht ungeschehen machen – aber beide stehen für den Scheitelpunkt, den Wendepunkt der Abwesenheit Gottes! Die Wendung hin zur Auferstehung der Liebe, des Lebens. Und in dieser Wende müssen wir den Anderen nicht mehr mit unserem Hass kreuzigen, stattdessen lernen wir unser eigenes Kreuz zu tragen … und so stark für unser eigenes Leben zu werden. Ein starker Rücken kennt durchaus Schmerzen, aber ein starker Rücken hat auch gelernt, sein eigenes Lebenskreuz, sein eigenes Lebensschicksal zu sich zu nehmen, zu tragen.

Dass uns Gott jeden Tag aufs Neue unseren Rücken stärke, dass wir mit Rückgrat und erhobenen Hauptes durch unser Leben gehen, dass wir aufhören, anderen die Schuld an unserem Leid zu geben und gerade so Vorbilder der Liebe Gottes sind und werden: Darum bitten wir den allmächtigen und barmherzigen Gott, durch Jesus Christus seinen Sohn, unseren Herrn, AMEN.

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Predigt über das „Hohe Lied der Liebe“ (1. Korinther 13)

Predigt über 1. Korinther 13, 1-13 am Sonntag Estomihi (19.02.2023)

Liebe Gemeinde,

kann man in Zeiten des Krieges, der mit Grausamkeiten nicht spart, kann man in diesen Zeiten über die Liebe predigen? Über jene Liebe, die “ die alles erträgt, alles glaubt, alles hofft, alles duldet?“

Ist solcher Art zu predigen nicht ein (weiterer) Verrat an den Opfern – an den Unschuldigen? Es gibt doch eindeutig die Invasoren, die Täter. Die, die nicht nur bereit zu Gewalt sind, sondern diese auch ausüben!

Ist es nicht pervers, die Liebe auch auf die Täter anzuwenden?

„Liebt eure Feinde und die die euch verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ (Mt. 5, 44f.)

Liebe Gemeinde, ob man das kann, weiß ich nicht.

Jetzt, im hier und jetzt, ist die Frage, ob ich das kann.

Ob ich dazu bereit bin. Und ich spüre sofort: Es liegt mir nicht nahe.

Näher läge mir, die Notwendigkeit von Verteidigung zu predigen.

Im Sinne von Luthers Zwei-Reiche-Lehre: Im Reich der Welt gibt es Polizei, gibt es Soldaten, gibt es Verbrechensbekämpfung, gibt es Krieg.

Im Reich Gottes gibt es das alles nicht.

Aber was soll ich mir Gedanken über ein Reich Gottes machen, das in dieser Welt nicht existiert.

„Die unfassbaren Kriegsverbrechen und die brutalste Umsetzung lang angekündigter imperialer Phantasien vor aller Augen, verbietet es mir als Christin, meine Sehnsucht nach Frieden rücksichtslos vor das Leid der Menschen in der Ukraine zu stellen.“ Diesen bemerkenswerten Gedanken hat die Regionalbischöfin von Hannover, Petra Bahr, als Reaktion auf das „Manifest für den Frieden“ von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht getwittert.

Sehnsüchte haben nichts mit Liebe zu tun. Sie gehören zum Verliebt-Sein,

Erich Fromm hat in seinem schönen Buch über „Die Kunst des Liebens“ herausgestellt, das Lieben etwas wesentlich Anderes ist als verliebt zu sein.

Verliebt sein kennen wahrscheinlich die meisten unter uns: Es ist das Gefühl mit den Schmetterlingen im Bauch, dass mit einem Mal sich das Leben so leicht anfühlt, so perlend, wie ein schönes Glas Sekt. Um verliebt zu sein, dafür muss man nicht viel tun. Das kommt halt so.

Mit dem Lieben verhält es sich anders, sagt Fromm. Lieben sei eine Kunst. Und da noch kein Künstler vom Himmel gefallen ist, gehört das auch zum Lieben: Es will gelernt sein. Und es muss immer wieder aufs Neue geübt werden.

Übrigens: Im Hebräischen bedeutet lieben: erkennen, wahrnehmen – sich selbst und den Anderen. „Und Adam erkannte sein Weib“ heißt es in der Schöpfungsgeschichte. Darin ist gute, einander wahrnehmende Sexualität eingeschlossen. Ausgeschlossen ist missbräuchliche Sexualität, in der eine Abhängigkeitsbeziehung missbraucht wird für Triebbefriedigung.

Lieben bedeutet: Sich gegenseitig mit Respekt wahrzunehmen, das eigene Eigene und das Eigene des Anderen ernst zu nehmen, sich zu berühren und sich berühren zu lassen, sich füreinander zu interessieren. Liebe hat mit der Fähigkeit zu tun sich vorzustellen, wie etwas für den Anderen ist, mit welchen Augen der Andere auf unsere gemeinsame Welt sieht. Es ist die Fähigkeit, den eigenen Blick auf die Welt zu relativieren.

Hören wir jetzt das „Hohe Lied der Liebe“, wie Paulus es in seinem ersten Brief an die Korinther niedergeschrieben hat. Rüdiger ist so freundlich, den Paulus-Text zu lesen, ich werde versuchen, ihn ein wenig „auszudeutschen“.

DAS HOHE LIED DER LIEBE (1. Korinther 13)

„1 Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle.“

So geht es los, das Hohe Lied der Liebe. Und so ist es: Solange ich über die Liebe predige, bleibt meine Predigt kalt, klingt mein Reden wie „tönendes Erz“ oder „eine klingende Schelle“. Es bleibt dann Gerede – irgendwie hohl.

Die Liebe hat mit einer Wärme zu tun, die im Sprechen nicht selbstverständlich enthalten ist. Das Sprechen einer Sprache allein (und sei es die Sprache der Engel, also jener Gestalten, die Gott besonders nahe stehen) verbürgt keine Liebe. Man kann über Liebe reden, man kann über Liebe predigen, ohne Liebe „zu empfinden“. Und natürlich kann man sagen: „Ich liebe dich“ – ohne Liebe. Alles hängt davon ab, ob ich Liebe in mir spüre. Jene Kraft zwischen und hinter den Worten.

2 Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, so dass ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts.“

Auch andere großartige Gnadengaben: die Gabe der Prophetie, das Wissen aller Geheimnisse, ja selbst ein Glaube, der Berge versetzen kann, ist ohne Liebe „nichts“ wert. Erst die Liebe bewirkt, dass meine Begabungen und mein Glaube nicht „nichts“ sind. Die Liebe ist die Kraft, die aus meinen Begabungen, aus meinen Möglichkeiten Wirklichkeiten macht. Der Glaube könnte Berge versetzen – die Liebe versetzt Berge: das ist der Unterschied. Der Modus, die Aussageweise der Liebe ist der Indikativ, die „Wirklichkeitsform“! Die Liebe ist die Kraft des Realisierens, des Verwirklichens.

3 Und wenn ich all meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib verbrennen, und hätte die Liebe nicht, so wäre es mir zu nichts nutze.“

Selbst eine radikal selbstlose Einstellung, so dass ich meinen ganzen Besitz aufgebe, so dass ich meinen Körper opfere, wie es die Selbstmordattentäter tun: Ohne Liebe komme ich nicht dahin, wonach sich ein Teil in mir so sehr sehnt.

4 Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf.“

Jetzt erfahren wir genaueres darüber, was die Liebe ist und was sie nicht ist. Sie ist „langmütig und freundlich“! „Langmütig“ – wörtlich „groß-mütig“ (makro-thymeo) – heißt ganz wörtlich: „Einen langen Weg bis zum Zorn haben“! Das Gegenteil dazu ist das bekannte, viel einfachere „schnelle Ausflippen“! In der Liebe drückt sich die Fähigkeit (capacity) aus, sich selbst zu halten und sich selbst zu beherrschen. Die „Contenance“ bewahren.

Eine Fähigkeit, die alltäglich auf die Probe gestellt wird, wenn das Leben, wenn „es“ gerade nicht so läuft, wie ich/wir es erwarten, wenn Menschen gerade nicht so sind, wie ich/wir sie gerne hätten. Wo dann hin mit meinem Ärger, mit meinem Unmut, mit meiner Empörung? Die Liebe ermöglicht mir, diese Gefühle bei und in mir zu (be-)halten und gerade so auszuhalten. Die Liebe, das sind die wiegenden Arme einer liebevollen Mutter, die ihrem schreienden Baby zur Beruhigung ein Lied vorsingt. Die Liebe sagt: Ich kann auch gerade nichts daran ändern, dass dir dein Zahn so weht tut oder dass du Bauchweh hast. Aber schau: Ich bin da. Der Liebe wohnt die Kraft inne da zu sein, auszuhalten. Aus dieser Kraft heraus wendet sie sich nicht vom anderen ab, auch dann nicht, wenn dieser verzweifelt, empört, missmutig ist. Die Liebe nimmt den Ärger, ja den Hass, der ihr entgegen kommt ernst, ohne sich selbst damit zu infizieren. Sie antwortet nicht mit Hass. Vielmehr bleibt sie weich und so bleibt sie weit. Diese Kunst benötigt jeder, der soziale Verantwortung trägt: Sei es als „Chief“ in der freien Wirtschaft, sei es als Politiker, sei es als Lehrer, sei es als Pfarrer. Diese Kunst tut uns auch im Umgang mit uns selber gut: Wenn wir älter werden, wenn unser Körper nicht mehr so funktioniert, wie wir es von ihm gewohnt sind. Wie gut ist es, wenn ich großmütige Freundlichkeit in mir finde, auch und gerade gegenüber den zunehmenden Gebrechen meines älter werdenden Körpers.

In großmütiger Freundlichkeit bleibend sind andere Menschen nicht mehr meine Rivalen. Und ich muss auch nicht mehr um ihre Gunst eifern. Und schon gar nicht muss ich einen Keil treiben zwischen Freundschaften oder Partnerschaften. In der Liebe freue ich mich daran, wenn sich andere Menschen gut verstehen, neide es ihnen nicht, dränge mich nicht dazwischen. So nehme ich mich selbst zurück, mir genügt mein Platz in der Gemeinschaft. Ich muss mich nicht mehr „aufgeblasen“ im Mittelpunkt stehen, oder meinem Freund seine Freundin bzw. meiner Freundin ihren Freund ausspannen.

5 Sie ist nicht ungehörig, sie sucht nicht das ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu.“

Die Liebe ist nicht „ungehörig“, d.h., wer aus der Liebe heraus lebt, der verfügt über Taktgefühl. Er hat kein Interesse daran, den Anderen bloß zu stellen, ihn zu beschämen. Wer aus der Liebe heraus lebt, erlebt sich getragen vom „Fluss“ (englisch „flow“) seines Lebens. Dies fühlt er in einem immer tiefer gehenden, ausatmenden Ja zum eignen Leben – und in einem damit zum Leben seiner Mitmenschen. Und wenn er verletzt wird, findet er einen Weg weg von seinem Hass und Zorn hin zu seinem Mitgefühl und zu seiner Trauer. In der Liebe bleibend bin ich geschützt vor Härte und Verbitterung.

6 Sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit.“

Die Liebe kennt keine Schadenfreude. Kein „recht geschieht es ihm oder ihr“. Die Schadenfreude ist verwandelt in ehrliche Freude – nicht am Schaden, sondern an der Wahrheit. Die Wahrheit aber ist die Wirklichkeit. „Es ist, was es ist!“ (Sagt die Liebe.)

7 Sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.“

Alles zu ertragen, alles zu zu glauben, alles zu hoffen, alles zu lieben: Ist das wirklich Liebe – oder nicht vielmehr Idiotie? Ich bin vor vielen Jahren auf der Heimfahrt von Paris einem Trickbetrüger auf den Leim gegangen. Er sei bestohlen worden, leide an Diabetes und müsse dringend nach Deutschland heimfahren. Ob ich ihm 20.– DM leihen könne um sich eine Fahrkarte zu kaufen. Ich sagte, die Fahrkarte sei doch viel teurer. Und gab ihm 150 DM… Natürlich habe ich das Geld nie wieder gesehen.

War das Ausdruck meiner Liebe – oder meiner Naivität und Gutgläubigkeit?

Dostojewski hat seinen Christus-Roman „Der Idiot“ genannt.

„Wie kannst du nur so blöd gewesen sein?“ habe ich mich selbst viele Jahre beschimpft. Inzwischen bin ich milder geworden. “ Wahrscheinlich hat er das Geld dringender gebraucht als ich“, denke ich mir. Und zugleich bin ich misstrauischer geworden. Nein – ich glaube nicht der Propaganda politischer Gruppierungen. Und auch nicht der religiöser Gruppierungen. Ich glaube auch nicht alles, was die Werbung mir einreden will. Ich nehme ernst, was ich sehe, was ich erlebe. Und ich habe ein sehr feines Sensorium dafür entwickelt, wenn man versucht, mich zu manipulieren. Und ich bin auch dafür, der Ukraine mit Waffenlieferung zu helfen: Aber nicht, weil ich Putin hasse, sondern weil ich Mitgefühl empfinde für den Schwachen.

8 Die Liebe hört niemals auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird.“

Die Liebe hört niemals auf“! Bis zu meinem letzten Atemzug habe ich die Möglichkeit, mich mit ihr zu verbünden, in ihr und aus ihr heraus zu leben. Was heißt bis zum letzten Atemzug? Die Liebe wirkt über den Tod hinaus. Die Werke der Liebe vergehen nicht. In liebevollem Gedenken bleiben sie in uns – auch wenn der Mensch, von dem wir die Liebe empfangen haben, längst vergangen ist. In den Werken seiner Liebe lebt er in uns weiter und in den Werken unserer Liebe leben wir weiter. Ich denke dabei auch an ganz konkrete und sehr sinnenfällige Werke unserer Liebe: unsere Kinder! Und glücklich die Kinder, die wirklich in Liebe gezeugt wurden und in Liebe aufwachsen dürfen.

9 Denn unser Wissen ist Stückwerk, und unser prophetisches Reden ist Stückwerk.“

Wie wahr! In der Liebe können wir die Relativität unseres eigenen Erkennens einsehen. Damit sind wir geschützt vor der Gefahr, unseren eigenen Standpunkt absolut zu setzen. Und gerade so bleiben wir offen für weiteres Verstehen.

10 Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören.“

Die Liebe ist schon jetzt ein Abglanz des Vollkommenen. In der Liebe leuchtet die Ganzheit auf: Die Liebe eint das Zerstreute, verbindet die Gegensätze, vermischt polares Denken. In wirklicher Liebe gibt es keine Spaltungen. Zu dem verbreiteten Gut-Böse-Denken ist die Liebe nicht fähig..

11 Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war.

Als Kind liebt man anders denn als Erwachsener. Als Kind braucht man gute Spaltungen, die Ordnung ins Leben bringen: Die kindliche Welt ist eine Welt voller guter Feen und gerechter Helden auf der einen, und böser Zauberern und Ungeheuer auf der anderen Seite, die miteinander im Streit liegen. Für ein gesundes Aufwachsen ist das Gefühl wichtig, auf der guten, auf der richtigen Seite zu stehen. Was richtig ist, wird von den Eltern und Erziehern vorgegeben. Kinder haben keine Wahl: Sie nehmen das auf, was sie erleben und was ihnen vorgelebt wird.

So ist es ein großes Glück für das Aufwachsen eines Kindes, glaubwürdige Vorbilder in Form von Eltern und Lehrern zu haben. Ansonsten fehlt einem der Kompass, den wir brauchen, um die Frage nach dem eigenen Lebenssinn zu beantworten. Leben wird als leer und wertlos erlebt. Entsprechend lieblos, ja „hässlich“ gehen wir dann mit unserem Leben und dem Leben der Anderen um.

12 Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.

Paulus verwendet für das Wort „dunkles Bild“ den griechischen Begriff Ainigma. Das heißt eigentlich „Rätsel“. Eben dieses Wort wird im Ödipusmythos gebraucht: Das „Rätsel“ der Sphinx. Die Rätsel-Frage lautet: Was ist das: Am Morgen geht es auf vier Beinen, am Mittag auf zwei am Abend auf drei? Antwort: der Mensch!

Wenn es mir gelingt, hinter meine Erwartungen und Vorurteile zu schauen, dann sehe ich – mich, den Menschen, meine nackte Existenz – als Rätsel, als dunkles Bild. Und vor allem: als Bündel voller Angst! Es bedarf der Liebe, diesen Blick „hinter die Kulissen meiner Gedanken“ überhaupt zu wagen; es bedarf des Blickes der Liebe, der allein in der Lage ist, die tosenden namenlosen Ängste in meinem Inneren zu erblicken und auszuhalten. Meine stückweise Erkenntnis ist unmittelbares Resultat dieser Ängste, die mich zwingen, die Welt in gut und böse zu spalten. Durch diese Ur-Spaltungen bekommen meine Ängste einen Namen. Und diese Benennung verleiht mir Sicherheit.

Die Liebe hebt diese Sicherheiten wieder auf. Die Liebe verbindet dort, wo die Spaltungen sind, die Liebe baut Brücken dort, wo die Gräben sind. Das macht sie so gefährlich. Die Liebe ermöglicht den kleinen und großen Grenzverkehr. Darüber freuen sich natürlich auch die Schmuggler. Das verblüffende ist nur: Je tiefer wir in der Liebe leben, desto mehr erübrigt sich das Schmuggeln von selbst. Anders ausgedrückt: In der Liebe brauche ich weder Gebote noch Verbote, brauche ich keinen Zwang zur Tugend – in der Liebe lebe ich in Gott und Gott lebt in mir.

In der Liebe gilt: „Ich erkenne, wie ich erkannt bin…“

Paulus sagt: „dann“ werde ich erkennen, wie ich erkannt bin. Die Mystiker sagen: „dann“ ist „jetzt“. Dann ist immer dann, wenn du dich aufgibst. Wenn du dein Leben loslässt: Wie es im heutigen Evangelium geheißen hat: „Wer sein Leben retten will, wird es verlieren. Wer es aber verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, wird es retten.“ Das ist kein Aufruf zum Märtyrertum. Das ist ein Aufruf, sich ganz in die Hände Gottes fallen zu lassen. In die Hände eines mitfühlenden und mitleidenden Gottes. In die weit ausgestreckten Arme eines vor und von der Welt verspotteten und gekreuzigten Gottes. In die Hände eines menschlichen Gottes, dem kein Leid und kein Schmerz fremd sind. In die Hände eines scheinbar von Gott selbst verlassenen Gottes! In diesem Geschehen gebe ich alles aus der Hand, woran bis lang mein Herz hing. Und bekomme scheinbar nichts dafür.

Jesus Christus – der „Idiot“!

So gesehen ist Nachfolge, wirkliche Nachfolge ein idiotisches Unterfangen.

13 Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“

Glaube als Vertrauen, Hoffnung als Zuversicht und Liebe als Hingabe – das sind die Wachstumskräfte derer, die sich in Gott hinein fallen lassen. Die Liebe aber ist insofern die „größte“ unter den dreien, als sie die Hingabe in und an Gott vollzieht. Ohne Liebe bleibt alles nur Theorie; ohne Liebe nützen die klügsten Gedanken nicht, weil sie unverwirklicht bleiben.

Und ohne Liebe bleibt auch Gott selbst ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Erst in der Liebe vollendet sich Gott selbst, erst in der Liebe verwandelt sich die Ohnmacht des Vaters im Angesicht des Todes seines eigenen Sohnes in ein dauerhaftes Aufeinander-Bezogen-Sein im Heiligen Geist. Augustinus nennt den Heiligen Geist das „vinculum caritatis“, das „Band der Liebe“.

Und solange ich mit diesem Band verbunden bin, bin ich sicher. Sicher gebunden in Gott, in dem Gott, der Liebe selbst ist, AMEN.

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Predigt über das „Lamm Gottes“ (Joh. 1, 29) am 2. Sonntag nach Epiphanias 2023

Liebe Gemeinde,

„siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“

Mit diesem Ausruf Johannes des Täufers wird Jesus, genauer sein Wirken auf Erden, im Johannesevangelium eingeführt. Zweimal ruft Johannes der Täufer das aus.

Ein erster Ausruf findet statt im Rahmen seines Taufens. Diese Handlung gibt Johannes seinen Namen: Er ist der „Täufer“. Anders als in den anderen drei Evangelien tauft jedoch Johannes Jesus nicht. Jesus wird von ihm „nur“ benannt.

Und zwar als „Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt“. Unmittelbar nach dieser Erzählung (Johannes 1, 29-34) wiederholt der Evangelist Johannes diesen Ausruf von Johannes dem Täufer. Der Kontext ist jetzt die Berufung der ersten Jünger (Johannes 1, 35-39) .

„Siehe, das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt!“

Um Licht in das Dunkle dieses Wortes zu bringen, sollten wir uns dem Nicht-Gesagten, dem nur Angedeuteten, dem nur Ahnbaren zuwenden. „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ Mit diesem geheimnisvollen Satz beginnt das Johannesevangelium. Es ist, als käme es aus einer anderen Welt. Diese andere Welt ist die Welt „hinter oder vor dem Wort“. Unsere Wörter, unsere Sprache, versucht etwas auszudrücken. Etwas abzubilden. Und doch haben wir oft das Gefühl, das Entscheidende kann ich dir nicht sagen. Es bleibt verborgen. Es bleibt im Dunkel der Nacht.

Der allererste Buchstabe des hebräischen Alphabets ist das Alef. Es hat die Form eines Widders. Eines männlichen Lammes. Und es bleibt stumm. Es wird nicht gesprochen. Es gibt im Hebräischen noch ein weiteres Wort, das genauso wie „Alef“ geschrieben aber „elef“ ausgesprochen wird. Es bedeutet „alles“. Das „Ganze“, das „Fundament“ unseres Lebens, das Fundament der Welt bleibt stumm. Ist unaussprechlich. Es gleicht einem Hauch.

Als „Stimme verschwebenden Schweigens“ erfährt Elia Gott.

Und der Heilige Johannes vom Kreuz singt in seinem Lied über die Einung mit Gott: „Als ich meinen Geliebten liebkoste, gab Hauch der Zedern Wehen“.

Die Einung mit Gott, das Einswerden mit Gott, das eine Rückkehr, eine Heimkehr zu Gott ist, geschieht im Zeichen des Lammes. In ihm verstummt das Wort, in ihm endet die Zeit.

In ihm „ist alles gut“. Die Schöpfung ist an ihr Ziel, ist bei sich selbst angekommen. Es ist die Ruhe und Stille des siebten Schöpfungstages.

Und Johannes, der Täufer nun ist so etwas wie der Wegweiser zu dieser Welt. Er steht irgendwo „dazwischen.“ Zwischen Zeit und Ewigkeit, zwischen Bewusstem und Unbewusstem, zwischen dieser unserer bekannten Welt und der Welt „jenseits“ von ihr, jener „anderen“, strahlend-dunklen, unsichtbaren Welt.

Das ist die Welt des Lammes.

So gesehen ist Johannes der Täufer auch so etwas wie der „Ahnherr“ für den Priester (für uns Pfarrer): Ist es doch seine/unsere Aufgabe zu ver“-mitteln“, eine Brücke zwischen eben jenen zwei Welt anzubieten: der sichtbaren Welt im Diesseits und der unsichtbaren Welt im Jenseits des Diesseitigen. Auch die priesterliche Aufgabe ist es, „Zeugnis“ zu geben dafür, dass es noch eine ganz andere Welt gibt, die von der diesseitigen nicht erfasst werden kann. Und eben als dieser Mittler, dieser Ver-Mittler zwischen zwei Welten, stellt Johannes der Täufer Jesus mit den Worten vor: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt“

„Siehe!“ das heißt so etwa: Darf ich vorstellen, dies ist … Frau Soundso …

heißt also: Darf ich vorstellen, das ist „Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt“!

Eine merkwürdige Vorstellung. Was soll das heißen?

Ein unbekannter jüngerer Mann wird als „Gottes Lamm“ bezeichnet.

Naheliegende Assoziation zu Lamm ist: „Opfer“.

Das Lamm – als Träger der Sünden der Welt – wird geopfert.

Es wird in die Wüste geschickt.

So naheliegend diese Assoziation auch ist – sie ist falsch.

In die Wüste wird nicht das Lamm geschickt – in die Wüste wird der Bock, der Sündenbock gejagt.

Wer oder was ist das „Lamm“?

Was bedeutet es?

Unser alltägliches Denken funktioniert über „schuldig“ und „unschuldig“. „Schuldig“ heißt: Das hast du verursacht. Du bist der „Täter“.

Und so entsteht das Opfer:

Ohne Opfer gibt es keinen Täter, ohne Täter gibt es kein Opfer.

Für ihre Existenz brauchen sie sich gegenseitig.

Das ist der Grund, dass die Lösung, die Er-Lösung von Täter-Opfer-Beziehungen so unglaublich schwierig ist.

Wenn ich nicht mehr der „Täter“ bin: Wer bin ich dann?

Wenn ich nicht mehr das „Opfer“ bin: Wer bin ich dann?

Gibt es mich dann überhaupt noch?

Wer es wagt, sich diesen Fragen zu stellen, braucht viel Mut. Denn das In-Frage-Stellen der Täter-Opfer-Beziehung fühlt sich als Verlust der eigenen Identität an. Fühlt sich an, als würde man etwas Fundamentales aus dem Haus, auf dem das eigene Denken aufgebaut ist, einfach herausziehen.

Dies löst heftige Angst aus.

Die Täter-Opfer-Beziehung ist starr und sicher zugleich. Sie bietet die Sicherheit einer Eisenkette oder eines Betonbunkers.

Der Preis dieser Sicherheit ist Unlebendigkeit. Der Preis dieser Sicherheit ist der Tod.

Es ist die Sicherheit, die ein Gefängnis bietet.

Das Leben, die Lebendigkeit ist „draußen“.

Wer sich auf die Gedanken von diesem Jesus aus Nazareth einlässt, ihnen „vertraut“, mehr noch: sein Leben nach ihnen ausrichtet, „der wird leben …“ heißt es.

Und er wird sterben. Genauer: In ihm wird etwas sterben.

Es werden ihm die vertrauten Sicherheiten, Ordnungen und Einteilungen weggenommen, auf die er sein Leben gesetzt hat.

Das konnte und wollte sich das religiöse Establishment zur Zeit Jesu nicht bieten lassen.

So war die rettende Idee: Den Prediger dieser Gedanken zu vernichten.

Und man hat ihn, seine Person, vernichtet.

Womit man nicht gerechnet hatte: Dass sich seine Art zu denken nicht vernichten ließ. Seine Gleichnisse, seine Predigten – dies wirkte weiter – wirkt bis heute. Gleichzeitig wurde und wird versucht hat, sie zu „entschärfen“, ihnen die „Spitze“ zu nehmen.

Hierfür nur ein Beispiel: Im Gleichnis vom verlorenen Sohn bekommt der Sohn, der sein Erbe „durchgebracht“ hat, eine nach menschlichen Maßstäben völlig ungerechtfertigte „Barmherzigkeit“. Ihm zu Ehren, seiner Rückkehr zu Ehren wird ein Fest gefeiert. „So ist Gott“! Sagt Jesus. Indem dieses Gleichnis von Lukas eingerahmt wird von den Gleichnissen vom verlorenen Schaf und vom verlorenen Lamm, wird genau diese Spitze der Provokation abgebrochen. Natürlich freut man sich über das Wiederfinden des Geldes oder des Schafes – aber mehr auch nicht. Die Provokation bestand ja darin, dass jemand aktiv sich gegen das Erbe seines Vaters entscheidet – es gleichsam mit Füßen tritt – und dann doch Vergebung erlebt – nur weil er Reue zeigt und zurückkehrt. Keine Wiedergutmachung wird erwartet, keine (naheliegende) Strafpredigt, kein erhobener Zeigefinger.

„So ist Gott“ – sagt Jesus.

Das war undenkbar und unerträglich.

Das ist schwer denkbar und schwer erträglich.

„Siehe, das ist Gottes Lamm!“

Dieser Mensch also ist Gottes Sohn.

UND: Als Gottes Sohn ist er Gottes Lamm.

Als Lamm Gottes ist er Gottes Sohn.

Das ist das Neue, das Un-Gehörte und Un-Erhörte, was mit dem Christentum auf die Welt kommt und was nicht auf die Welt kommen soll:

Die schweigende Ohnmacht des Lammes.

Das Lamm wehrt sich nicht.

Das Lamm kämpft nicht.

Das Lamm duldet.

Indem Gottes Sohn das Gottes Lamm ist, glauben wir einem Gott der Geduld, des Aushaltens, des Erleidens und der Freude über all jene, die sich diesem Gott zuwenden.- Die zu Gott zurückkehren.

Wie die Lämmer wurden unsere Mitmenschen jüdischen Glaubens in den Konzentrationslagern der Nazis zur Schlachtbank geführt.

Einfach so.

Das ist die Welt des Lammes.

Ein ukrainischer Zivilist, Familienvater, wird aus dem Auto gezerrt und vor den Augen seiner Frau und seiner beiden Kinder erschossen. Einfach so.

Das ist die Welt des Lammes.

Jetzt, in dieser Minute, verhungert irgendwo in Afrika, ein kleines Mädchen oder ein kleiner Junge.

Einfach so.

Das ist die Welt des Lammes.

Letzte Woche wurden wieder zwei junge Männer im Iran hingerichtet. Ihre „Schuld“ bestand darin, gegen ein verbrecherisches Regime protestiert zu haben.

Das ist die Welt des Lammes.

Liebe Gemeinde,

Ich tue mich schwer mit diesen Gedanken.

In mir sträubt sich etwas.

Ich mag nicht daran denken, welche Menschen wie in der Ukraine gerade getötet werden, welche Kinder auf dieser Welt gerade verhungern. Ich mag auch nicht daran denken, an welchen Menschen im Iran oder in China gerade die Todesstrafe vollzogen wird.

Ich mag nicht daran denken, weil ich das Gefühl habe, ich halte das nicht aus.

Dieses Leid näher an mich heran zu lassen – es tut einfach zu weh.

Und Schmerzen führen zu Hass.

Ich hasse mein ewiges Kopfweh.

Ich hasse meine Rückenschmerzen.

Ich hasse meine Depression.

Der Hass sucht nach Lösungen, dass ich das nicht aushalten muss.

Ich will diese verdammten Schmerzen nicht mehr ertragen müssen.

Der Hass sucht Schuldige:

Die Egozentrik und Ignoranz der kapitalistischen Welt, die Grausamkeit der totalitären Machthaber.

Der Hass macht Propaganda: „Die da oben, die haben ja keine Ahnung!“

Oder: „Was heißt hier Bedürftige …? Das sind doch alle Sozialschmarotzer…“

Der Hass spaltet: In Schuldige und Unschuldige, in Mächtige und Ohn-Mächtige, in Täter und Opfer. Und der Hass weiß immer genau, wie es ist…

Und wenn es dann so nicht mehr weiter geht, dann gibt es immer noch die Betäubung. Wie gut dass es Schmerzmittel gibt.

Wie gut, dass wir die Augen verschließen können:

Da kann man nichts machen. So geht es eben zu auf dieser Welt.

Nur keine Empathie!

Sich nur nicht einfühlen!

Und hoffen, dass man selber irgendwie durchkommt.

Was sind wir auch so blöd uns in einen Krieg einzumischen, der uns nicht betrifft.

Oder: In unserem Sozialstaat ist für alle gesorgt. Man muss sich halt ein wenig anpassen, sich nach der Decke strecken. Mir hat auch niemand was geschenkt!

Das ist das Denken dieser Welt. Es ist gefüllt mit Gehässigkeit. Und es ist sehr naheliegend. Sehr nachvollziehbar.

Es ist nicht das Denken Jesu. Sein Weg ist der Weg des Lammes, der Weg des Ohne-Macht-Seins. In der Welt des Lammes kommt das Ohne-Macht-Sein näher an mich heran.

Im Hebräischen heißt „Opfer“ („korban“) „sich nähern“. Sich „Gott nähern“. In diesem Geschehen opfere ich all das, was mir Sicherheit gibt: Meine Kontrolle und meine Wünsche, mein Leben im Griff zu haben. Indem ich mich Gott nähere opfere ich mein Anhaften an das Diesseitige.

Lerne, mich abzufinden.

Lerne mich einzufinden.

Opfern in dieser Bedeutung heißt einfach „hergeben“. Oder „loslassen“. Sich nicht länger an daran klammern, dass mein Leben nach meinen Erwartungen abzulaufen hat.

Es ist im übrigen die Taube und nicht der Adler, der bei Jesu Taufe erscheint.

Wer sich zu diesem Jesus, zu diesem Lamm Gottes bekennt, der verlässt die geläufige Einteilung der Welt in Schuld und Unschuld, in Täter und Opfer.

Es gibt keine Bösen mehr. Und es gibt keine Guten mehr.

Und das Lamm ist auch nicht der Sündenbock.

Die Wolle des Lammes ist weiß. Im Judentum ist die Farbe weiß verbunden mit dem Erleben: Es gibt ein entweder-oder mehr. Keine Spaltung in gut oder schlecht.

Dem entspricht, dass das Schwarze, das Dunkle, die Finsternis auch nicht das Böse ist. Es ist das Geheimnis: Im Dunkel der Nacht findet der Heilige Johannes vom Kreuz den Weg zur Einung mit Gott.

„Im Dunkel der Nacht“ wird der Verstand blind. Deshalb meidet er die Dunkelheit.

Die Dunkelheit ist das Milieu, in dem mystisches Denken wächst.

Es ist ein Denken „jenseits“ unseres taghellen Verstandes.

Von dem islamischen Mystiker Dschalâl-ed-dîn Rumî stammt der Satz:

„Jenseits von falsch und richtig liegt ein Ort. Dort treffen wir uns.“ (https://gutezitate.com/zitat/168425)

Dieses „Jenseits“ ist ein Ort, an dem die Struktur gebende und damit Sicherheit gewährleistende Eindeutigkeit von „so ist es und nicht anders“ verloren gegangen ist. Die damit einhergehenden Gefühle von Unklarheit und Unsicherheit (Der Heilige Johannes vom Kreuz hat sie ausführlich in seinem Werk: „Der Aufstieg zum Berg Karmel“ beschrieben.) … diese Gefühle sind extrem unangenehm und extrem schwer erträglich. Um sie zu halten bedarf es der Kraft der Geduld, die von der Fähigkeit, Gott, seinen Nächsten und sich selbst zu lieben genährt wird. Um sie zu halten bedarf es eines tiefen Vertrauens in die Barmherzigkeit und Güte Gottes.

Gebe Gott, dass wir immmer wieder den Mut besitzen, in unsere eigene Dunkelheit hinab zu steigen. Gebe Gott, dass wir auf unseren eigenen dunklen Wegen dem Frieden des Lammes begegnen, der uns frei macht für ein Leben in Gott.

Und gebe Gott, dass wir bereit sind, diesen Frieden in unser Inneres hineinzulassen, AMEN.

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Predigt zum 4. Advent 2022

Predigt über Philipper 4, 4-7 am 4. Advent 2022

Liebe Gemeinde,

„Meine Seele erhebt den Herrn und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilands!“ So beginnt das Magnificat, der berühmte „Lobgesang Mariens“.

„Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich: Freuet euch!

Der Herr ist nahe!“

So beginnt unser heutiger Predigttext.

Und so würde ich gerne meine Predigt nicht nur beginnen lassen. Ich würde gerne eine ganze Predigt halten mit dem immer wiederkehrenden cantus firmus: Freuet Euch …

Eine mir wohlbekannte Stimme sagt: Also – dann mach’s halt!

Dies ruft meine inneren Bedenkenträger auf den Plan:

Und was ist mit der Klimakrise?

Was mit dem Artensterben?

Was mit dem Krieg in der Ukraine?

Was mit den Beschwerden deines älter werdenden Körpers?

Ich hab mal gehört, wir Deutschen seien Weltmeister im Jammern.

Die Kehrseite davon ist: Sich schwer damit zu tun, sich an dem, was ist, zu freuen.

Im Achtelfinale ausgeschieden. (So viel zum Thema Weltmeister!)

Der Mangel an Fachkräften.

Die Energiepreise.

Und dann noch dieses gräulich-graue Wetter.

Wo soll denn bitte die Freude herkommen?

Genau: Wie entsteht Freude? Wo kommt sie her?

Zu aller erst: Freude lässt sich nicht machen.

Schon gar nicht lässt sie sich kaufen.

Das kann übrigens schon mal viel Stress aus dem Schenken vor Weihnachten heraus nehmen.

Freude kommt und geht.

Freude ist unbestechlich.

Auch das ist eine gute Nachricht.

Freude ist nicht korrupt und nicht korrumpierbar.

Freude ist entweder authentisch – oder sie ist nicht.

Dasselbe gilt für andere bekannte Hauptworte, die in unserem Text stehen:

Güte – Danksagung – Friede – Herz:

Sie alle sind unserem Bedürfnis oder Drang, „etwas machen zu können“ entzogen.

Güte, Danksagung, Friede: Es geschieht – oder es geschieht eben nicht.

Dies gilt auch für den nächsten Satz: „Eure Güte lasst kund sein allen Menschen.“

„Eure Güte lasst kund sein allen Menschen!“

Das ist unser Job als Christenmenschen: Unsere „Güte“ zu veröffentlichen.

Was ist das?

Die ursprüngliche Bedeutung von „gut“ ist: „brauchbar, tauglich“ – auch: „anständig, ehrlich“ oder eben auch „gütig“.

„Güte“ bezeichnet also die Möglichkeit oder die Fähigkeit, nützlich, brauchbar, anständig, ehrlich zu sein. Kurz: Güte ist die Fähigkeit, sich selbst und sein Leben von dem her zu verstehen und zu leben, was für die Gemeinschaft nützlich ist. Die autoritären Führer verdrehen diesen Gedanken: Sie betrachten die Gemeinschaft unter dem Aspekt, was für sie selbst nützlich ist. Indem ich lerne, meine Ich-Bedürfnisse zurück zu stellen, wird mein Leben deutlich leichter, wird es weniger (an)getrieben sein von den ganzen „du musst …“ – Sätzen. Aus der Güte heraus leben bedeutet auch: „Vieles ist gut, gerade so, wie es ist.“ Ich muss das Rad nicht neu erfinden!

Aus der Freude und der Güte fließen all‘ diese schönen Tugenden, die uns so gut tun: Wahrhaftigkeit, Freundlichkeit, Höflichkeit, Respekt vor dem Fremden.

„Sorgt Euch um nichts …“ schreibt Paulus weiter in seinem Brief.

Wie meint er das?

Vorsorge kann lebensrettend sein.

Vorsorgeuntersuchungen schützen.

Darmkrebs oder Brustkrebs – im Frühstadium erkannt – ist heilbar.

Sich Sorgen machen um das sich wandelnde Klima – ja Gott sei Dank gibt es Menschen, die sich diese Sorgen machen.

Und nicht nur sich Sorgen machen, sondern handeln.

Sich um nichts sorgen darf nicht heißen: Werdet gleichgültig.

Paulus sagt: „Sorgt euch um nichts, sondern in allen Dingen lasst eure Bitten in Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kund werden.“

Ich verstehe das als „innere Haltung“. Als Haltung meinem/dem Leben gegenüber. So in der Art: Lebt verantwortungsvoll, achtsam und aufmerksam. Und dann lasst es auch wieder gut sein! Es gibt ein gesundes: „Mehr ist mir (derzeit) nicht möglich!“

Ich erlebe dies in meinem Beruf als Therapeut Tag für Tag.

Ich kann Hinweise geben, ich kann sagen, was mir auffällt, ich kann meine Sorgen über bestimmte Lebensentscheidungen ausdrücken, ich kann mich in Leid einfühlen und dadurch vielleicht sogar ein wenig mittragen – und mehr kann ich nicht.

Wenn jemand keinen Weg sieht, eine qualvolle Beziehung zu verlassen, dann ist das so. Wenn jemand sich in seinem Beruf völlig verausgabt, dann ist das so.

Wenn jemand ungesund lebt, dann ist so.

Wenn jemand meint, Krieg führen zu müssen, dann ist das so.

Die Anerkennung im Sinne von: „dann ist das so“ meine ich sehr nüchtern und sachlich.

Gute Führer, sei es in Unternehmen, sei es in Kirchengemeinden, sei es in der Politik sind getragen von eben dieser nüchternen Sachlichkeit. Diese Nüchternheit zu leben ist leichter, wenn sie legiert ist mit Gottvertrauen.

Wiederum: Es ist keine gleichgültige Sachlichkeit, sondern eine Sachlichkeit, die durch Gefühle hindurch gegangen ist. In Bitten, in Gebet und Flehen mit Danksagung: dies ist der innere Prozess, den ein verantwortungsvoller Führer durchlebt und durchleidet.

Gott sei Dank gibt es solche Führerpersönlichkeiten. Und Gott sei Dank gibt es Menschen, die den unschätzbaren Wert demokratischen Denkens und Lebens erkannt haben und bereit sind, ihn zu verteidigen. Ausdruck davon sind z.B. die Proteste in China, ist der Ausgang der Kongress-Wahlen in Amerika, ist auch der Ausgang der Wahl in Brasilien.

Die Demokratie lebt und ist lebensfähig.

Und sie wird hart in Frage gestellt.

Aber das macht stark. Es tut ab und zu sehr gut, das eigene Leben nüchtern und radikal in Frage zu stellen.

Stimmt es für mich (noch) so zu leben, wie ich lebe?

Stimmen meine Beziehungen – zu meinem Partner, zu meinen Freunden zu meinem Beruf?

Stimmen heißt: Macht es mir Freude? Will ich so leben, wie ich lebe – oder habe ich das Gefühl, mir wird mein Leben aufgezwungen.

Wenn es nach mir ginge, dann würde ich ganz anders leben.

Anders ausgedrückt: Wie sehr fühle ich mich fremdbestimmt – und wie sehr lebe ich ein selbst bestimmtes Leben.

Selbstbestimmung aber nicht, ich lebe so, wie es mir gefällt. Wie es mir Spaß macht. Das ist ein verbreitetes Missverständnis. Ich glaube nicht, dass es irgend jemand Spaß macht, alt und gebrechlich zu werden. Dass es Spaß macht zu erleben, wie die eigenen Kräfte schwinden.

Selbstbestimmt leben ist die Fähigkeit, ja zu sagen zu dem wie es ist. Mich anzupassen an das, was ist und es nach eigenen Möglichkeiten zu gestalten.

Und dann wieder loszulassen und in einem tiefen Seufzer zu sagen:

„Dann ist das jetzt so.“

Diese Anerkennung der Wirklichkeit ist gleichsam der Nährboden, auf dem Freude gedeihen kann, Freude im Sinne von heiterer Gelassenheit. Für mich ist Freude eine Empfindung, die viel mit dem Erleben von Ganzheit zu tun hat. Sie ist wohltemperiert: Ihr fehlt die Hitze des Triumphs der Sieger und die Kälte des Hasses der Unterlegenen.

In diesem Erleben der Ganzheit oder der Wirklichkeit wächst die Kraft „danke zu sagen!“ In dieses Danke hinein münden die Bitten, mündet das Gebet und das Flehen. „Dein Wille geschehe …“ ist ein anderer Ausdruck für dieses „Danke“. Er führt heraus aus dem Gefängnis der Verbitterung, die davon lebt, immer wieder zu betonen: „Das hätte nicht passieren dürfen!“

Und damit endet auch unser heutiger Predigttext. Und damit endet meine Predigt. Es ist eine weitere Variation von „dein Wille geschehe!“

„Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, wird eure Herzen und Sinne in Christus Jesus bewahren.“

Der Friede Gottes wird unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus bewahren – wenn wir ihn in uns hinein lassen. Das wünsche ich Ihnen und mir: Die Kraft, diesen Frieden, der höher ist als unsere Vernunft, in uns hinein zu lassen, AMEN.

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Gedanken zum Volkstrauertag 2022

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

Meister Eckhart hat einmal gesagt: “ … soviel bist du in Gott, so viel du in Frieden bist, und so viel außer Gott, wie du außer Frieden bist“ (Tractatus 2, S. 433) In Frieden mit sich selbst, dem eigenen gelebten Leben und in Frieden mit dem Leben und dem Verhalten meiner Mitmenschen.

Geht das? Oder gehört das zu auch zu jenen Illusionen, die laut Meinung ihrer Kritiker von den Religionen befeuert werden.

Kann ich in Frieden mit jemand seien, der meine Familie bedroht, der Mitglieder meiner Familie getötet hat, der mein Haus zerbombt hat?

Nein. Das geht nicht! Das wäre übermenschlich. Wie soll ich in Frieden zu jemanden kommen, der diesen Frieden überhaupt nicht will?

Dessen Ziel es ist, mich anzugreifen, ja mich zu vernichten.

Die Geschichte lehrt uns, dass wir Menschen offenbar nicht wirklich friedensfähig sind. Alltäglich erleben wir, dass Hass, Gewalt und Rücksichtslosigkeit ganz offensichtlich zu uns Menschen, zu unserem menschliche Leben dazu gehört.

Dies ist nüchtern anzuerkennen.

Wir erleben aber auch alltäglich, dass wir Menschen zu Rücksichtnahme, zu Einfühlung, zu Liebe fähig sind.

Die Frage ist: Gibt es eine Brücke zwischen diesen beiden Polen oder Systemen – zwischen dem System Hass und dem System Liebe?

Ein Beispiel: In diesem Jahr jährte sich der Geburtstag des großen jüdischen Geigers Isaac Stern zum 100. Mal. Zeit seines Lebens lehnte er es ab, in Deutschland zu konzertieren.

An seinem 75. Geburtstag jedoch gab er einen Kammermusikkurs in Deutschland. Er sagte dazu:

„Er sei nicht gekommen, um zu vergeben oder zu vergessen, oder um jemanden Schuldgefühle zu machen, die er nicht von sich aus habe. Sein Kommen sei ein Ausdruck des Humanismus und der Anerkenntnis, dass es nicht ‚menschlich‘ sei, eine feste Position zu beziehen ohne Rücksicht auf den Wandel der Zeit und den Schmerz, den eine solche Position bei Anderen auslöst“. Innerhalb dieses Rahmens war es Stern möglich, nach Deutschland zu kommen. Seine eigene Guaneri-Geige – Symbol dessen, woran wirklich sein Herz hängt – hatte er nicht mitgebracht. Insofern ist er seinem „Schwur“, in Deutschland nie wieder zu konzertieren, treu geblieben.

Für mich ist das ein beeindruckendes Beispiel dafür, was (uns) Menschen möglich ist – und was auch nicht. Er sei nicht gekommen, „um zu vergeben, zu vergessen oder um Schuldgefühle zu machen!“ Er ist gekommen, weil er (dringend) gebeten worden ist, doch von seinem Wissen und seiner Kunst des Violine Spielens etwas weiter zu geben. Und er hat sich von diesen Bitten erreichen lassen als Ausdruck des Humanismus und weil es nicht menschlich sei, eine Position zu beziehen ohne Rücksicht auf den Wandel der Zeit und den Schmerz, den eine solche Position bei anderen auslöst. Und ich füge hinzu: Es tut auch der eigenen Seele nicht gut, in den Verhärtungen zu verharren, und so sich unerreichbar zu machen. Dies führt zu nichts weiter als zu Verbitterung, verbunden mit dem Ausruf: „Das hätte nie passieren dürfen!“

Andererseits – und das ist auch eine sehr nüchterne Erkenntnis: Es bedarf eines

sehr starken Ichs, das über den Mut verfügt, auch ein „Jenseits“ dessen, was geschehen ist und niemals hätte geschehen dürfen, zuzulassen. Es bedarf des Mutes, nicht länger den Stimmen zu folgen, die Härte und Rache propagieren. Die jede Form des Kompromisses und des Aufeinander-zu-Gehens als Ausdruck von Schwäche und Selbstverrat denunzieren. Und es bedarf der Zeit, die bekanntlich Wunden heilt. I. Stern ist an seinem 75. Geburtstag zum ersten Mal in Deutschland gewesen: das war 1997 – also mehr als ein halbes Jahrhundert nach Ende des Nazi-Regimes.

Was er aber vorgelebt hat, das ist wirkliche Stärke. Zu ihr gehört die nüchterne Anerkenntnis der Wirklichkeit und der Verzicht auf süßliche „Jetzt haben wir uns doch alle wieder lieb“-Romantik. Nur in dieser Nüchternheit ist es auf der anderen Seite möglich, eine Zukunft zu finden, die aus der Hölle des ewigen und eisernen Festhaltens an dem, was gewesen ist, heraus führt.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

vielleicht sind Sie ein wenig überrascht, von einem Pfarrer solch‘ „weltliche“ Gedanken zu hören. Ohne Verweis auf ein Jenseits, in dem alles besser werden wird.

Ja, das stimmt: Der Glaube an ein derartiges Jenseits ist mir fremd.

Und ich weiß mich an dieser Stelle in guter Gesellschaft mit Jesus aus Nazareth. Der hat auf die drängende Frage, wann denn (endlich) das Reich Gottes käme, geantwortet:

„Das Reich Gottes kommt nicht mit äußeren Zeichen; man wird auch nicht sagen: Siehe hier!, oder: Da! Denn sehet, das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ (Lukas 17, 23)

Und im Johannesevangelium sagt Christus:

„Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht.“

“ … soviel bist du in Gott, so viel du in Frieden bist…“ AMEN.

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Predigt über Lukas 17, 20-24 – „Das Reich Gottes ist inmitten von Euch!“ (07.11.2022)

Liebe Gemeinde,

„dein Reich komme“ so beten wir jeden Sonntag im Gottesdienst.

Es ist die zweite Bitte des Vaterunsers.

Es sind die Bitten, in denen es um das Leben Gottes selbst geht:

„Geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe …“

Danach kommen die Bitten, bei denen es um unser Leben geht:

„Unser tägliches Brot gibt uns heute“, „führe uns nicht in Versuchung“, „vergib uns unsere Schuld“.

Das vorhin gehörte Evangelium beschäftigt sich mit der Frage: Wann kommt denn dieses Reich?

Das ist zu der Zeit, als Lukas sein Evangelium schrieb, eine nahe liegende Frage. Dachte man doch, dass die Rückkehr des auferstandenen Messias nicht lange auf sich warten lässt. Und jetzt war doch längere Zeit verstrichen, die Menschen lebten weiter wie bisher, starben weiter wie bisher. Keine Zeitenwende, kein Umbruch war in Sicht. So machten sich Unglaube und Ungeduld breit. Die Protagonisten der jungen, der neuen Religion, die sich auf diesen Jesus aus Nazareth bezog, mussten sich also etwas einfallen lassen.

Für mich ist spannend, dass nicht danach gefragt wird, wie dieses Reich aussieht, wie es gestaltet wird oder sich selbst entfaltet. Das fände ich eigentlich interessanter, als die Frage nach dem „Wann“. (Nebenbei: Es wäre spannend zu hören, welche Bilder jeder Einzelne von Ihnen zum Reich Gottes hat.)

Auch Jesu Antwort lässt das „Wann“ des Reiches Gottes offen, wenn er sagt:

„Das Reich Gottes kommt nicht mit äußeren Zeichen; man wird auch nicht sagen: Siehe hier!, oder: Da! Denn sehet, das Reich Gottes ist mitten unter euch.“

Die Frage nach dem Wann richtet sich auf die unbekannte Zukunft. Dazu hat Jesus nichts zu sagen.

„Es ist schon da“, sagt Jesus. „Es ist inmitten von Euch.“ Und er könnte hinzufügen: „Wer Ohren hat zu hören, der höre!“ (vgl. Lukas 8, 8; 14,35).

Und was heißt das jetzt: „inmitten von uns ist das Reich Gottes!“

Wo ist denn das „inmitten“?

Na ja – es ist irgendwo hier; irgendwo und irgendwie „zwischen uns“. So genau kann man das nicht sagen.

Mir fällt der berühmte Satz von Augustinus über die „Zeit“ ein:

„Was ist also ‚Zeit‘?“, so fragt er sich. „Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht.“ (Confessiones IX. Buch, 14,17)

Wenn mich niemand fragt, was da inmitten von uns ist, weiß ich es, wenn ich es erklären soll, weiß ich es nicht!

Das Problem ist: Ich kann es nicht sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen – die mir vertrauten Sinne, die mir helfen, mich in der Welt zu orientieren, versagen an dieser Stelle.

Damit aber betreten wir einen „Bereich“, den der Heilige Johannes vom Kreuz „Die „dunkle Nacht der Sinne“ nennt.

Über das Reich Gottes reden heißt also zunächst einmal: „in der Dunkelheit tappen“. (Ohne mit einer Taschenlampe oder einem Suchscheinwerfer ausgestattet zu sein!)

Dies mach leider überhaupt keinen Spaß – im Gegenteil: Es macht Angst.

„Gott will im Dunkel wohnen“, sagt König Salomo bei der Einweihung des Tempels (1. Könige 8, 12b). Von daher ist es in sich logisch, dass sein Reich, dass das Reich Gottes ein Reich der Dunkelheit ist. Nun aber auch wieder nicht so, dass man gar nichts erkennen könnte. Wäre dem so, müsste man über Gott und sein Reich schweigen: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ (Wittgenstein)

Wir benötigen eine Sprache, die Licht in die Dunkelheit bringt – ohne dass sie die Dunkelheit zerstört. Wir benötigen eine Sprache, die selbst aus der Dunkelheit entsteht. Dies ist die Sprache der Mystik.

Sie ist nicht eingängig und es geht ihr nicht um Befriedigung.

Worum es ihr geht, das ist der Versuch, die Dunkelheit Gottes selbst abzubilden.

Dieses Abbild ist das „Licht“ des Sohnes, das in die Welt kam. (Johannesevangelium Kapitel 1)

Eine Sprache, die versucht, die Dunkelheit Gottes selbst abzubilden: Das ist eine Sprache, deren Eindeutigkeit und Klarheit aus dem Eingeständnis des eigenen Nicht-Wissens stammt. Es ist eine Sprache, die genau nicht darauf aus ist, das eigene (vermeintliche) Wissen zu zementieren und in vielen Wendungen zu wiederholen. Es ist eine Sprache, die sich öffnet für bislang Ungedachtes, Unbekanntes, eben Neues.

Von daher ist für mich alle Rede vom Reich Gottes ein Sprechen in Vorläufigkeit. Vor der Klammer steht stets: „Soweit ich sehe … und ich weiß, mein Blick, ist begrenzt, meine Sichtweise ist eine subjektive…“ Von daher heißt vom Reich Gottes reden sich in Bescheidenheit üben.

Und zugleich ist für mich alle Rede vom Reich Gottes ein Sprechen in Selbstbewusstheit. Vor der Klammer steht: „Dies ist MEIN Blick, MEINE Perspektive, MEINE Sicht der Dinge, MEIN Weg … Und dazu stehe ich auch, bis mich etwas Anderes mehr überzeugt!“ Und ich bin mir dessen sehr bewusst, dass es unendliche viele andere Wege, andere Perspektiven usw. gibt. Indem ich mir meiner Relativität bewusst bin, höre ich auf, meinen Standpunkt absolut zu setzen.

Dazu bedarf es eines starken und mutigen Ichs. Ein starkes und mutiges Ich zeichnet sich dadurch aus, dass es in gutem Einverständnis mit alledem ist, was es nicht weiß und nicht kann. Dass es nicht gekränkt ist, wenn offenbar wird, was es nicht weiß und nicht kann.

Wir leben in einer Zeit, die dem eigenen Gekränkt-Sein sehr viel Raum einräumt. Gekränkt-beleidigtes Sich-zurück-Ziehen aber verunmöglicht weiteres Lernen. Verunmöglicht Entwicklung und weitere Erkenntnis. Es ist derselbe Fehler, den Menschen mit Kreuzschmerzen machen: Sie meinen, sich etwas Gutes zu tun, indem sie in eine Schonhaltung gehen, sich wenig oder gar nicht mehr bewegen.

Das Gegenteil ist der Fall!

Es geht um ein gesundes, durchaus liebevolles sich Fordern. Andernfalls wird man körperlich wie seelisch immer schwächer, hält immer weniger aus. Es geht darum, die eigene Unlust zu akzeptieren ohne ihr allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken.

„Alt-werden ist nichts für Feiglinge!“ sagt die Hollywood-Diva Mae West.

Dasselbe gilt für das Reich Gottes: Es ist nichts für Feiglinge!

„Und wann kommt es jetzt?“

Diese Frage will oder kann sich von den Predigtgedanken nicht erreichen lassen.

Sie verweigert den Weg in die Dunkelheit.

Das Reich Gottes ist als Möglichkeit jederzeit mitten unter uns. Die einzige Frage ist, ob wir je und je stark und mutig genug sind, es auch zu verwirklichen.

Es wird dann Wirklichkeit, wenn wir es wagen, unsere vertrauten und uns Halt gebenden Muster und Strukturen in Frage zu stellen. Wenn wir es wagen, uns selbst ein wenig über die Schulter zu schauen. Wenn wir es wagen, neugierig auf uns selber zu werden. Das geschieht immer dann, wenn ich mich auf etwas einlasse, dem ich bislang ausgewichen bin. Nur so kann ich ja eine neue Erfahrung machen.

Und eine neue Erfahrung muss nicht immer angenehm sein. Auch das ist eine Täuschung, zu meinen, das Reich Gottes sei ein Schlaraffenland, in dem endlich meine Wünsche alle erfüllt werden. Es hat sich schon sehr viel verändert, wenn es gelingt, mir meiner eigenen Wünsche und Sehnsüchte ein wenig bewusster zu werden. Und natürlich auch meiner eigenen Enttäuschungen.

Das alles meine ich mit selbst-bewusst: sich seiner selbst bewusst sein.

Und all dies in einer liebevoll-neugierigen Haltung: zu mir selbst und zu allem, was mich umgibt. Denn „daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt“ sagt der Christus des Johannesevangeliums (13, 35).

Lieben aber heißt nicht verwöhnen. Weder sich selbst noch den Andern. Es ist schön, wenn mir ein Wunsch von meinen Augen abgelesen wird. Aber es muss kein Zeichen von Liebe sein.

Lieben heißt, mich selbst und den Anderen wahrnehmen, ernst nehmen, respektieren.

Und zwar an genau den Stellen, wo Verschiedenheit und Anders-Sein deutlich wird. Im Reich Gottes ist genug Platz: für mein Eigen-Sein und für das Eigen-Sein meiner Mitgeschöpfe. „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“, hat Albert Schweitzer gesagt. Das ist ein echter Reich-Gottes-Satz! Auch der Löwe will leben – und zu seinem Löwe-Leben gehört es, die Antilope zu jagen, zu töten und zu fressen. Das ist nicht böse – das ist das Eigen-Sein des Löwen.

So gesehen ist das Reich Gottes etwas sehr Nüchternes.

Und weit weg von der Vorstellung eines Paradieses, in dem Löwe und Lamm nebeneinander lagern. Das ist kein Reich Gottes, sondern Ausdruck einer tiefen Sehnsucht nach einer Harmonie, die auf und in dieser Welt nicht verwirklicht ist.

Und wenn wir nicht einer unrealisierbaren Sehnsucht hinterherlaufen wollen, bleibt uns ob wohl oder übel nichts anderes übrig, als diese unsere Welt so zu nehmen wie sie nun einmal ist. Und das Beste daraus zu machen.

Und am Naheliegendsten ist es, damit bei sich selbst anzufangen.

Denn, so wie es keine andere Welt gibt, so gibt es auch mich nur so, wie ich gerade bin. Und nicht so, wie ich (vielleicht) gerne wäre. Oder wie andere mich gerne hätten.

Ich bin … ein winziges Sandkorn im unendlichen Getriebe dieser Welt – damit beginnt der dunkle Weg zu Gott. AMEN.

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Predigt am 17. Sonntag nach Trinitatis über Jesaja 49, 1-7 (9. 10. 2022)

Heute geht es um Glauben.

Klar – irgendwie geht es in einem Gottesdienst immer um Glauben.

Aber heute steht er im Zentrum:

„Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.“ So lautet der Wochenspruch.

Wir haben also gesiegt!

„We are the Champions … “

Wirklich?

Sehen so Sieger aus?

Also – ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht – aber mir widerstreben derart vollmundige Sätze! Ich weiß aus persönlicher Erfahrung und aus meiner therapeutisch-seelsorgerlichen Arbeit: Ganz so einfach geht das nicht. Zum einen maße ich mir nicht an, zu wissen, unter welchen Bedingungen jemand gerettet, gerecht oder selig werden kann. Zum andern vermute ich, dass gerade solche vollmundigen Sätze es sind, die zur Unglaubwürdigkeit von Predigern und ihrer Verkündigung beitragen.

Die Unglaubwürdigkeit solcher Sätze hat direkt mit der Haltung derer zu tun, von denen sie ausgesprochen werden.

Je überheblicher – desto weniger glaubwürdig.

Und noch eines: Wo es Sieger gibt, gibt es notwendig auch Verlierer.

Es war unter anderem Martin Luther, der mit seiner „theologia crucis“ versuchte, die Unglaubwürdigkeit und Überheblichkeit seiner Kirche (Stichwort: ecclesia triumphans) in eine neue Glaubwürdigkeit zu verwandeln. Populär verkürzt könnte man Luthers Kirchenkritik mit den Worten von Heinrich Heine so zusammenfassen: Die Würdenträger „predigen Wasser und trinken Wein“. Etwas differenzierter: Nach den Maßstäben, in denen diese unsere Welt misst, war Jesus ein Verlierer. Oder mit Paulus: Es war eine Torheit, sich kreuzigen zu lassen.

Unser heutiger Predigttext handelt von einem Mann, der sich wohl auch als ein „Narr Gottes“ (1. Korinther 4, 10) gefühlt hat. Er stellt sich in dem zu predigenden Abschnitt selbst vor:

1 Hört mir zu, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne, merkt auf! Der HERR hat mich berufen von Mutterleibe an; er hat meines Namens gedacht, als ich noch im Schoß der Mutter war. 2 Er hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht, mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt. Er hat mich zum spitzen Pfeil gemacht und mich in seinem Köcher verwahrt. 3 Und er sprach zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, durch den ich mich verherrlichen will. 4 Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz. Doch mein Recht ist bei dem HERRN und mein Lohn bei meinem Gott. 5 Und nun spricht der HERR, der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht bereitet hat, dass ich Jakob zu ihm zurückbringen soll und Israel zu ihm gesammelt werde – und ich bin vor dem HERRN wert geachtet und mein Gott ist meine Stärke –, 6 er spricht: Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen, sondern ich habe dich auch zum Licht der Völker gemacht, dass mein Heil reiche bis an die Enden der Erde.“

Eine kurze Zwischenbemerkung zum Zusammenhang, in dem dieser Text steht. Es ist das zweite sogenannte „Lied vom Gottesknecht“. In ihm stellt sich der „Knecht Jahwes“ – so bezeichnet er sich selbst – vor, während er im ersten Lied von Jahwe vorgestellt worden ist. („Seht, mein Knecht, den ich stütze, mein Erwählter…“ (Jes. 42,1 – dieser Text ist dem 1. Sonntag nach Epiphanias zugeordnet.)

Die Selbstvorstellung des Knechtes beginnt mit dem Hammer-Satz: Jahwe hat mich von Mutterleibe an berufen, hat seinen Mund zu einem scharfen Schwert geformt; er selbst sei ein spitzer Pfeil im Köcher Gottes.

Das ist alles ganz schön kriegerisch! Und wozu das Ganze?

„Und er sprach zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, durch den ich mich verherrlichen möchte!“

„Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz.“

Dieser Satz erreicht mich. Oft denke ich mir: Wozu predigst du eigentlich? Oder wozu gibst du dir so eine Mühe, einigermaßen ökologisch verantwortungsvoll zu leben? Wozu? Und dann tauchen in meiner Fantasie „die Anderen“ auf – die in meinen Augen sich keine Mühe geben … Die ihre SUVs fahren, mit dem Flugzeug in aller Herren Länder fliegen, ihr Fleisch essen, und und und… Darauf angesprochen bekomme ich einen verständnislosen Blick und die Antwort: Das machen die Anderen doch auch. Und dann werde ich zornig, „erhebe“ mich über die Anderen, über meine Mitmenschen („Ich bin besser als ihr …!“) Und indem ich das tue, entferne ich mich immer weiter von dem Gott, den ich glaube, dem ich vertraue. Und dann stürze ich ab in Gefühle der Sinnlosigkeit: es hat doch eh alles keinen Sinn, und die Menschen sind doch gar nicht in der Lage, sich zu ändern.

 

Auf die Selbsterhöhung folgt der Absturz in die Selbsterniedrigung, auf die Manie folgt die Depression. Diese Bewegung findet sich auch sehr schön in unserem Text: Der Prophet versucht sich damit zu trösten, dass er sich von Gott berufen fühlt. In ihm, in seiner Botschaft will sich der Allmächtige verherrlichen. Seine Aufgabe ist nicht nur, das Volk Israel zu sammeln und die „Zerstreuten Israels wiederzubringen“ – seine Aufgabe ist viel universeller, viel großartiger:

„Ich habe dich auch zum Licht der Völker gemacht, dass mein Heil reiche bis an die Enden der Erde.“

Ich merke: Ich kann diesen Gedanken, dieser Botschaft, für mich persönlich keinen Trost abgewinnen. Sie hilft mir nicht, aus meinen Sinnlosigkeits-Löchern herauszufinden. Aber sie erinnert mich daran, wie nahe sie mir gewesen ist, als ich jung war. Genau mit diesen Gedanken habe ich versucht, meine depressiven Gefühle zu bekämpfen: Ich wollte mir einen Namen machen, ich wollte berühmt werden, indem ich mir z.B. einen berühmten Doktorvater suchte usw.

Und ich habe lange dafür gebraucht zu lernen: Das, was die Anderen, die Gesellschaft in mir sieht: es nährt mich nicht wirklich! Es macht mich nicht satt. Prestige, Status, Titel usw. das alles ist emotionales Junkfood. Man schlingt es gierig in sich hinein, für kurze Zeit wird die innere Leere zugedeckt, um sich dann umso hartnäckiger wieder zu melden.

Das ist der Suchtkreislauf: Junkfood macht nicht satt – Junkfood macht abhängig!!!

Sättigend ist allein die Verbindung zur eigenen Wahrheit, sättigend ist die Erkenntnis, dass ich so und nicht anders geworden bin.

„Die Wahrheit macht Euch frei“, sagt der Johanneische Christus.

Alle Ängste entstehen in der Täuschung, im Sich-selber-etwas-Vormachen.

„Ich aber dachte,ich arbeitete vergeblich und verzehrte mein Kraft umsonst und unnütz.“ (V. 4a) Ich vermute, diesen Satz kennt jeder, der mit Leidenschaft seinen Beruf ausübt: sei es der Lehrer/Erzieher, sei es der Pfarrer, es es der Therapeut. Wer in diesem Gefühl erstarrt, der wird verbittern: Ich habe so viel gegeben – und was habe ich bekommen?

Erst wenn ich mich selber finde in meinem Leben, wenn ich mir eingestehen kann, es gibt eine Tiefe, in der ich dies alles für mich tue, bzw. getan habe, erst dann werde ich wirklich frei. Jede einzelne Entscheidung meines Lebens, egal ob sie groß oder klein war, gut oder schlecht gewesen ist – es ist meine eigene Entscheidung gewesen!

„Der Herr hat mich berufen … “ stimmt – und: Ich habe mich berufen lassen.

Spirituelles Denken neigt dazu, sich freiwillig in eine Abhängigkeit hinein zu begeben. Und so weigert es sich, sich dem Strom des Lebens zu überlassen. Paulus hat mit seiner Idee, dass wir alle „Kinder Gottes“ sind, diese Art zu denken auf den Punkt gebracht.

Möglicherweise sind wir Menschen ja darin überfordert, erwachsen zu werden. Erwachsen sein heißt für mich, Verantwortung für das eigene Denken und Handeln zu übernehmen und nicht länger anderen eine „Schuld“ in die Schuhe zu schieben. Erwachsenes Denken hat gelernt, dass eigene „Fehler“ einzugestehen, eigene Schwächen anzuerkennen, mich nicht vernichtet. Im Gegenteil: Diese Fähigkeit macht stark.

Gesundes und verträgliches Miteinander-Leben in Gruppen, in Familien, in Gemeinden entsteht überall da, wo Menschen bereit sind, ihren eigenen Anteil an einem Konflikt auf sich zu nehmen. Das können Kinder nicht. Es setzt nämlich die Fähigkeit voraus, sich selbst ein wenig über die Schulter zu schauen, sich selbst ein wenig „von außen“ zu betrachten.

Es ist vor allem eine Frage des Mutes, an diesen Punkt zu kommen.

Und es ist eine Frage des Vertrauens, dass – wenn ich mich ehrlich kennen lerne und zu mir stehe – ich nicht verurteilt werde. Weder von mir selbst noch von Anderen.

Es ist das Gegenteil dessen, was ein französisches Sprichwort meint:

„Qui s’excuse, s’accuse.“

In dieser Haltung bleibe ich vereist.

 

Dahinter steht Luthers drängend Frage: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“

Seine Erkenntnis: Ich bekomme ihn geschenkt, kann ihn mir nicht machen. Dies hat Luther „Rechtfertigung“ genannt. Eine Rechtfertigung, die sich niemand von uns selber geben kann. Die ich nur im Vertrauen empfangen kann.

Und das ist für denjenigen, der versucht, aus seiner eigenen Stärke heraus zu leben, unerträglich.

So gesehen stimmt es: „Unser Glaube, unser Vertrauen ist der Sieg, der die Welt überwunden hat … “ AMEN.

Predigt am 17. Sonntag nach Trinitatis über Jesaja 49, 1-7 (9. 10. 2022) Read More »

Predigt über Jesaja 12 am 14. Sonntag nach Trinitatis (Thomaskirche Grünwald)

Liebe Gemeinde,

„Sind nicht die zehn rein geworden? Wo sind aber die neun?“

So fragt Jesus in unserem vorhin gehörten Evangelium.

„Hat sich sonst keiner gefunden, um Gott die Ehre zu geben?“

Es geht um Dankbarkeit.

Indem ich ehrlichen Herzens „danke“ sage, erkenne ich an, etwas bekommen zu haben, das ich mir selbst nicht habe geben können. Ich habe mir etwas schenken lassen. Das setzt Offenheit voraus. Und die Anerkenntnis, dass ich nicht alles selber machen kann. Dass der Andere auch etwas weiß, etwas kann.

„Lehre mich Herr, an anderen Menschen unerwartete Talente zu sehen, sie zu fördern und verleihe mir die schöne Gabe, sie auch zu erwähnen“, heißt es in einem Gebet von Theresa von Avila.

Ich habe etwas bekommen, das ich mir selber nicht geben konnte. Damit stehe ich auch in der Schuld des Anderen. Ein weiteres unangenehmes Gefühl. Man bleibt nicht gerne etwas schuldig. „Ich werde mich revanchieren“, sagt man dann. So als müsste man sich dafür rächen, etwas geschenkt bekommen zu haben…

„Wo sind die neun?“ fragt Jesus. Ist er so bedürftig, so darauf angewiesen, dass man sich bei ihm bedankt?

Das gibt es auch. Das hieße: „In der Tiefe habe ich dir das und das gegeben, damit du siehst, wie gut ich zu dir bin! Mehr noch: Wie gut ich überhaupt bin!“ Das sind die Menschen, die sich für Andere aufopfern – aber bitte, es muss auch etwas zurück kommen. „Mama, ihm schmeckt’s nicht!“ So was geht gar nicht. Jetzt habe ich mir so eine Mühe gegeben, und dir schmeckt es nicht!

„Gott die Ehre geben!“ sagt Jesus. Nicht: Das Mindeste wäre doch, sich bei mir zu bedanken. Das ist die narzisstische Ebene: „Ich habe dir oder ihm oder der Institution Kirche so viel gegeben – und was ist der Dank dafür?“ Wer in dieser narzisstischen Ebene stecken bleibt, der steht in großer Gefahr zu verbittern. In der Tiefe geht es nicht um Gott, der immer der fremde Dritte ist („Ich bin, der ich bin …“) sondern um den eigenen Selbstwert. Um seine Stabilisierung.

In unserem heutigen Predigttext – aus dem Buch des Propheten Jesaja – geht es auch um Dankbarkeit, je er ist ein Danklied, ein Dankpsalm. Sein Kontext sind die katastrophalen Erfahrungen, die Israel gerade macht. Sein König Ahas biedert sich (mit viel Geld) bei den mächtigen Assyrern an, mit dem Erfolg, dass Israel zu einem Vasallen der Assyrer wird. Der König übernimmt sogar religiöse Praktiken der Assyrer, was ihm den Zorn des Propheten Jesaja einbringt. Jesaja ist der Meinung, Israel solle auf auf jede Form menschlichen Paktierens und Taktierens verzichten. Die einzige Hoffnung ist „Gott allein“. Und damit verbunden die Hoffnung auf das Kommen eines gerechten Königs. So heißt es kurz vor unserem Predigttext: „Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais (Isai ist der Vater von König David.) und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen“ (Jesaja 11, 1) Sie kennen diesen Text: Es ist die erste Strophe von: „Es ist ein Ros entsprungen, aus einer Wurzel zart …“

Jesajas Botschaft bewegt sich somit stets zwischen Hoffnung und Verzweiflung.

Und inmitten dieser Bewegung taucht nun unser heutiger Predigttext auf, ein Danklied:

Das Danklied der Erlösten

1 Zu der Zeit wirst du sagen: Ich danke dir, HERR! Du bist zornig gewesen über mich. Möge dein Zorn sich abkehren, dass du mich tröstest. 2 Siehe, Gott ist mein Heil, ich bin sicher und fürchte mich nicht; denn Gott der HERR ist meine Stärke und mein Psalm und ist mein Heil. 3 Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus den Brunnen des Heils. 4 Und ihr werdet sagen zu der Zeit: Danket dem HERRN, rufet an seinen Namen! Machet kund unter den Völkern sein Tun, verkündiget, wie sein Name so hoch ist! 5 Lobsinget dem HERRN, denn er hat sich herrlich bewiesen. Solches sei kund in allen Landen! 6 Jauchze und rühme, die du wohnst auf Zion; denn der Heilige Israels ist groß bei dir.

Im Grunde sind es zwei Danklieder: Das erste geht von Vers 1 – 3, das zweite von Vers 4 – 6.

Das erste beginnt mit einer merkwürdigen Verbindung: „Ich danke dir, Herr! Du bist zornig über mich gewesen.“

Ein Dank für den Zorn Gottes? Ist da nicht was verdreht?

Kann ich jemand dankbar sein, der sauer auf mich ist?

Der die Beziehung zu mir abgebrochen hat, kein Interesse mehr an mir hat?

Wohl eher nicht.

Aber gibt es auch einen anderen Zorn? Einen Zorn der mir die Augen öffnet?

Ich finde es zum Beispiel schwer auszuhalten, mit anzusehen, wie jemand seine Talente und Begabungen liegen lässt. Oder auch wie jemand sich gehen lässt. …

Wobei sich natürlich sofort die Frage stellt: Was halte ich denn da nicht aus?

Es ist doch nicht mein Leben. …

Und woher weiß ich, was für den Anderen gut und was für den Anderen schlecht ist?

Ich fürchte, in unserer unbewussten Tiefe ist es so, dass unser Zorn, auch der vermeintlich „gerechte Zorn“, sehr viel mehr über uns selbst aussagt und mit uns selbst zu tun hat, als wir wahrhaben wollen.

Dazu gibt es eine Geschichte von Rumi:

„Ein vernünftiger Mann sagte zu Jesus: ‚Was ist im Leben am Schwersten zu ertragen?‘

Der antwortete: ‚O mein Lieber, das Schwerste ist Gottes Zorn; die Hölle zittert ebenso davor wie wir.‘

Er sagte: ‚Wie kann man sich vor Gottes Zorn schützen?‘

Jesus sagte: ‚Wenn du deinen eigenen Zorn sofort aufgibst.'“

Und Rumi fährt überraschend aktuell fort:

„Wenn deshalb der Zorn sich im Polizisten niederlässt, übertrifft er in seiner Hässlichkeit sogar den Zorn eines wilden Tieres. Welche Hoffnung auf Gottes Gnade bleibt ihm, wenn sich dieser unbegabte Mensch nicht von seiner schlechten Eigenschaft trennt?“

Und dann differenziert er: „Obwohl die Welt nicht ohne solche Leute auskommt, ist diese Feststellung geeignet, die Hörer in die Irre zu führen.

Die Welt kann auch nicht ohne Urin auskommen, aber Urin ist kein quellendes Wasser.“

Ich verstehe das so: Unter den Bedingungen des Lebens in dieser unserer Welt, und wir haben keine andere, gibt es Zorn und muss es Zorn geben. Ein guter Polizist verwendet seinen Zorn dafür, die staatliche Ordnung und damit unser menschliches Zusammenleben zu schützen. Ich würde dafür eigentlich lieber Aggression sagen. ABER: Ein guter Polizist lässt sich von seinem Zorn nicht überfluten und nicht dazu hinreißen, Sätze zu sagen oder Sachen zu machen, die seine Mitmenschen entwürdigen. Wenn er selbst zuschlägt oder jemand aus Zorn erschießt, ist er gerade zu dem geworden, vor dem er uns, die Gesellschaft schützen sollte. (Dieses Beispiel lässt sich auch auf einen guten Politiker, einen guten Lehrer oder auf gute Eltern anwenden.)

Etwas unscharf ausgedrückt: Lass ich mich von meinem Zorn, schlimmer noch Hass „hinreißen“?. Dieses „Sich-Hinreißen-lassen“ ist Ausdruck davon, dass wir unerträgliche Ohnmachtsgefühle nicht länger ertragen können. Eine innere Stimme flüstert mir ins Ohr: Das musst du dir nicht bieten lassen! Endlich geht ein Ventil für den lange unterdrückten Zorn auf. Endlich stimmt meine Moral mir zu: „Jetzt darfst du zuschlagen …“

In der Geschichte gibt es unendlich viele Beispiele für diese Dynamik. Zunächst wird dem Anderen sein Wert, seine Würde, seine Daseinsberechtigung abgesprochen und damit wird die Erlaubnis gegeben, ihn zu quälen, zu foltern und am Ende zu vernichten …

„Wie man sich vor Gottes Zorn schützen?“

„Indem du deinen eigenen Zorn sofort aufgibst“ sagt Jesus bei Rumi.

Prostest!

Dann entwaffne ich mich ja freiwillig und stehe wehrlos da. Hätte die Ukraine ihren Zorn auf die russische Invasion sofort aufgegeben, wäre sie eingenommen worden. Ich muss mich doch verteidigen. Und es muss eine wachsame Polizei geben, die unsere Demokratie schützt.

Sie merken, das Thema ist ganz schön komplex.

„Was heißt das denn: „Sich von seinem Zorn trennen?“

Das heißt: Die Fähigkeit zu behalten, sich nicht von seinem Zorn hinreißen zu lassen. Wut macht dumm! Und dumm heißt in diesem Fall:

Der nüchterne Blick auf das „Ganze“ geht verloren. In meinem Zorn sehe ich nur mehr einen Ausschnitt des Ganzen und halten ihn aber für das Ganze.

Anders ausgedrückt: Ich nehme einen Teil für das Ganze. Ich setzte einen Teil absolut. Damit aber geht die gute und gerechte Ordnung, in der jeder und jede den für sie oder ihn passenden Platz hat, verloren. Als Menschen aber ist es unsere Aufgabe, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken. Dieser Blick bereichert meine Sichtweise und relativiert sie in einem.

Es ist letztlich eine Frage des Platzes, den mein Denken zur Verfügung stellt. Habe ich genug Denk-Raum, auch (für mich) sehr fremde Gedanken an mich heranzulassen? Und: Habe ich genug Trost-Raum, mich an meiner „Sicht der Dinge“ zu erfreuen, auch und gerade, wenn diese Sicht andere Menschen nicht interessiert? Je mehr Raum, je mehr Weite in meinem Denken entsteht, desto überflüssiger wird Zorn. Wenn mich das Anders-Denken, das Anders-Aussehen, das Anders-Sein des Anderen nicht bedroht, warum sollte ich dann zornig werden?

Und genau da kommt Gott ins Spiel. Gott ist unendliche Weite. Gott ist das Wort für die letzte, alles umfassende Ganzheit. Eine Ganzheit, zu der wesentlich gehört, dass sie unerkennbar ist, so wie Gott selbst unerkennbar ist. Wir Christen glauben aber, dass dieser unerkennbar weite Gott sich in ganz besonderer Weise in Jesus Christus bekannt gemacht, christlich „geoffenbart“ hat. Wir Christen glauben, dass Gott in diesem einmaligen und besonderen Menschen Jesus uns Menschen so nahe gekommen ist, dass wir es wagen, von seinem „Sohn“ zu sprechen. Mehr noch: Dass wir es wagen, ihn „unseren Bruder“ zu nennen.

Das ist der Trost, den unsere beiden Danklieder heute anbieten:

„2 Siehe, Gott ist mein Heil, ich bin sicher und fürchte mich nicht; denn Gott der HERR ist meine Stärke und mein Psalm und ist mein Heil.“

Indem ich dieses Danklied bete, erkenne ich meine Bedürftigkeit an. Und erkenne mein Angewiesen-Sein auf eine Kraft, auf eine Macht, auf eine Energie an, die ich mir nicht selbst geben kann. Wenn ich dies als „unannehmbar“ erlebe, wenn mein Anspruch an mich selbst und an mein Leben mir sagt, du musst aus dir heraus schöpfen, du darfst auf keine andere Kraft angewiesen sein, dann kann ich auch nicht dankbar sein. „Ich habe mir alles selbst aufgebaut. Wenn überhaupt, dann habe ich Grund, mir selbst dankbar zu sein“, sagt diese Stimme. Je mehr Denk-Raum ich dieser Stimme überlasse, desto verbitterter wird mein Leben werden.

Fehlende Dankbarkeit, Enttäuschung und Verbitterung gehören zusammen. Die gemeinsame Quelle, aus der heraus sie fließen ist Hass und aufs engste damit verbunden Neid. Genau hier kommt unsere Freiheit ins Spiel. Es stimmt: Das Erleben von Dankbarkeit lässt sich nicht machen. Genauso wenig, wie das Erleben von Freude oder Schönheit oder Zufriedenheit. Und doch sind wir nicht völlig hilflos und an unserem Hass ausgeliefert.

Denn: Ich kann Einfluss darauf nehmen, wovon ich mich leiten lasse. Wen oder was ich als Wegweiser meines Lebens anerkenne. Auch Jesus konnte nicht verhindern, in der Wüste verführt zu werden. Die Wüste ist der Ort der Leere, wo scheinbar nichts ist. (Was ja in Wirklichkeit gar nicht stimmt!) Im übertragenen Sinne: Wenn ich mich einsam, ungetröstet und unverstanden fühle – da hat die Stimme des Verführers die größte Macht. Ihn entmachten heißt, ihm die Möglichkeit zu nehmen, mein Leben zu beeinflussen. Seinen Einflüsterungen am besten gar nicht zuzuhören. Sie ins Leere laufen lassen. Das setzt eine starke Beziehung zu einem „guten inneren Objekt“ voraus. Jesus lebte aus der Unerschütterlichkeit seiner Vater-Beziehung. Sein Vater war nicht nur irgendwo „da draußen“. Er war tief verankert in seinem Inneren. In dieser liebevollen Vater-Mutter-Beziehung verlieren Hass, Neid und das Bedürfnis nach Rache ihre Macht.

An ihre Stelle tritt das „Reich Gottes“. In ihm gilt: „Siehe mein Gott ist mein Heil, ich bin sicher und fürchte mich nicht … mit Freuden schöpfe ich Wasser aus den Brunnen des Heils … und ich danke ihm und lobsinge ihm der da wohnt bei mir…“ AMEN.

(Dr. theol. Lothar Malkwitz, Pfarrer im Ehrenamt und psychoanalytischer Therapeut)

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