Dr. Lothar Malkwitz

Predigt am 10. Sonntag nach Trinitatis (Israelsonntag) 2020

Am Tag der Zerstörung“

Liebe Gemeinde,

unser heutiger Sonntag heißt Israelsonntag. Gedacht als Erinnerungssonntag. Er steht zeitlich in Zusammenhang mit dem jüdischen Festjahr, und zwar dem 9. Aw. Aw ist in dem von Israel übernommenen babylonischen Kalender der 5. Monat im Jahr. (Er liegt zwischen Juli und August nach unserer Zählung.) Am 9. Aw erinnert sich die jüdische Gemeinde traditionell der Zerstörung des „ersten Tempels“ von Jerusalem 586 v.Chr., der Zerstörung des „zweiten Tempels“ 70 n.Chr., der blutigen Niederschlagung des Bar-Kochba-Aufstandes 135 n.Chr. und der Vertreibung der Juden aus Spanien 1492. Erst der Holocaust hat in unseren Tagen einen eigenen Gedenktag erfordert.-

Das sind alles keine schönen Erinnerungen, an denen wir heute in Solidarität mit unseren jüdischen Brüdern und Schwestern teilhaben. Hinzu kommen unsere eigenen Erinnerungen an Leid, das wir Anderen zugefügt haben und Leid, das wir selbst zu ertragen hatten. Und das alles gilt nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch und besonders für die Gegenwart: Es gibt keine Gegenwart ohne Leid in dieser Welt – ohne Leid, das wir zufügen – sei es Anderen, sei es uns selbst; – und ohne Leid das wir zu ertragen haben, das uns zugefügt wird.

Und wie geht die jüdische Gemeinde mit solch leidvollen Erinnerungen um?

Nun … – sie erzählen einander Geschichten. Dahinter steht die Idee, dass von Geschichten etwas Heilsames ausgehen kann. Vorausgesetzt, wir lassen uns mit Herz und Seele auf sie ein. Ansonsten bleibt es bei einer „erbaulichen“ Geschichte. Wellness ohne Tiefgang.

Ich möchte heute über eine Geschichte predigen, die gerne am 9.Aw erzählt wird. Martin Buber hat sie in seinen „Chassidischen Erzählungen“ gesammelt.

Sie lautet:

Am Tag der Zerstörung

Man fragte Rabbi Pinchas: ‚Warum soll, wie uns überliefert ist, der Messias am Jahrestag der Zerstörung des Tempels geboren werden?’

Das Korn’, sprach er, ‚das in die Erde gesät ist, muss zerfallen, damit die neue Ähre sprieße. Die kraft kann nicht auferstehen, wenn sie nicht in die große Verborgenheit eingeht. Gestalt ausziehen, Gestalt antun, das geschieht im Augenblick des reinen Nichts. In der Schale des Vergessens wächst die Macht des Gedächtnisses. Das ist die Macht der Erlösung. Am Tag der Zerstörung, da liegt die Macht auf dem Grunde und wächst. Darum sitzen wir an diesem Tag am Boden, darum gehen wir an diesem Tag auf die Gräber, darum wird an diesem Tag der Messias geboren.“

Man fragte Rabbi Pinchas so fängt die Geschichte an.

Es ist unüblich, dass „man“ fragt. Üblicherweise weiß „man“; was zu tun und zu lassen ist. „Man“ kennt den neusten Trend, „man“ weiß, was gerade angesagt ist. Wer keine Fragen stellt, will auch keine Antworten. Wird „man“ konfrontiert mit der Frage nach tieferem Sinn, wird „man“ gereizt. „Das macht man halt so“, ist die Nicht-Antwort. Man funktioniert ungedacht-routiniert, im Schwarm. Nur nicht auffallen! Nur nicht persönlich, nur nicht wesentlich werden!

Wenn unsere Geschichte mit „man fragte“ beginnt, ist das schon sehr ungewöhnlich. Wahrscheinlich hat es damit zu tun, dass von der Geburt des Messias erzählt wird.

Man ist immer auf der Suche nach einem „Messias“ – einem, den man bewundern kann, einem Star. Auch hier geht es keinesfalls um Persönliches. Man schwimmt auf der Welle mit. Hauptsache, es gibt jemand, der die Welle in Gang bringt. Wer der Trendsetter ist, ist dem „Man“ völlig egal. Hauptsache er garantiert Gefühle von „Dazugehören“, „Dabeisein“, „mitschwimmen“ … und darin „hype“ sein. Von daher ist es völlig unverständlich, wenn die Geburt dieses Messias mit Zerstörung verbunden wird. Das versteht „man“ nicht. Und so kommt es zu der Frage:

Warum soll, wie uns überliefert ist, der Messias am Jahrestag der Zerstörung des Tempels geboren werden?

Natürlich drückt sich in der Frage des Man seine gelernte Art zu denken aus, wie „man denkt“: in Kausalität (warum), in Raum (Tempel) und Zeit (am Jahrestag). Kausalität, Raum und Zeit sind durch „Zerteilungen“ (Spaltungen) entstanden. Diese sind Ausdruck keimend-differenzierenden Denkens: Das anfängliche „Ein und Alles“ in dem es „drunter und drüber“ geht, wird unterschieden in vorher und nachher, in innen und außen, in Ursache und Wirkung. So entsteht Ordnung. Ordnung, die davon lebt, dass das eine mit dem anderen nicht vermischt wird. Der Täter ist nicht das Opfer, innen ist nicht außen, vorher ist nicht nachher. In diese klare kausale Ordnung hinein passt kein Denken, dem zufolge der Messias am Jahrestag der Zerstörung des Tempels geboren werden soll. Geburt des Messias ist Heil, ist Erlösung, ist Freude pur. Zerstörung des Tempels ist Zerstörung der Identität, ist Strafe, ist Trauer, ist Zusammenbruch. Beides „in eins“ zu denken gefährdet die mühsam errungene stabilisierende Ordnung, die „man braucht, um zu (über)leben“. Die vermeintliche Rettung ist das „Warum?“ zu verstehen. Wenn man weiß, warum, ist die vermeintliche Sicherheit wieder hergestellt. Also wird: „Warum?“ gefragt.

(Es gibt noch einen weiteren Hinter-Grund für die „Warum?“-Frage: „Man“ ist beunruhigt. Was beunruhigt ist die „Überlieferung“. „Überlieferung“ ist Tradition – sie wird als Verbündeter des Man erwartet und gewertet: „Weil man das schon immer so gemacht hat…“ ist die Vermählung von Tradition und Man (Brauchtum). Das Man kann mühelos und ohne einen Hauch von Beunruhigung alles Neue ignorieren, aus der schlichten Begründung heraus, dem Neuen fehle die Tradition. Das Alte hingegen, das Überkommene, das Bewährte kann nicht einfach weggewischt werden; das käme einer Revolution gleich und Revolutionen sind dem Man fremd. So fragt das Man: „Was soll diese Tradition, die Zerstörung des Tempels mit Geburt des Messias zusammen fügt?“)

Und der Rabbi antwortet:

„’Das Korn’, sprach er. ‚das in die Erde gesät wird, muss zerfallen, damit die neue Ähre sprießt.’“

Mit dieser Antwort hat man nicht gerechnet, kann man nicht gerechnet haben.Der Antwortende scheint in Gedanken nicht da zu sein. Hat er die Frage überhaupt gehört? Was hat „das Korn, das in die Erde fällt…“ mit der Zerstörung des Tempels zu tun? Und was hat Beides mit der Geburt des Messias zu tun?

Gute Antworten verbünden sich nicht mit den Fragen. Gute Antworten werden selbst zu Samenkörnern, tragen Wachstumsmöglichkeiten in sich. Gute Antworten machen satt, indem sie selbst „ungesättigt“ sind. Der Lehrer, der „Zaddik“, „tut nichts statt deiner, was du schon selber zu tun erstarkt bist;“ sagt Martin Buber. „Er nimmt deiner Seele keinen Kampf ab, den sie selber bestehen muss, um ihr besonders Werk in der Welt zu vollbringen.“ Dies gelte auch und gerade „für die Beziehung zu Gott: Der Zaddik (Lehrer) hat seinen Chassisidim (Schüler) den unmittelbaren Zugang zu Gott zu erleichtern, nicht zu ersetzen.“1 (In Klammer: Es wäre günstig, wenn sich jede Pfarrerin und jeder Pfarrer am Beginn eines Gottesdienstes diesen Satz vor Augen führt! Er bewahrt vor Überheblichkeit.)

Rabbi Pinchas entkleidet die Frage ihrer kausalen Konkretheit und führt sie weiter – hinein in die dunkle Tiefe des Lebendigen selbst:

Die Kraft kann nicht auferstehen, wenn sie nicht in die große Verborgenheit hinein geht.“

Die heilsam-berührende Kraft hängt daran, wie weit sie das in der menschlichen Seele Verborgene erreicht. Hierfür muss sie in seine Seele „hinein-gehen.“ Dieses „Hineingehen“ ist ein Hinabsteigen: „hinabgestiegen in das Reich des Todes.“ Das Reich des Todes ist das Reich der Dunkelheit des Nicht-Wissens. Nicht-Wissen, was meine Predigt-Gedanken bei Ihnen auslösen. Nicht-Wissen, woher diese Gedanken kommen. „Es geschieht“ – „es geschehen lassen““: das ist es, was uns Menschen mit unserem überdimensionierten Gehirn solche Mühe bereitet.

Wirklich Neues, das in sich die Potenz zu Fruchtbarkeit trägt, entsteht aus der Dunkelheit. Es bleibt dem hellen Licht des Verstandes verborgen. Diese Verborgenheit will ertragen werden. Sie wird so ertragen, dass ich mich selbst davon abhalte, das bekannte „Licht des Verstandes“ einzuschalten. Nur im Dunkeln kann das „Leben der Dunkelheit“ wahrnehmend erkannt werden. Der Mystiker Dionysios Pseudareopagita hat das Bild des „Strahles der Finsternis“ geprägt. Dieser Strahl leuchtet, indem die blendenden Suchscheinwerfer unserer Rationalität ausgeschaltet worden sind. Dies ist unser Beitrag auf dem Weg zur Erlösung. Er besteht in einem Nicht-Tun: In einem Vermeiden, den naheliegenden Verstand zu gebrauchen.

Und Rabbi Pinchas fährt fort:

Gestalt ausziehn, Gestalt antun, das geschieht im Augenblick des reinen Nichts.

Das Weizenkorn zerfällt im dunklen Schoß der Mutter Erde. Solange es dazu nicht bereit ist, findet kein Wachstum, keine Entwicklung statt. Die Bereitschaft zum Zerfall, sich von Gott für Gott zerstören zu lassen – dies ist wohl der schwierigste Schritt auf dem dunklen Weg des Wachsens hin zu sich selbst und so zu Gott. „Reines Nichts“ macht Angst, panische Angst. Die Alten nennen es den „horror vacui“ – das Erschrecken des Erlebens, dass Nichts ist.

Dieser Schritt – weil so schwierig – ist besonders anfällig für Selbst-Betrug. Dann wird ein Phönix aus der Asche „gezaubert“, an die Stelle zerstörerischer Verwandlung tritt die Statik von „Ausziehen“ und „Anziehen“, von Verschwinden und Dasein, von Tod und Auferstehung. Wenn am Karfreitag schon klar ist, dass übermorgen Ostersonntag ist, werden die Gefühle der Ungewissheit vermieden. An die Stelle eines je und je von Neuem zu durch-leidenden Prozess tritt ein erstarrtes „Kippbild“. So wird der „Augenblick des reinen Nichts“ vermieden. So wird auch vermieden, wozu der Weg des lösenden Vergessens führt:

In der Schale des Vergessens wächst die Macht des Gedächtnisses.

Die Macht des Gedächtnisses entsteht in der Kraft des Sich-Erinnerns. Es ist das Nicht-Erinnerte, das scheinbar Nicht-Erinnerbare, das quält. Was nicht er-innert werden kann, kann nicht in die Person „hinein-genommen“ werden. Damit kann es nicht verdaut werden. Stattdessen blockiert und quält es gedächtnis- und gedankenlos. Eine nur scheinbare Befreiung ist das „Hinaus-Stoßen“, das im selben ein „Hinein-Stoßen“ in den „Anderen“ ist. So wird der Aus-Wurf zum Vor-Wurf an den Anderen.

Es geht um ein Wachsen der Erinnerung, des Gedächtnisses, der Sprache des Gedenkens, um es schließlich „gut sein lassen zu können“. (Beides stimmt: „gut sein lassen können“ und „gut sein lassen können“.) Die „Schale des Vergessens“ ist das „Containment“, innerhalb desser der echte Los-Lösungsprozess sich vollzieht. Der bekannte Spruch: „Kaum ist Gras über etwas Schlimmes gewachsen, schon kommt ein Kamel und frisst es weg“ – ist das Gegenteil dessen, was hier gemeint ist. In der Schale des Vergessens wird nichts mehr zugedeckt; von daher bedarf es auch keines „zudeckenden“ Grases.

Im Gedächtnis – und nur darin – geschieht jene äußerst schmerzhafte „Ver-Wandlung“. Es ist der Schmerz, der für viele Menschen diesen Weg unmöglich macht. Die Macht des Gedächtnisses ist die Macht, das erlebte Leid, den erlebten Schmerz „wieder“ zu sich zurück nehmen. Und zwar so, dass anerkannt wird: Dies war mein Weg, gerade so und nicht anders. Indem ich damit einverstanden werde, kann ich endlich die quälend-blockierenden „Spaltungen“ in Täter – Opfer gut sein lassen. Endlich muss ich keine Schuldigen mehr suchen und auch keine Rache mehr üben für das mir Zugefügte. Ich muss auch nicht mehr beleidigt sein und mih zurück ziehen. Und schließlich muss ich mich nicht mehr schuldig fühlen für das Leid, was ich Anderen zufügte. Für dieses Geschehen gibt es ein traditionelles Wort, über das leicht zu predigen, das schwer zu leben ist: Vergebung!

Endlich werde ich frei. Frei vor Gott. Frei für Gott.

Endlich, endlich kommt meine Seele nach Hause. Und dies ist nichts Anderes, als in Gott zu ruhen. Die Seele ist auf ihren eigenen Grund gekommen:

Das ist die Macht der Erlösung.

Am Tag der Zerstörung, da liegt die Macht auf dem Grunde und wächst.

Darum sitzen wir an diesem Tag am Boden, darum gehen wir an diesem Tag auf die Gräber, darum wird an diesem Tag der Messias geboren. AMEN.

1 Erzählungen der Chassidim, Zürich, S. 21.

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„Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein auf sie!“ (Predigt am 4. Sonntag nach Trinitatis 2022)

Liebe Gemeinde,

ich bin froh und dankbar, dass Menschen vor ich weiß nicht wie viel 1000 Jahren auf die geniale Idee gekommen sind, die Schrift zu erfinden.

Sie entlastet mein älter werdendes Gehirn erheblich und grenzt meine zunehmende Vergesslichkeit ein.

Indem ich mir etwas aufschreibe, „steht es da“. D.h., ich kann darauf zugreifen – vorausgesetzt freilich, ich habe nicht vergessen, wo der Zettel oder das Notizbuch liegt, auf den ich es mir aufgeschrieben habe.

Schrift hat also was mit der Idee von Beständigkeit zu tun, mit Dauer. Und damit (auch) mit Verlässlichkeit.

Ich habe heute über die einzige Stelle im NT zu predigen, die uns erzählt, dass Jesus geschrieben habe. Es ist zu vermuten, dass er des Schreibens nicht mächtig gewesen ist. Inwieweit er lesen konnte, wissen wir nicht. Und auch in dieser Stelle erfahren wir nicht, was er geschrieben hat. Es bleibt ein Geheimnis. Oder auch eine Leerstelle. Ich vermute, damit will der Autor unserer Geschichte etwas hervorheben, etwas markieren.

Aber eines nach dem anderen: Ich lese Ihnen jetzt erst mal die Geschichte vor: Sie steht bei Johannes im 8. Kapitel, die Verse 3 bis 11.

Die Schriftgelehrten und die Pharisäer aber bringen eine Frau, die beim Ehebruch ergriffen worden war, und stellen sie in die Mitte 4 und sagen zu ihm: Lehrer, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. 5 In dem Gesetz aber hat uns Mose geboten, solche zu steinigen. Du nun, was sagst du? 6 Dies aber sagten sie, ihn zu versuchen, damit sie etwas hätten, um ihn anzuklagen. Jesus aber bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde. 7 Als sie aber fortfuhren, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie. 8 Und wieder bückte er sich nieder und schrieb auf die Erde. 9 Als sie aber dies hörten, gingen sie, einer nach dem anderen, hinaus, angefangen von den Älteren; und er wurde allein gelassen mit der Frau, die in der Mitte stand. 10 Jesus aber richtete sich auf und sprach zu ihr: Frau, wo sind sie? Hat niemand dich verurteilt? 11 Sie aber sprach: Niemand, Herr. Jesus aber sprach zu ihr: Auch ich verurteile dich nicht. Geh hin und sündige von jetzt an nicht mehr!

Liebe Gemeinde,

ich will Ihnen an ein paar Gedanken Anteil geben, die mir gekommen sind, als ich mich auf diese Predigt vorbereitete:

Erstens:

„Sie sagten das, um ihn zu versuchen, damit sie etwas finden, um ihn anklagen zu können.“

Es ist wesentlich zu erkennen, welche (verborgene) Absicht/Strategie der Andere mit dem, was er sagt und/oder tut, verfolgt. Wenn jemand damit eine Strategie verfolgt, ist der offene Dialog zerstört. Der Dialog wird für Manipulation missbraucht. Er dient nicht mehr dazu, miteinander einen vernünftigen dritten Standpunkt zu erarbeiten. Er dient dazu, etwas über den Anderen zu erfahren, ohne dass ich das, was ich erfahren will, offen anspreche. Die Grundlage für diese Art des Miteinanders ist Misstrauen. Ich denke, wir alle kennen dies. Umgangssprachlich heißt das: „Nicht mit offenen Karten spielen.“ In einer Diktatur ist die Grundlage sozialen Miteinanders Misstrauen. Aber leider nicht nur dort. Inwieweit kann ich dem Anderen glauben, mich auf ihn verlassen, ihm vertrauen? Inwieweit kann ich mich auf mich selbst verlassen und mir vertrauen? Wie verführbar bin ich selbst? Wer versucht zu manipulieren, der ist auch selbst anfällig für Manipulation. Der verführte Verführer.

Zweitens: In unserer Geschichte geht es um Moral. Die Pharisäer, also das damalige religiöse Establishment, versuchen Jesus zu überführen als einen, der sich nicht an das von Mose gegebene Gesetz hält. Das ist verständlich: Er und seine Jünger erregen immer wieder Anstoß, wenn sie z.B. am Sabbat Ähren ausreißen, oder wenn Jesus am Sabbat Kranke heilt. Die Pharisäer von damals wie die Pharisäer von heute denken, es genüge, mechanisch sich an irgendwelche Regeln zu halten. Zur Zeit versteckt sich unter der Überschrift „gendern“ viel pharisäisches Gedankengut. Pharisäische Moral ist eine selbstgerecht gewordene Moral. Ein wesentliches Kennzeichen ist ihre Überheblichkeit. Pharisäische Moral will sich selbst an die Stelle Gottes setzen, will selbst richten.“Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“ – von diesem Paulus-Wort hält pharisäische Moral nichts. Und sein Urheber, Paulus, hält sich selbst auch immer wieder nicht daran: Z.B. in seinen Hasstiraden im ersten Korintherbrief gegen jene, die in seinen Augen „Unzucht“ treiben.

Schließlich: Pharisäische Moral ist eine äußerliche Moral: Es genügt ihr, wenn jemand „von außen betrachtet“ nach bestimmten vorgegebenen Regeln lebt. Pharisäische Moral ist eine „Moral des schönen Scheins“.

Drittens: Von daher wird einmal mehr verständlich, wie anstößig ja skandalös Jesu Antwort gewesen sein muss – so Anstoß erregend, dass man übrigens unseren Text erst Jahrzehnte nach der Fertigstellung des Johannesevangeliums in das Evangelium eingefügt hat! Und was ist jetzt das Anstoß Erregende an Jesu Antwort?

Zunächst einmal antwortet Jesus überhaupt nicht! Er schweigt.

Er schreibt mit seinen Fingern in den Sand. Diese Geste unterbricht den Mechanismus der Verurteilung. Es ist ein break.

Aber – mehr noch – Es ist keine sinnlose Übersprungshandlung – sondern eine Handlung mit hohem Symbolgehalt:

Der schreibende Finger erinnert nämlich an den Gottesfinger, der auf dem Berg Sinai die beiden Tafeln beschrieben hat. Die 10 Gebote – von Gott eigenhändig geschrieben! Nur dass in unserer Geschichte nicht gesagt wird, was da geschrieben wird.

Und dann – nachdem die Pharisäer nicht aufhören Jesus zu bedrängen, fällt der berühmte Satz: ‘Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.’ Dadurch lenkt Jesus die Aufmerksamkeit von der Beschuldigten weg auf die Schuld der Beschuldiger. Denen, die meinen, den Gotteswillen genau zu kennen, wird klar, dass auch sie auf die Barmherzigkeit Gottes angewiesen sind. Mit diesem schlichten Satz läuft der Hass und das Richten der Pharisäer ins Leere. Das Geniale an diesem Satz ist, dass er weder Partei für die Frau noch für die Pharisäer ergreift. Stattdessen stellt er das moralisch-überhebliche Denken selbst in Frage.

Viertens: Ein persönlicher Einschub: Mir ist pharisäische Moral nicht fremd. Ich glaube, wer sich entscheidet Pfarrer – egal ob evangelisch oder katholisch – zu werden, den beschäftigt unausweichlich die Frage: „Was ist ein gutes Leben?“

Ich persönlich bin immer dann besonders gefährdet für moralische Überheblichkeit, wenn ich besonders empört bin über das Verhalten von jemanden Anderen. Und ich bin dann besonders empört, wenn dieses Verhalten meinen Idealen und meinen Werten nicht entspricht. Hinter meinen Idealen und meinen Werten aber ist meine Bedürftigkeit und meine Abhängigkeit versteckt. Genauer: Das Gefühl, dass der Andere durch ein bestimmtes Verhalten mich stabilisieren soll. Wenn er dies nicht tut, weil er in meinen Augen seinem Auftrag als Politiker oder Chef oder Pfarrer nicht gerecht wird, werde ich gehässig. Vor kurzem stieß ich auf den Satz:

„Sich über Andere aufregen ist so, wie wenn man selbst Gift trinkt und darauf hofft, daran würde der Andere sterben.“

Fünftens:

Am Ende unserer Geschichte bleiben die Ehebrecherin und Jesus übrig.

Augustinus sagt das so: „Nur zwei blieben zurück, die Erbarmenswerte und die Barmherzigkeit“ (misera et misericordia) sagt. Und damit bleibt die Frage übrig:

Kann die Erbarmenswerte die ihr gewährte Barmherzigkeit nehmen?

Dies klingt ganz einfach – und gehört doch zum Schwersten:

Im Letzten ist es die Fähigkeit, sich selbst zu vergeben.

Das Schwierigste ist nämlich nicht, dass Gott uns vergibt.

Gott ist die Vergebung – er kann gar nicht anders als zu vergeben.

Das Schwierigste ist, diese Vergebung an sich heran zu lassen.

Eben: sich selbst zu vergeben.

Und warum ist das so schwer? Weil es ein Angriff auf meine Identität ist. Auf meine Selbst-Definition.

Wenn ich mich als den oder die definiere, zu der oder dem wesentlich „betrügen“ gehört (oder lügen, oder stehlen, oder Gewalt anwenden…), dann werde ich dies auch tun. Und ich werde es mit schönreden: Steuerhinterziehung hat doch nichts mit Betrug zu tun – das machen doch alle. Eine Affäre haben: Wen verletze ich denn damit, solange es nicht aufkommt? Kann denn Liebe Sünde sein?

Unabdingbare Voraussetzung für die Möglichkeit, mich zu ändern, ist, dass ich mich erreichen lasse. Je narzisstischer ein Mensch ist, desto weniger lässt er sich erreichen. Für ihn ist jedes in Frage gestellt werden eine Kränkung seines Selbstwertes.

Sich in Frage stellen lassen heißt, bereit sein, Leiden auf sich zu nehmen.

Das ist der berühmte „Leidensdruck“, der Menschen in die Therapie führt. Ohne ihn ist therapeutisches, also auf Veränderung ausgerichtetes Arbeiten unmöglich.

Nur wer an sich selbst leidet, wird veränderbar.

Und nur wer veränderbar wird, wird vergebungsfähig.

Wichtig ist das „an sich selbst leiden“. Wer darunter leidet, wie die Anderen sind, und meint, die Lösung wäre es, dass sich die „Anderen“ ändern sollen – auch er ist nicht vergebungsfähig. Auch er kann mit dem Satz, „dir sind deine Sünden vergeben“, in der Tiefe nichts anfangen.

Sechstens:

Indem ich mir von Gott vergeben lasse, vergebe ich mir selbst. Blicke ich mit weichen barmherzigen Augen auf mich selbst, auf mein gelebtes Leben. Oder: Leuchtet in meinen Augen die Barmherzigkeit Gottes. Paulus hat das so gesagt: „Nun aber lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir!“ Und Dietrich Bonhoeffer hat gesagt: Christsein heißt, von der Auferstehung her zu leben.

Der Weg dorthin ist ein Leidensweg. Eine Passionsgeschichte, die mit der Kreuzigung des „alten Lebens“ endet. Die große Frage ist, ob damit auch der Lebensweg endet. Dann wäre die Kreuzigung keine Kreuzung, sondern eine Sackgasse.

Oder ob es ein danach, ein jenseits der Kreuzigung gibt.

Die große Frage ist, ob es eine Verwandlung meiner Erbärmlichkeit gibt.

Gott will nämlich nichts Anderes, als meine Erbärmlichkeit in seine Barmherzigkeit hinein verwandeln. Dieses Verwandelt-Werden fühlt sich an. Es hat nichts mit romantischer Harmoniesehnsucht zu tun. Es fühlt sich als ein schmerzhafter Transformationsprozess an.

In der christlichen Mystik wird dafür häufig das Bild des Feuers verwendet. Meister Eckhart z.B. beschreibt es so:

„Wenn das Feuer seine Wirkung tut und das Holz entzündet und in Brand setzt, so macht das Feuer das Holz ganz fein und ihm selbst ungleich und benimmt ihm Grobheit, Kälte, Schwere und Wässrigkeit und macht das Holz sich selbst, dem Feuer, mehr und mehr gleich; jedoch beruhigt, beschwichtigt noch begnügt sich je weder Feuer noch Holz bei keiner Wärme, Hitze oder Gleichheit, bis dass das Feuer sich selbst in das Holz gebiert und ihm seine eigene Natur und sein eigenes Sein übermittelt, so dass alles ein Feuer ist, beiden gleich eigen, unterschiedslos ohne Mehr oder Weniger. Und deshalb gibt es, bis es dahin kommt, immer ein Rauchen, Sich-Bekämpfen, Prasseln, Mühen und Streiten zwischen Feuer und Holz. Wenn aber alle Ungleichheit weggenommen und abgelegt ist, so wird das Feuer still und schweigt das Holz.“

Gebe Gott, dass wir den Mut und die Kraft aufbringen, uns immer tiefer hinein verwandeln zu lassen in Gottes Barmherzigkeit.

Gebe Gott, dass wir den Mut und die Kraft aufbringen, das göttliche Feuer seiner Liebe zu uns zu ertragen – solange, bis unser Herz in Liebe zu Gott erglüht und es keinen Unterschied mehr gibt zwischen Gott und uns, AMEN.

„Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein auf sie!“ (Predigt am 4. Sonntag nach Trinitatis 2022) Read More »

Predigt an Trinitatis 2022 über die „dritte Dimension“ (Römer 11, 33-36)

Liebe Gemeinde,

Sonntag Trinitatis.

Wir feiern heute die Trinität Gottes.

Einer in Drei. Auch Drei in Einem.

Diese Idee eignet sich – wie so Vieles Spirituelle – für Spott und Häme.

„Mein Freund, die Kunst ist alt und neu.

Es war die Art zu allen Zeiten,

durch drei und Eins, und Eins und Drei

Irrtum statt Wahrheit zu verbreiten.

So schwätzt und lehrt man ungestört;

Wer will sich mit den Narrn befassen?

Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört,

Es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.“

So verspottet Mephisto in Goethes Faust die Trinitätslehre:

Sie würde „Irrtum statt Wahrheit verbreiten.“

Mephisto hätte genauso gut unseren heutigen Predigttext aus dem Römerbrief zur Veranschaulichung verwenden können:

„O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Denn „wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen?“ (Jes. 40, 13) Oder „wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm zurückgeben müsste?“ (Hiob 41,3) Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.“

Ist das nicht inhaltsleeres Geschwätz? Was soll denn bei solchen Worten gedacht werden?

„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“, sagt Ludwig Wittgenstein.-

Ich möchte heute versuchen, Ihnen die Idee des trinitarischen Gottes ein wenig näher zu bringen. Ich halte sie nämlich für zentral für das Verständnis menschlichen Denkens.

Für mich ist die Trinität oder „Dreiheit“ Gottes, die wir an diesem Sonntag feiern, der Ausdruck der Wiederherstellung, der Restauration Gottes.

Was heißt das?

Ich beginne mit einer Veranschaulichung:

Wir Menschen kommen selbst als Dritte auf die Welt!

Es gibt uns nur, weil „Zwei“ (Frau und Mann) es gewagt haben, sich hin zur Drei zu entfalten.

Wer Kinder hat, weiß, weshalb ich hier von „Wagnis“ spreche.

Denn: Es gibt kein zurück mehr! Man ist nie mehr nur Mann oder Frau.

Mutter oder Vater werden ist irreversibel – unumkehrbar.

Ein abstrakter Einschub:

In drei Dimensionen zu denken und zu leben viel viel anspruchsvoller ist, als nur in zweien.

In zwei Dimensionen bleibt alles überschaubar – eben zweidimensional.

Zweidimensional ist flach. Raum lässt sich nicht in zwei Dimensionen abbilden.

Es gibt links oder rechts, es gibt falsch oder richtig, es gibt schwarz oder weiß. Es ist so und nicht anders. Ich habe recht oder du hast recht.

Wenn Wittgenstein sagt, „alles, was überhaupt gedacht werden kann, kann klar gedacht werden“, dann lässt sich das auf die zweidimensionales Denken anwenden.

Was aber geschieht, wenn die dritte Dimension hinzukommt?

Dann entsteht Raum!

Beziehungs-Raum.

Falsch und richtig treten miteinander in Beziehung. Oder gut und böse.

Der große Nachteil:

Damit geht eine bestimmte vermeintliche Art von Klarheit und Eindeutigkeit verloren. Dreidimensionales Denken und Erleben beginnt mit Verwirrung!

Vorteil: Es entsteht etwas „Mittleres“, „Gemäßigtes“, eben „Drittes“ jenseits der beiden „harten“ Pole! So haben es auch jene Kinder viel leichter, die erleben dürfen, dass die „Beiden“, denen sie ihre Existenz verdanken, miteinander in lebendiger, liebevoller und sich gegenseitig bereichernder Beziehung sind.

Und entsprechend schwer haben es Kinder, wenn die Beziehung ihrer „beiden“ Eltern eine solche ist, in der Macht, Entwertung, Ablehnung und Ignoranz im Zentrum stehen. Oder auch: Wenn Eltern den Anspruch haben, immer derselben Meinung zu sein. Auch dann können Kinder nicht lernen, wie sich verschiedene Ansichten gegenseitig bereichern können, oder auch dass verschiedene Ansichten in der gegenseitigen Liebe des Elternpaares „gehalten“ werden können. 

Die geistige Matrix für eine liebevolle Dreier-Beziehung ist die Trinitätslehre: Aus der liebenden Beziehung zwischen Gott als Vater und Gott als Sohn geht der Heilige Geist hervor. Genauer: In der Kreuzigung, im Tod Jesu ist das Ende der Zweieinigkeit erreicht. Hier gibt es kein darüber hinaus. Die Möglichkeiten der Zwei (Vater und Sohn) sind erschöpft. Sie sind ohne Macht.

Der Karfreitag ist nichts anderes als die Anerkenntnis der Ohnmacht des Vaters im Angesicht seines sterbenden Sohnes.

Es bedarf eines „rettenden Dritten“, der „von außen“ hinzu kommt. Aber nun nicht so, dass er den beiden „äußerlich“ ist. Der rettende Heilige Geist, der „Tröster“ der Not des Vaters und des Sohnes, wohnt „versteckt“ in der Liebe zwischen Vater und Sohn. Er ist „in nuce“ – im Dunklen – immer schon da. Dies hat Augustinus gemeint, wenn er den Heiligen Geist als „vinculum caritatis“, als „Band der Liebe“ zwischen Vater und Sohn bezeichnet.

Mit der Auferstehung wird dieses Licht sichtbar. Es ist das Licht der Liebe, das die Dunkelheit erhellt. Dieses Geschehen ist die Dynamik des Heiligen Geistes. In ihm lodert das Feuer der Leidenschaft für die „verbindende“ Liebe! Im und mit dem Heiligen Geist, dem „Dritten im Bunde“, geschieht die Ver-Söhnung – die nichts mit Sohn, sondern mit Sühne zu tun hat – zwischen den „Beiden“. In ihr wird die Wunde der Spaltung „verbunden“. Spaltungen sind Ausdruck von Verzweiflung (wieder die „Zwei“!). Wenn die „Zwei“ sich nicht verbinden lassen, wenn sie jeden Verband ablehnen, bleibt es bei der Härte von „entweder du oder ich…“ Immer wenn Sie Gefühle ohnmächtiger Verzweiflung erleiden, können Sie sicher sein, dass Sie nicht eingebunden sind in das „Band der Liebe“. –

Liebe Gemeinde,

wir werden jetzt gleich das schöne Lied von Paul Gerhardt – „Geh aus mein Herz ….“ weiter singen.

Und in Strophe 14 wird es heißen:.

„Mach in mir deinem Geiste Raum,
daß ich dir werd ein guter Baum,
und laß mich Wurzel treiben.
Verleihe, daß zu deinem Ruhm
ich deines Gartens schöne Blum
und Pflanze möge bleiben.“

Diese Bilder fließen aus einem tief verinnerlichten trinitarischen Denken:

Damit „Raum“ entsteht, bedarf es der dritten Dimension, haben wir gesagt. Ansonsten bleibt es flach.

Ein guter Baum – der wächst nach oben, nach unten, nach links und nach rechts. Ein „guter Baum“ ist die Verbindung von horizontaler und vertikaler Dimension. So ist er verwurzelt in der Liebe Gottes. Er weiß, dass er nicht aus sich heraus leben kann. Seine Wurzeln sind ein „vinculum“ – eine „unsichtbare“ Verbindung zu dem Milieu, in dem er wächst und gedeiht. Und noch eines: Er weiß, dass er ein Baum, eine Pflanze ist inmitten von vielen anderen. Wer von Peter Wohlleben „Das geheime Leben der Bäume“ gelesen hat, weiß, wie sozial Bäume sind, wie intensiv sie miteinander kommunizieren und sich gegenseitig unterstützen. Und er weiß, dass es auch bei Bäumen eine von uns Menschen gemachte grausame „Massenbaumhaltung“, genannt „Plantagen“, gibt. In ihr gibt es kein Band der Liebe – an seiner Stelle stehen Profitinteressen. Ungehemmte, „unverbundene“ Quantität und Effizienz sind der Tod tritinitarischen Denkens.

Und was machen wir mit den Schnecken? Gibt es die nicht in Gottes Garten?

Doch. Die gibt es durchaus. In Gottes Garten gibt es alle Lebewesen, auch die, die wir für völlig sinn- und nutzlos erklären, wie Schnecken oder – noch weniger beliebt – Zecken. Und auch sie haben Empfindungen. Z.B. Können Zecken bis zu neun Monaten ohne Essen auskommen, um sich dann auf einen „Wirt“ fallen zu lassen, dessen Blut sie aufsaugen. Und sie haben einen Trieb, sich zu vermehren. Nach der Paarung sterben die Männchen sofort, die Weibchen nachdem sie bis zu zweitausend Eier abgelegt haben. Dann versterben auch die Weibchen. Vermenschlicht könnte man sagen: Sie opfern ihr Leben für ihren Nachwuchs!

Und trotzdem fällt es mir schwer, mich in Zecken einzufühlen. Ich denke, das ist auch nicht nötig: Es genügt, die geläufigen Schubladen von Nützlingen und Schädlingen nicht mehr zu verwenden. Die sind nämlich zweidimensional und anthropozentrisch. Heißt: Das alleinige Zentrum der Einordnung ist der Mensch.

Wer sich auf Gott einlässt, wer den zentralen Platz, das Zentrum für Gott frei macht, der kann gar nicht mehr in diesen geläufigen Schubladen von Nützlingen und Schädlingen denken. Der Satz: „Ihr werdet sein wie Gott“ wird ihn nicht mehr verführen. Er wird bescheiden und selbstbewusst antworten: Warum sollte ich wie Gott sein wollen? Mir genügt, das zu sein, was ich bin: ein Mensch. Mir genügt der Platz auf dieser Welt, auf den ich nun mal stehe. Von diesem Platz aus lebe ich mein alltägliches Leben, trage meine Verantwortung. Und von diesem Platz aus werde ich irgendwann wieder verschwinden, meinen ganz eigenen Tod sterben.

Und von diesem Platz aus kann ich nur staunen.

Staunend stehe ich vor dem großen Bogen, vor dem Regenbogen Gottes, in dem sich die Entwicklung Gottes hinein in diese unsere Welt abzeichnet.

Ein Ausdruck dieses großen Regenbogens Gottes ist ein Satz, den Sie alle gut kennen:

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen.“

Oder auch: „Die Dunkelheit des Vaters, das Licht des Sohnes und die liebende Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen.“

Wer alltäglich in dieser Dreiheit lebt, der hat die Trinitätslehre verstanden – auch wenn er keine Ahnung davon hat, was sie bedeutet, AMEN.

Predigt an Trinitatis 2022 über die „dritte Dimension“ (Römer 11, 33-36) Read More »

Predigtgedanken über den „Heiligen Geist“ am Sonntag Exaudi 2022

Liebe Gemeinde!

Vor allem anderen sind wir Menschen Tiere.

Genauer: Wir sind Säugetiere.

Das bedeutet: Es gibt eine Zeit, in der können wir nur überleben, wenn wir von jemand Anderem genährt werden. Oder anders ausgedrückt: Wir waren alle zu Beginn unseres Lebens „schlechthin“ (Schleiermacher) abhängig. Und das waren nicht nur Tage oder Wochen; es waren Jahre!

Je schlimmer unsere Erfahrungen mit Abhängigkeit gewesen sind, je ohnmächtiger und ausgelieferter wir uns gefühlt haben, je hungriger und einsamer, desto stärker ist in uns der Wunsch gereift: Ich muss es schaffen, nicht mehr abhängig zu sein. Ich darf niemand mehr brauchen. Ich muss stark werden.

Die Gefühle der Hilflosigkeit haben damit zu tun, nichts im Griff zu haben, nichts kontrollieren zu können. Und genau so ist es am Anfang unseres Lebens auch gewesen: Ob und wann jemand gekommen ist, der uns Nahrung gegeben hat, uns gereinigt hat, sich uns einfach nur zugewendet hat: Wir hatten es nicht in der Hand. Aber wir haben gefühlt und gespürt. So schwach und wenig entwickelt unser Denken gewesen ist, so ausgeprägt ist unser Fühlen und Empfinden gewesen. Der in den 50ern verbreitete Rat an die deutschen Mütter hieß: Füttere nach der Uhr (alle 4 Stunden). Ansonsten lass dein Baby schreien. Sonst ziehst du dir einen Tyrannen heran. Eine Ur-Erfahrung des kleinen Menschenkindes war: Es geht um Mechanik – ich kann mein Leben, ob ich etwas bekomme, ob jemand kommt, in keiner Weise mitgestalten. Das kann so weit gehen, dass ein solcher Mensch seinen Körper eben für eine (seelenlose) Maschine hält.

Die Gefühle der Abhängigkeit und Hilflosigkeit entstehen im Kommen und Gehen, im Dasein und Wegsein der nährenden, lebensrettenden und

lebenserhaltenden Quelle. Die natürliche Quelle für Säugetiere aber ist die Milch gebende Brust. Daraus wurde im AT das „Land, wo Milch und Honig fließen“.

In der christlichen Liturgie ist die Zeit zwischen Ostern und Pfingsten die Zeit, in der es um die endgültige Trennung von Jesus geht. Oder, zurückübersetzt in unsere Zeit als Babys: Es geht um das endgültige Abgestillt-Werden.

Wie soll ich überleben, wenn du, die Quelle meines Lebens, weg bist?

Die Antwort, die wir heute hören, lautet: „Aber ich sage Euch die Wahrheit: Es ist ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, werde ich ihn zu euch senden. Und wenn er kommt, wird er der Welt die Augen auftun über die Sünde und über die Gerechtigkeit und das Gericht.“ (Johannes 16, 7-8)

Für kleine Kinder ist der Trost, wenn die Mama und mit ihr die Brust weg ist, ein „Ersatz“: ein Schnuller und/oder ein Stofftier. Winnicott hat das „Übergangsobjekt “ genannt: Ein „Objekt“, das den Übergang von der Mutter hin zu einem Leben in Getrenntheit von ihr, erleichtert.

Dazu bedarf es in der mentalen Welt des Kindes eines „mentalen Objektes“: Dass nämlich diese ursprüngliche seligmachende Quelle allen Lebens gar nicht verschwunden ist, sondern nur nicht mehr im Außen sichtbar. In der christlichen Theologie ist das die Geburtsstunde des Heiligen Geistes, den das Johannesevangelium durchgängig als „Tröster“ bezeichnet. Tröster heißt im Griechischen aber „Parakletos“ – und das heißt wörtlich: der Herbeigerufene. Und so passt es, dass unser heutiger Sonntag „Exaudi“ heißt, entlehnt aus einem Psalmwort (Ps. 27, 7): „Herr, höre meine Stimme, wenn ich rufe!“ Und weiter heißt es: „Sei mir gnädig und antworte mir!“ Dies ist die eigentliche Gnade, das eigentliche Geschenk – eine gnädige, also liebevolle und barmherzige Antwort auf den Ruf unserer Seele zu bekommen. Und wenn es weiter im Psalm heißt: „Verbirg dein Antlitz nicht vor mir, verstoße nicht im Zorn deinen Knecht“ (V. 9) – so wird klar worum es geht: Es geht um die Hölle des Verlassen-Werdens, des Aus-der-Gemeinschaft-ausgestoßen-Werdens. Es ist nämlich so, dass wir in frühen Zeiten die Abwesenheit der nährenden Quelle als Zorn auf uns erleben. So wird auch verständlich, dass der Paraklet ins Lateinische mit Advocatus übersetzt worden ist: Der Beistand also bei Gericht.

„Sei mir gnädig und antworte mir …!“ Antwort ist etwas ganz anderes als ein Echo, in dem mein eigener Ruf auf mich selbst zurück fällt und meine gefühlte Einsamkeit mal um mal verstärkt. Der vereinsamte Mensch hat sich in seine Einsamkeit zurück gezogen, weil die Antworten, die er bekommen hatte, unbarmherzige und verständnislose gewesen sind. Er geht zutiefst davon aus, etwas falsch gemacht zu haben, ja falsch zu sein. Antworten heißt: Dem Anderen zum Gegenüber zu werden. Erst so und nur so ist das Wahrnehmen des Anderen als eines Anderen möglich.

Nicht nur aber auch in kirchlichen Kreisen wird gerne ehrliche Auseinander-Setzung zu gedeckt mit einer vereinheitlichenden Harmonie-Sauce. Dann muss ich meine Ängste nicht spüren:

Hält der Andere mein Eigen-Sein aus? Wie steht er zu mir, wenn ich anderer Meinung bin als er? Wie steht er zu mir, wenn mein eigener Standpunkt deutlich wird? Lässt er mich dann fallen wie eine heiße Kartoffel? Der demokratische Diskurs sei es in der Politik, in der Familie und nicht zuletzt in der Kirche, lebt von dem Vertrauen, dass Lebendigkeit erwünscht ist. Und von dem Mut, sich selbst in seiner eigenen Lebendigkeit auch zuzumuten. Je diktatorischer ein Gemeinschaft ist, je mehr sie zum „Regime“ geworden ist, desto mehr Mut bedarf es, sich in seinem Eigenen zuzumuten. Es ist viel leichter, hinter dem Rücken „Dampf“ abzulassen, zu „motzen“, als direkt für das Eigene einzutreten. So ist z.B. mein Eigenes, nur einen der beiden Sonntags-Gottesdienste in Solln zu halten. Ich weiß, dass es einfacher und „verdienstvoller“ wäre, würde ich beide übernehmen. Ist mir aber zu viel. Ich kann dann nicht so Gottesdienst halten, wie ich es gerne möchte. Sein Eigenes auf die Welt bringen und zumuten bedeutet auch, einen gesunden Egoismus zu leben!

Und riskieren, sich unbeliebt zu machen. Es kann sein, dass ich dann nicht mehr gebraucht werde. Und dann brauche ich meine Freiheit, aus der heraus ich sagen kann: Ja, dann halt nicht!

Sich zumuten hat mit Mut zu tun.

Für Paulus ist es der Heilige Geist, der diesen Mut uns schenkt:

„Der Geist hilft unserer Schwachheit auf …“, heißt es am Anfang des heutigen Predigttexts. Es ist ein Abschnitt aus dem Römerbrief, Kapitel 8, 26 – 30.

Und weiter: „… denn wir wissen nicht, was wir beten sollen“. Genau dies wird im autoritär-diktatorischen Denken vermieden: Unwissenheit gibt es nicht. Der diktatorische Führer weiß alles!

Wir aber wissen nicht.

Das Christentum ist (nicht in seiner Verwirklichung, aber von seiner Idee her) eine Gemeinschaft der Nicht-Wissenden. In diesem Nicht-Wissen sind wir angewiesen auf eine Kraft, die „von außen“ kommt. Denn das wissen wir: An unserem eigenen Schopf können wir uns nicht aus dem Sumpf unserer Ängste ziehen.

Erst über das Eingeständnis des eigenen Nicht-Wissens, der eigenen Schwäche hat der Heilige Geist eine Chance. Wer immer schon alles weiß, der bedarf keines Heiligen Geistes. „Selig sind die Armen im Geiste …“ sagt Jesus.

Und wie tritt der Heilige Geist für uns ein? “ … mit unaussprechlichem Seufzen …“ Der Heilige Geist wirkt nicht in und über unseren wissenden Verstand. Er wirkt da, wo keine Sprache hinkommt, im Dunkel des Vorsprachlichen, da wo es zugeht wie vor aller Schöpfung, vor aller Strukturbildung. „Und die Erde ward wüst und leer, und Finsternis lag auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser“ (1. Mose 1, 2)

Indem wir uns diesem Geist überlassen, bekommen wir einen Begleiter, der uns nicht mehr verlässt. Einen, der „mit uns geht, der’s Leben kennt und uns versteht …“

Verstehen, Zusammenhänge dort sehen, wo wir bislang keine Verbindungen erkennen konnten – dies alles ist Wirken des Heiligen Geistes. Er bringt ein Licht in unsere Ahnungslosigkeit in unser „keine Ahnung haben“. Dies kann sehr schmerzhaft sein – aufs Ganze gesehen aber dient es unserer Gesundung.

S. Freud bezeichnet an einer Stelle den Gott der von ihm so genannten „Psychoanalyse“ als „Logos“. „Logos“ ist aber nichts anderes, als die Übersetzung des hebräischen Wortes für Geist (ruach) ins Griechische. In dieser Übersetzung hat er das Sinnliche, Vorsprachliche, das er im Alten Testament hat, eingebüßt. An seine Stelle ist die Verstandes-Logik der griechischen Philosophie getreten.

Unser Geist, der Heilige Geist wirkt aber nicht nur im Denken – er beginnt mit „unaussprechlichem Seufzen!“ Und in dieser Finsternis und in diesem ganzen Un-Wissen, gibt es doch etwas, was wir wissen: „Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach seinem Ratschluss berufen sind“ (Vers 28).

Entscheidend ist der Einschub: „… nach seinem Ratschluss …“

Es ist Gottes „Ratschluss“ oder auch „Vorsatz“, uns Menschen dahin zu bringen, dass wir lieben lernen. Und genau das meint unser Wochenspruch: „Wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich alle zu mir ziehen.“ Übrigens steht hier „alle“ und nicht: die Frommen, die Kirchgänger, die Katholiken, die Protestanten …

Paulus, der Intellektuelle, nimmt diesen Gedanken zum Ausgangspunkt für ein Nachdenken darüber, wer von Gott auserwählt ist, – er nennt das „Vorherbestimmung“. Damit entsteht das Problem der Nicht-Auserwählten. Dahinter steht die Frage nach der Verdammnis: die Auserwählten sind die „Gerecht-Gemachten“, die Nicht-Auserwählten sind die Verdammten. Dies ist ein Denken, das gefangen bleibt in Gut-Böse-Spaltungen.

Mir hilft da ein Satz von Rumi weiter:

„König, Dieb, Heiliger, Verrückter – Die Liebe ist wie ein Hund. Sie packt uns alle beim Genick. Und schleppt uns zappelnd zu Gott auf manchem Schleichweg.

Wie hätte ich es jemals ahnen können, dass sich auch Gott nach uns verzehrt?“ (Rumi)

Das Problem ist nicht, dass sich Gott, der die Liebe ist, von uns abwendet, uns im Stich lässt.

Das Problem ist, dass wir verführbar sind, uns von der Liebe, die Gott ist, abzuwenden.

Die Verführung ist dann am wirksamsten, wenn es uns schlecht geht. Ein Baby, ein kleines Kind, das wirkliche Armut erlebt hat, das sich ausgeschlossen fühlte vom Wohlstand der Anderen, für das ist es naheliegend, seine Haltung zum Leben auf das Axiom: „Nie wieder arm sein!“ zu setzen. Es erlebt jede Form von Bedürftig-Sein als Schwäche, die unter allen Umständen zu vermeiden ist. Schwäche aber vermeide ich am sichersten, indem ich mich und meine Umwelt kontrolliere. Dazu aber brauche ich Macht.

Das ist – sehr vereinfacht – die Dynamik der Machthaber*innen, die sich in allen Gemeinschaften, gerade auch religiösen, findet.

Sich von der Liebe leiten zu lassen heißt zunächst einmal, sich seine eigene Ohn-Macht, sein eigenes Ohne-Macht-Sein eingestehen zu können. Ich sage absichtlich: sich eingestehen zu können, denn es bedarf einer starken Kraft, die mir dazu verhilft, dass ich schwach sein darf. Noch einmal: „Der Geist hilft unserer Schwachheit auf!“

Diese Botschaft kann nur diejenigen erreichen, die um ihre Schwäche wissen. Sie sind die „Berufenen der Liebe“. Berufene der Liebe heißt, ein offenes Ohr für den Ruf der Liebe haben. Sie und nur sie können auch getröstet werden. Die bekannten Seligpreisungen bezeichnen sie als „selig“.

Oder, frei nach Rumi: „Selig, wer die Kraft hat, sich von der Liebe beim Genick packen zu lassen und sich zu Gott schleppen zu lassen.“ Der Weg ist dabei nicht so wichtig: Es kann ein Umweg, es kann ein Schleichweg, es kann ein Holzweg sein. Alles aber hängt davon ab, wirklich zu glauben, dass sich der Gott, der die Liebe ist, danach sehnt, dass du zu ihm kommst.

Alles hängt davon ab, dass du beginnst zu glauben, gerade so, wie du bist, bist du liebenswert, erwünscht und willkommen. AMEN.

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Predigt über Johannes 21, 15-19 am Sonntag Miserikordias (1. Mai 2022)

Liebe Gemeinde,

Hirtensonntag hat man den heutigen 2. Sonntag nach Ostern genannt. Im Mittelpunkt steht das Bild des guten Hirten, der bei seiner Herde bleibt, auch wenn es gefährlich wird.

Auf der anderen Seite steht der „schlechte Hirte“, der „Mietling“, der Taglöhner, der die Herde im Angesicht der „Wölfe“ – der Gefahr – verlässt.

Dahinter steht die Idee, dass sich Menschen für ihr „ganz Eigenes“ anders verantwortlich fühlen, als für Fremdes. Meine eigene Wohnung, mein eigenes Geld, mein eigener Körper. Deshalb sehen „öffentliche“ Räume einschließlich Straßen oder Plätze oft so aus, wie sie aussehen.

Von der Idee des Eigenen geht eine andere Kraft aus als von der Idee des „Gemeinschaftlichen“. „Es gehört mir ja nicht – also warum sollte ich mich darum kümmern?“ Es setzt eine hohe soziale Kompetenz voraus, – die nicht vom Himmel fällt, sondern erlernt werden muss – sich für etwas, das einem nicht gehört, gerade so einzusetzen, als wäre es das Eigene.

Mit und in Jesus sind die Gedanken der Bedeutung des „Eigenen“ auf der Welt. Er versteht sich selbst nicht als Mietling sondern als guten Hirten: „Ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich!“

Dies wiederum ist ein Abbild seiner ganz eigenen Beziehung zu seinem Vater.

(Nebenbei: Diese Welt sähe ziemlich anders aus, wenn die Menschen in führenden Positionen sich als „gute Hirten“ verstehen würden. Dem guten Hirten ist eine gute, glaubwürdige Autorität zu eigen, dem sich seine „Herde“ freiwillig und nicht aus Angst anvertraut. Die schlechten, autokratischen Hirten wissen in der Tiefe ganz genau, dass ihre Position davon lebt, dass ihre Herde genügend Angst vor ihnen hat. Sie führen über Strafandrohung – und nicht über Liebe.)

Klammer zu.

Diese Gedanken umrahmen den heutigen Predigttext, bei dem es um die Frage geht: Wie geht es weiter, wenn Jesus nicht mehr sichtbar anwesend sein wird, wenn er „zurückkehrt zu seinem Vater“?

Es geht um die „Nachfolge“ genauer die „Nachfolger“ Jesu!

Wir wissen: Die Kirche gilt als Nachfolge-Organisation des Predigers Jesus aus Nazareth. Ein Theologe hat das so formuliert: „Jesus wollte das Reich Gottes, gekommen aber ist die Kirche!“

Und während sich alle vier Evangelien darin einig sind, dass der von Jesus selbst berufene Nachfolger Simon, der „Fels“ (Petrus) heißt, wird nur im Johannesevangelium sein Auftrag explizit als Hirten-Auftrag formuliert. Bei Matthäus ist er der „Fels“, auf dem Jesus seine Kirche bauen will. Sie merken schon vom Bild her: Fels ist ein statisches Bild.

Ganz anders und viel dynamischer wird der Auftrag des Petrus im Johannesevangeliums benannt: Da heißt der Auftrag: „Weide meine Lämmer!“

Doch hören Sie selbst:

15 Da sie nun das Mahl gehalten hatten, spricht Jesus zu Simon Petrus: Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr, als mich diese lieb haben? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Lämmer! 16 Spricht er zum zweiten Mal zu ihm: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Schafe! 17 Spricht er zum dritten Mal zu ihm: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb? Petrus wurde traurigzu, weil er zum dritten Mal zu ihm sagte: Hast du mich lieb?, und sprach zu ihm: Herr, du weißt alle Dinge, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Schafe! 18 Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Als du jünger warst, gürtetest du dich selbst und gingst, wo du hinwolltest; wenn du aber alt bist, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und führen, wo du nicht hinwillst. 19 Das sagte er aber, um anzuzeigen, mit welchem Tod er Gott preisen würde. Und als er das gesagt hatte, spricht er zu ihm: Folge mir nach!

Nachfolger Jesu sein, heißt: dienen – nicht herrschen.

Heißt führen – nicht verführen.

Heißt liebevoll sorgen – nicht missbrauchen.

„Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.“ (Joh 13, 35) Eine weiterer Nachfolgesatz aus dem Johannesevanglium. Und die Überschrift des Ganzen findet sich auf den Punkt gebracht im ersten Brief des Johannes:

„Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm …“

(1. Joh. 4, 16)

So weit, so gut. Ich weiß schon: Das ist schön und leicht gesagt – aber lässt es sich auch leben, ist das alltagstauglich?

Für die vielen Menschen, die der Kirche inzwischen den Rücken kehren, ist es das offensichtlich nicht. „Lebt erst mal das, was ihr predigt…!“

Zu ihrer Verteidigung könnten die Nachfolger Petri vorbringen, dass Petrus selbst niemand ist, der vorbildlich gelebt hat. Er neigte zu Zornesausbrüchen, hieb dem Soldaten das Ohr ab, er wollte Jesus davon abhalten, von seinem Leiden zu sprechen – so dass ihn Jesus als „Satan“ bezeichnete (Matthäus 16, 22b) … und er hat seine Beziehung zu Jesus drei Mal verraten!

Mit einem Wort: Petrus war ein „sündiger“ Mensch – gerade so wie wir alle.

Und eben diesem Petrus spricht Jesus sein Vertrauen aus – allerdings nicht, ohne ihn vorher zu prüfen.

Und diese Prüfung ist nun eine sehr merkwürdige:

Dreimal stellte er ihm ein und dieselbe Frage: „Petrus, liebst du mich?“

Im Griechischen gibt es zwei Wörter für „lieben“:

„agapao“ und „phileo“.

Phileo ist die mit Begehren verbundene Liebe. Es ist mehr ein „ich habe lieb“ als ein „ich liebe“. „Phileo“ ist immer eine begrenzte Liebe.

Es ist die Liebe zu einem Hobby, zu einem Beruf, zu einem konkreten Menschen.

Das Gegenteil von „phileo“ ist „phobeo“ – wörtlich erschrecken.

Phileo drückt Hinwendung aus – Phobeo Abwendung.

In der Psychologie werden damit konkrete Befürchtungen ausgedrückt: Hundephobie, Klaustrophobie … usw.

Demgegenüber ist „Agapao“ eine „allumfassende“ Liebe. Das meint eine ganzheitliche Haltung zum Leben, die aus dem Vertrauen, der radikalen Hinwendung an das Leben stammt. In ihr sind die Befürchtungen und Ängste gebunden und verwandelt. Sogar die Todesangst. In ihr hat selbst der Tod seinen Schrecken verloren. In dieser Haltung habe ich mich fallen gelassen in die Hände eines gütigen Gottes. Und aus dieser Haltung heraus entstehen (neue) Gedanken wie:

Ich verstehe zwar nicht, was ich gerade erlebe, aber es wird schon für irgend etwas gut sein.

Oder: Ich überlasse mich dem, was gerade ist. Ich gebe mich ganz hin.

Und in dieser Hingabe gebe ich meinen Trotz, mein Murren, mein „Motzen“ aus.

In dieser Haltung drückt sich eine gesunde Resignation aus. In ihr gebe ich die große Täuschung auf zu meinen, ich bin der Architekt und Lenker meines Lebens.

Ich hätte mein Leben im Griff. (Gerade für uns Männer ist das eine große Herausforderung, da wir doch so gern alles im Griff haben …)

Es ist ein Missverständnis, diese Haltung als Sünde zu deklarieren. In der ersten Hälfte unseres Lebens ist die natürliche, gesunde Haltung ein:

„Ich entwerfe mein Leben selbst!“

Hierher gehört der Satz Jesu: „Als du jünger warst, gürtetest du dich selbst und gingst, wo du hinwolltest; wenn du aber alt bist, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und führen, wo du nicht hinwillst.“

Erst im Übergang zur zweiten Lebenshälfte wächst die Erkenntnis: Es gibt eine „Vorgängigkeit“, in die ich hineingeboren bin. Und es gibt eine Ohnmacht, ein Ohne-Macht-Sein. Wer damit nicht umgehen kann, tut sich schwer damit, alt zu werden.

Jesus also fragt Petrus drei Mal, ob er ihn „lieb habe“. Zweimal verwendet er „agapao“ beim dritten Mal „phileo“. Und Petrus antwortet dreimal mit „phileo“.

Anders ausgedrückt: Zu diesem Zeitpunkt hat Petrus (noch) keinen Zugang zu „Agape“ – zu dieser umfassenden Lebenshaltung.

Die mit Agape gemeinte Liebe kann man sich nicht erarbeiten. Man kann sie sich nur schenken lassen – und dazu bedarf es eines „Bereit-Seins“.

Die Schwierigkeit ist, dass Agape vertraute Sicherheiten gefährdet.

Sie unterläuft mühsam errungenen Strukturen menschlichen Zusammenlebens. In Agape zerfällt die Welt nicht länger in falsch und richtig, gut und böse. Und das verunsichert. Die Repräsentanten eines Establishments, – sei das eine Gemeinschaft, eine Kirche, eine Firma, ein Staat – wollen diesen Zerfall nicht. Sie sind wesentlich „konservativ“ – wörtlich: „bewahrend“. Sie sind die Gegenspieler von „agape“ und von solchen Predigern der Liebe wie Jesus. „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, sagen sie.“ Und so wird die Liebe ein um das andere Mal getötet. In Liebe hat sich jede Kontrolle erübrigt.

Petrus wird vor dem religiösen Establishment, dem „Hohen Rat“ (Synhedrium) sagen: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. Der Gott unserer Väter hat Jesus auferweckt, den ihr ermordet habt, indem ihr ihn ans Holz hängtet …“

Und die Mitglieder des Hohen Rates „ergrimmten als sie es hörten und beratschlagten, Petrus und Johannes umzubringen“ (Apg. 5, 29-33)

Hier begegnen wir einem mutigen Petrus, einem Petrus, der sich, seinen Glauben und seine Überzeugungen nicht mehr verleugnet. Als Petrus dies sagt, ist das Christentum noch „jung“ und „flüssig“. Es finden sich noch keine hierarchischen Strukturen, es gibt noch kein Establishment. Dies geschah erst im Übergang von der Reich-Gottes-Predigt Jesu hin zur Kirche. Und dieser Übergang war dadurch erzwungen, dass die Erwartung, Jesus werde in unmittelbarer Zukunft zurückkehren „zu richten die Lebenden und die Toten“, dass diese Erwartung unerfüllt blieb.

Und so wurde aus der jesuanischen Idee des Reiches Gottes die Kirche.

Innerhalb derer immer wieder Menschen aufgestanden sind, die ihre dogmatische Verkrustung kritisierten. Das waren insbesondere die Mönche. Und so ist es kein Zufall, dass der große Kirchenreformer Martin Luther ursprünglich Augustiner-Mönch gewesen ist.

Unsere Kirche braucht keine „makellosen Menschen“, die ihre reine Weste pflegen. Sie braucht „Hirten“, die diesen Mut ausstrahlen, den Petrus damals predigte:

„Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen!“

Und sie braucht „Lämmer“, die sich nicht blindlings von ihren Hirten führen lassen. Die eine Freude daran haben, selbstständig zu denken, und den Mut besitzen, sich selbst und ihre Gedanken dem/den Anderen zuzumuten.

Die verbreitete Harmoniesehnsucht ist tödlich für lebendige Beziehungen. Dies gilt auch und gerade in kirchlichen Kreisen.

Unsere Kirche braucht Menschen, wie jene russische Journalistin, die ein Plakat in der Nachrichtensendung hochhält, wo darauf hingewiesen wird, wie sehr diese Nachrichten auf Propaganda fußen. Ein guter Hirte ist ein mutiger Hirte. AMEN.

Predigt über Johannes 21, 15-19 am Sonntag Miserikordias (1. Mai 2022) Read More »

Predigt an Karfreitag 2022

Liebe Gemeinde,

meine heutige Predigt besteht aus zwei Teilen.

Im ersten Teil denke ich über die eigenartige Beziehung zwischen Jesus und seinem Gegenspieler nach.

Im zweiten Teil will ich versuchen, diesen Gegenspieler selbst zu Wort kommen zu lassen.

Erstens:

Von Anfang seines Wirkens an hatte Jesus, hatten seine Gedanken und sein Tun, einen Gegenspieler: den Diabolos, auch Teufel oder Satan genannt. Wörtlich bedeutet Diabolos: „Jemand, der Verwirrung stiftet“. Er taucht erstmalig in der Wüste am Ende von Jesu vierzigtägigem Fasten auf und weist ihn darauf hin, dass es für ihn – als Sohn Gottes – doch viel besser ist, allmächtig zu sein.

Sage den Menschen, dass du Steine in Brot verwandeln kannst!“

Zeige den Menschen, dass du fliegen kannst!“

Verbünde dich mit mir, und du bekommst als Lohn ganz viel Macht!“

Kurzum: Lebe nach dem, was ich dir sage, lebe nach dem Prinzip „All-Macht“ – und du wirst so richtig gut sein, so richtig Karriere machen.

Die Kraft von Jesu Antworten liegt darin, dass er NICHT dagegen hält. Er verteidigt sich nicht. Kein: ja aber… Er setzt dem teuflischen Verführer scheinbar nichts entgegen. Und gerade so lässt er ihn ins Leere laufen. Alles, was Jesus tut, ist, auf seine von tiefem Vertrauen getragene Beziehung zu jenem Gott zu verweisen, den er liebevoll abba – Papa nennt. Der Quell dieser Beziehung ist Jesu Bibel: Das Alte Testament. Jesus hegt also nicht die Illusion, sich „neu erschaffen“ zu müssen.

Darauf fällt dem Teufel offenbar nichts mehr ein. Und so „wich er von ihm bis zur bestimmten Zeit“, wie es bei Lukas so schön am Ende der Versuchungsgeschichte Jesu heißt.

Der Zeit seines öffentlichen Wirkens bleibt es ruhig um den Teufel. Einmal nur taucht er bei Petrus auf (Mk. 8,33) :“Geh‘ hinter mich, Satan! Denn du meinst nicht was göttlich ist, sondern was menschlich.“ Der Zusammenhang ist, dass Jesus sein bevorstehendes Leiden ankündigt. Das will Petrus nicht hören. Spannend, dass Jesus diese Taubheit gegenüber Schmerz und Leid (des Petrus) als satanische bezeichnet.

Erst am Beginn der Passionsgeschichte heißt es dann bei Lukas: „Es fuhr aber der Satan in Judas.“ (Lukas 22, 3) Bei Johannes fährt der Satan in Judas im Rahmen der Fußwaschung – sie ersetzt bei ihm die Erzählung des „Letzten Abendmahls“ Joh. 13,27).

Der Satan oder Teufel, oder eben Diabolos erscheint erst wieder, wo es um das wirkliche Leben geht. Wo es ernst wird. In der Wüste hatte er versucht, Jesus davon zu überzeugen, dass es das beste wäre, mit einem Gefühl der Allmacht durchs Leben zu gehen. Dann nämlich muss man sich auf Vieles, Unangenehmes, Leidvolles gar nicht erst einlassen. Dann hat man stets die Kontrolle. Und Kontrolle ist Macht. „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!“ Deshalb ist es wichtig, den Anderen auszuspionieren, auch wenn er „nur“ die Opposition im eigenen Land darstellt.

Nur Kontrolle schenkt eine bestimmte Art von Sicherheit. Von scheinbarer Sicherheit.

Völlig anders ist die Sicherheit, die Jesus predigt. Er spricht vom Reich Gottes, von der Gegenwärtigkeit dieses Reiches, dass es ein Netzwerk liebevoller und vertrauensvoller Verbindungen ist. In der Liebe gibt es keine Kontrolle – sie ist überflüssig. Liebe erträgt es, ohnmächtig zu sein. Da Liebe den Anderen frei lässt, kann und will sie ihn gar nicht kontrollieren. Liebe und Freiheit sind Geschwister – es gibt sie nur zusammen.

Und noch etwas: Erst in der Liebe wird es möglich, sich in das Fremde, Andere wirklich hineinzufühlen. Empathie nennt man das heutzutage. Aus der Liebe fließt die Empathie, das Mitgefühl für meine Mitmenschen und Mitgeschöpfe. Aus dem Hass wird dafür Empathie verwendet, dem Anderen besonders viel Leid zuzufügen. Wir nennen das sadistisch. Die gegenwärtigen Greueltaten gegenüber unschuldigen Zivilisten können nur so verstanden werden.

Jesu revolutionäre Predigt von der Liebe konnte gut ignoriert werden.

Und sie wird bis heute ignoriert.

Es sind die Gedanken eines harmlosen Spinners, wie es viele gibt. Die man nicht ernst nehmen muss.

Weniger harmlos wird es erst dann, wenn Jesus sich mit den Mächtigen, mit dem religiösen Establishment seiner Zeit – im Neuen Testament heißen sie Pharisäer – anlegt. Und gar nicht mehr harmlos ist es, wenn er die Mächtigen der Wirtschaft brüskiert. Als er die Händler aus dem Tempel warf, hatte er die rote Linie der Geduld des Establishments überschritten. Es ist nicht gut, sich mit den herrschenden (Wirtschafts-)Mächten anzulegen. Das gilt damals – das gilt heute.

Als er dann auch noch behauptete, hinter seinem Tun stehe die höchste Autorität, steht Gott selbst, hatte er im Grunde genommen sein eigenes Todesurteil gefällt.

Und damit komme ich zum zweiten Teil meiner Predigt: Jesu letzter Weg.

Schwer trägt er an seinem Kreuz. Es war damals nicht unüblich, dass die Verbrecher ihren Galgen selber tragen mussten. Jesus war erschöpft und fühlte sich schwach – ähnlich wie am Ende seiner vierzigtägigen Fastenzeit.

Wie gut hätte ihm eine tröstende Stimme getan. Eine Stimme, die zur Einfühlung in der Lage ist. Eine Stimme, die mitfühlt. Und tatsächlich taucht eine ihm bekannte Stimme auf.

Du Idiot“, hörte er sie sagen. „Hättest du auf mich gehört, dann könntest du dich jetzt in Behaglichkeit zurücklehnen. Aber nein – du kannst dich ja an die Gesetze dieser Welt nicht anpassen. Money makes the world go round. Und nicht dein Schwachsinn von wegen Schaden nehmen an der eigenen Seele. So leicht hättest du die Welt gewinnen können! Und diese ganze Plackerei hier wäre dir erspart geblieben. Und schau doch – alle, aber wirklich alle, haben dich verlassen. Einer deiner sogenannten Freunde – du hast ihm den Namen Felsen, Petrus, gegeben – der war kein Fels, sondern ein riesengroßer Angsthase. Um sich selbst zu retten, hat er seine Freundschaft mit dir gleich drei Mal in dieser Nacht verleugnet.

Kurze Reflexion in Klammern: (So ist das: Unsere Panik greift unsere Fähigkeit zu Empathie, zu mitfühlendem Denken an. In Panik kreise ich nur mehr um mich und um die Frage, wie ich überlebe. Ich bin zu sozialem Denken nicht mehr fähig. Mein Denken unterwirft sich meinem Hass. Es ist der Hass auf die Angst. Der Hass aber hat nur eine Botschaft: Du musst deine Macht dafür verwenden, um dich durchzusetzen. Um jeden Preis. Koste es, was es wolle. Ohne Rücksicht auf Verluste. Das kriegen wir gerade hautnah in Russland mit. In der Tiefe wird Putins Hass auf den Westen geschürt von seiner Panik, dass die Freiheit, die Demokratie ihn und sein Regime vernichten. Sein Hass aber sagt: Du musst aus der Ohnmacht raus kommen. Es ist allemal besser, den anderen zu vernichten, als sich von ihm vernichten zu lassen. Diese Dynamik gilt übrigens für alle Diktatoren, im Kleinen wie im Großen!)

Einschub Ende – zurück zu Jesu Kreuzweg – die Stimme, die Jesus begleitet, ist nämlich noch nicht fertig.

Du bist völlig allein, Jesus! Kapierst du das?

Einsam, neben zwei Verbrechern, wirst du als Gotteslästerer sterben. Und du wirst nach deinem Vater schreien – und du wirst keine Antwort bekommen. Auch er hat dich nämlich längst im Stich lassen!

Hättest du doch auf mich gehört!

Ich hätte dich nicht im Stich gelassen. Ich hätte dir geholfen, berühmt zu werden. Ich weiß, wie das geht. Du musst den Menschen genau das sagen, was sie hören wollen. Dass sie super sind. Dass sie ein großartiges Volk, eine tolle Gemeinschaft sind. Dass sie stolz darauf sein können, zu diesem Volk, zu dieser Gemeinschaft dazu zu gehören. Und dass du sie zu einem noch größeren Volk machst. Und dass es völlig falsch ist, auf andere Rücksicht zu nehmen.

Einfühlung in den Anderen macht schwach. Wenn du nicht erschossen werden willst, musst du erschießen. Dafür kannst du keine Einfühlung brauchen. Du darfst dir nicht vorstellen, dass dein Feind vielleicht genauso Familienvater ist, wie du. Du darfst dir nicht vorstellen, dass dein Feind genauso ein Mensch ist wie du, der genauso leben will, wie du.

Der Andere ist dein Feind und er gehört vernichtet. Sonst vernichtet er dich. Das ist alles, woran du denken musst.

Der einzige, der das wirklich verstanden hat, war dein Freund und Mitstreiter Judas. Nicht nur euer Leben ist eng miteinander verbunden – auch euer Sterben. Er hat dich auch nicht verraten – wie es so oft heißt. Nein – er hat dich übergeben: in die Hände derer, die dich und dein Leben beurteilen. Und vor allem verurteilen. Er hat dich zunehmend gehasst für deine Botschaft von einem liebenden, einfühlsamen Gott. Er wollte eine Revolution. Er wollte Israel zurück erobern. Von der Besatzung durch die Römer befreien. Und er dachte, mit dir als Führer ginge das. Und so seid ihr am Ende beide gestorben.

Judas aus Enttäuschung und Selbsthass. Er hat sich selbst gerichtet. Anders als du hielt er nichts davon, ohnmächtig zu sein.

Und du stirbst jetzt – weil du ein Idiot bist! Weil du doch wirklich glaubst, es ist gut, bis zuletzt in der Liebe zu bleiben.

Ganz ehrlich – wie kann ein einziger Mensch nur so blöd sein wie du? Schau sie dir doch an, deine Menschen, denen du die bedingungslose Liebe deines Vaters gepredigt hast. „Das Reich Gottes ist mitten unter Euch!“

Von wegen.

Es ist noch keine Woche her – da haben sie dir ihr Hosianna zugejubelt. Als wärst du ein König, so haben sie dich gefeiert. Natürlich musstest du auch da wieder quer denken und quer handeln und ihre Erwartungen brechen: Auf einem Esel musstest du einziehen!

Du hättest dich mal fragen können, was es ist, dass du derart provozieren musstest. In deinem Predigen wie in deinem Handeln.

Aber egal. Jetzt ist eh alles zu spät. Jetzt siehst du, was du wirklich erreicht hast, du König der Juden. Schau dir doch deine speziellen Freunde an, die Pharisäer. Ihre Münder triefen nur so voll Schadenfreude. Ja, ja: Schadenfreude ist die schönste Freude. Schadenfreude über die Hilflosigkeit des großen Predigers der Liebe!

Die Quelle der Schadenfreude ist nichts alsHass. Und der hat am Ende eben doch gesiegt.

Der Hass auf dich und auf deine Liebespredigten.

Wenn du den Mund nicht gar so voll genommen hättest.

Du Retter!

– Rette dich selbst schreien sie. Du sagst doch, du wärst Gottes Sohn. Also: beweise es. Steig doch herab von deinem Kreuz …

Und Jesus?

Jesus schweigt. Er hat nichts mehr zu sagen.

Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!“

Das war’s.

AMEN.

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Gedanken zur Losung am 31.3.2022 im Rahmen eines Friedensgebets

„Sind wir untreu, so bleibt er treu; denn er kann sich selbst nicht verleugnen.“

(2. Timotheus 2, 13)

Friedensgedanken am 31.3.2022

Liebe Gemeinde,

das Wort „treu“ Substantiv „Treue“ und damit zusammenhängend „Vertrauen“ (vgl. auch im Englischen das Wort „tree“) drückt Festigkeit, Bestand aus.

Darauf kannst du dich, kann man sich verlassen.

Nun – wo etwas Positives ist, ist auch etwas Negatives.

Im Deutschen gibt es dafür das Wort, besser die Vorsilbe „un-“

treu – untreu; Glaube – Unglaube.

Die Vorsilbe un- verneint. Darauf verlasse dich mal lieber nicht.

Im Moment heißt es: Auf die Sätze, die aus Russland kommen, dass es einen Truppenabzug gibt usw. kann man sich nicht verlassen. Vielleicht ist es nur Strategie, um sich zu sondieren und dann umso massiver zuzuschlagen.

Worauf kann ich mich wirklich verlassen?

Das ist für diejenigen unter uns, die Gefühle des Zweifelns und des Misstrauens kennen oder von ihnen geplagt werden, ein großes Thema.

Im 2. Brief an Timotheus – die Losung für den heutigen Tag – heißt es:

Auf IHN, auf Gott, kannst du dich zu hundert Prozent verlassen: er bleibt treu.

Warum: „Denn er kann sich nicht selbst verleugnen.“

Gott kann tatsächlich etwas nicht, was wir Menschen nur allzu gut können:

Gott kann nicht lügen. Und wer nicht lügen kann, der kann auch nicht betrügen.

Und wer weder lügen noch betrügen kann, auf den kann man sich verlassen – er ist treu.

Was bedeutet das denn: „sich selbst verleugnen“?

Es bedeutet, sich abwenden von dem, was ich als mein ganz Eigenes, mein ureigenes Denken, Fühlen und Handeln erlebe. Und an dessen Stelle etwas setze, von dem ich meine, das wäre mein Denken, Fühlen und Handeln. Diese Verdrehung des Eigenen findet seinen Ursprung in der Zeit, in der wir Menschenkinder noch sehr biegsam gewesen sind. Wie man eine junge Pflanze wo hin ziehen kann, so kann man auch Kinder „gut ziehen“: Indem man ihnen physische und psychische Nahrung nur dann gibt, wenn sie in die Richtung wachsen, die von dem, der sie „zieht“ und „erzieht“ auch erwünscht ist. Je weniger dieser Er-Zieher in der Lage ist, die eigenen und wirklichen Bedürfnisse der „jungen Pflanze“, genannt Kind, zu sehen, desto selbstverständlicher wird das Kind meinen, das, wohin es da gezogen wird, ist das, wohin es auch wachsen will. Es verwechselt – weil es die Sonne der Wahrheit nicht kennt – das Kunstlicht, unter dem es aufwächst, mit dem wahren Licht, mit der wirklichen Sonne.

Wird es von einem Sonnenstrahl der wirklichen Sonne eher zufällig getroffen, so meint es, dass dies natürlich auch – es kennt ja nichts Anderes – etwas Künstliches ist. Seine Erzieher – die das Kind und sein Denken für sich behalten wollen – bestätigen ihn darin, dass die wirkliche Sonne eine Täuschung und gefährlich ist – von ihr kann man einen Sonnenband kriegen, sie kann Hautkrebs verursachen – während die künstliche Sonne, die als echt ausgegeben wird – zum Wohle für alle ist.

Auf der politischen Ebene findet sich dieses Geschehen insbesondere in totalitären Staaten. Die Sonnte der Demokratie ist für sie so gefährlich, weil hier der Einzelne eine eigene Meinung hat und auch haben darf. Das große gemeinsame künstliche Licht des Gewächshauses wird in ihr nicht benötigt. Das ganz eigene Wachstum, die ganz eigene Meinung, das Eigen-Sein ist erwünscht. Und damit zerfällt die Einigkeit, die den Diktatoren so wichtig ist. Sie verstehen sich als die großen Bewahrer ihres Vaterlandes.

Und haben dabei vergessen, dass die Wahrheit keine Bewahrer braucht. So wie Kinder keine Erzieher brauchen. Man muss sie nirgendwo hinziehen. Es genügt, ihre Bedürfnisse wahr und ernst zu nehmen. Und sie immer wieder einzurahmen in guten, dem Leben dienenden Grenzen.

Voraussetzung dafür ist, ihnen selber eine wahrhaftige Beziehung vorzuleben. In der ich mir und meinen Mitmenschen nichts vormache.

Hierfür ist es gut einem Gott zu vertrauen und sich mit ihm zu verbünden, der sich selbst nicht verleugnen kann, AMEN

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Predigt über 2. Korinther 1, 3-7 an Sonntag Lätare 2022

Weicht ihr Trauergeister, denn mein Freudenmeister, Jesus, tritt herein…“

So haben wir gerade gesungen an diesem Sonntag Lätare – „Freut Euch!“

Und das mitten in der Passionszeit!

Und das mitten in einem Krieg auf europäischem Boden.

Der heutige Sonntag wird auch „Kleiner Ostersonntag“ genannt.

Jesu meine Freude.“ Wer das singen, wer das Erleben kann – der muss sich nicht mehr vor den Widrigkeiten des Lebens fürchten. Er ist nicht länger der Sklave von Trauergeistern … Nur: Wie geht das? Wie kann ich das erleben, spüren, was Paulus schreibt: „… der Gott allen Trostes … er tröstet uns in aller unserer Bedrängnis…“ (2. Korinther 1, 4a)

Es geht offenbar nicht so, dass dann alles Leid verschwindet. Ganz im Gegenteil: „So wie auch die Leiden Christi reichlich über uns kommen, so werden wir auch reichlich getröstet werden durch Christus.“ (V.5)

Ja schon – das haben wir jetzt verstanden. Aber es bleibt die offene Frage: Wie denn?

Wie kann ich getröstet werden? In meinem Leiden, in meinen Ängsten, in meinem Hass und meiner Verzweiflung?

Nun – zunächst einmal brauche ich die Fähigkeit, mich trösten zu lassen.

Ich brauche eine Bereitschaft, mich dem Trost auch zu öffnen.

Der Gegenspieler dieser Bereitschaft ist Verbitterung.

Der verbitterte Mensch ist ein trostloser Mensch. Trostlos heißt: Er ist für keinen Trost zugänglich. Der verbitterte Mensch ist eingekapselt in seiner Verbitterung.

Alle Versuche des Trost-Spendens zerschellen an dieser seiner Kapsel.

Sie wird erlebt als Schutzkapsel. Die Verbitterung ist der Panzer, die uneinnehmbare Festung.

Der Trost-Spender wird abgewiesen: „Du hast ja keine Ahnung!“ „Das verstehst du nicht!“ „Da kannst du dich nicht einfühlen!“

Der verbitterte Mensch ist ein einsamer Mensch. Jeder Versuch, ihn zu erreichen fällt in ein schwarzes Loch des Schweigens. Er gleicht dem Weizenkorn, das sich weigert, in die Erde zu fallen. So bleibt er allein.

Das heißt: Was ich jetzt und im Folgenden sage werde, kann verbitterte Menschen nicht erreichen. Dies ist eine wesentliche Einsicht für jeden, der Trost spenden will. Seine Grenzen werden von der Verbitterung gesetzt. So lange er dies nicht einsieht, arbeitet sich daran ab, den Anderen zu erreichen. Und in der Tiefe ist der Andere immer auch ein Aspekt von einem selbst.-

II.

Schauen wir uns doch einmal an, was Trost wörtlich heißt:

Trost“ bedeutet laut Duden „innere Festigkeit“. Etwas, auf das man sich wirklich verlassen kann, etwas, das stark und fest steht wie ein Baum. (In englisch „tree“ ist diese Wortverwandtschaft erhalten.) Es ist derselbe Stamm, aus dem heraus auch das Wort „treu“ entstanden ist und das Wort „Vertrauen“.

Insofern leben wir in einer „trostlosen“ Zeit: Wo man hinsieht, gibt es Lüge und Betrug. (Dies gilt keineswegs nur, wenn man nach Osten sieht. Ich erinnere an den letzten amerikanischen Präsidenten, der ein Inbegriff von Lüge und Betrug gewesen ist. Und natürlich auch an die Macht der Werbung …)

Trost beginnt also mit Verlässlichkeit. Dass jemand das, was er sagt, auch lebt. Dass ein Wort gilt, Bestand hat. Dass Versprechen, die gegeben worden sind, auch gehalten werden.

Es geht um Zuverlässigkeit.

Es geht nicht darum, perfekte Antworten zu haben. Überhaupt nicht.

(Perfektion ist auch so eine Kapsel, mit der man sich unberührbar gemacht hat.)

Es genügt, dass jemand da ist. Mir aufmerksam zu hört. Damit beginnt Trost.

Und indem er mir aufmerksam zuhört, fühle ich mich ernst genommen.

Für mich persönlich gibt es nichts Unangenehmeres als die „Vertröstung“.

Komm, war doch nicht so schlimm!“ Ich kenne jemanden, dem ist noch viel Schlimmeres passiert. Jetzt stell dich nicht so an …

Oder, ich laufe mit dem, was ich auf dem Herzen habe, ganz einfach ins Leere. Ich merke, wie der Andere durch mich hindurch schaut. So als gäbe es mich gar nicht. Es ist für Kinder entsetzlich, Eltern zu haben, die schweigen. Die sich nicht an der Lebendigkeit ihrer Kinder erfreuen können. Die nicht mit dem Leid ihrer Kinder mitfühlen, mitleiden können. Kinder wissen ja nicht, und können es nicht wissen, dass in ihren Eltern etwas zerbrochen, etwas erstarrt ist. So versuchen sie verzweifelt, ihre Eltern zu erreichen, ihnen eine Freude zu machen, für sie eine Freude zu sein …

Martin Luther ist so ein Kind gewesen. Und ich vermute, gerade in seelsorgerlichen Berufen finden sich nicht wenige, ehemals solche Kinder gewesen sind.

Schließlich gibt es noch die Vertröstung, die K. Marx als Opium für das Volk bezeichnet hat: Warte, bis du erst gestorben bist. Dann kommst du in den Himmel. Dann wird dir Gerechtigkeit widerfahren… Dann werden die Bösen endlich bestraft werden. Das Gefühl, das hierzu gehört, lautet: Genugtuung.

Es ist mir ein Trost, dass der Täter nicht ungeschoren davon kommt…

Wirklich? Ist das ein Trost? Kann Genugtuung in der Tiefe trösten?

Selbst wenn Putin als Kriegsverbrecher verurteilt würde: Es macht nicht einen einzigen im Krieg getöteten Menschen wieder lebendig.

Ich bin auf der Suche nach einem stärkeren Trost. Ich glaube, der stärkste Trost ist der, zu sich selbst und zu anderen wahrhaftig zu sein. Und wahrhaftig hat etwas mit ganzheitlich zu tun.

Trost beginnt damit, dass ich immer klarer im Sinne von ganzheitlicher die Wirklichkeit sehen lerne. Der einzige Boden nämlich, der mich trägt, ist: die Wahrheit! Er ist der einzige wirkliche Trost, der nicht täuschen kann.

Ich begleite als Psychoanalytiker Menschen dabei, dass sie allmählich den festen und sicheren Boden der Wirklichkeit ihres eigenen Lebens finden. Sehr oft gibt es auf diesem Weg Träume, die von steinigen oft auch gefährlichen Abstiegen im Gebirge handeln. Es ist eine Bewegung von oben nach unten, in die „Niederungen“ hinein.

Die Gegenbewegung dazu sind Träume, abheben, ja fliegen zu können. Zumeist sind diese Träume mit Glücksgefühlen, mit Gefühlen von großer Freiheit und Leichtigkeit verbunden. („Über den Wolken zu schweben, muss die Freiheit wohl grenzenlos sein!“) Das macht sie so verführerisch.

Das Verführerische ist, dass die Abstiegsträume, dass der Weg zur Wirklichkeit untrennbar mit Gefühlen von Angst und Unsicherheit einhergeht. Es ist der „steinige Weg“. Indem jemand sich dieser Wirklichkeit und diesen Gefühlen nicht stellen kann und/oder will, haust er sich immer weiter in seinen (Selbst-)Täuschungen ein. Die Wirklichkeit und die Boten der Wirklichkeit sind seine Feinde. Für ihn ist der größte Trost ein allmächtiger Gott, der alles im Griff hat. Zu dem er kommen wird nach seinem Tode. Für ihn ist der größte Trost ein Denken, das von der Spannung aus Allmacht und Ohnmacht lebt. „Ich glaube an Gott, den Allmächtigen …“ Dann ist die „Ohnmacht des Kreuzes“ nur ein Durchgangsstadium. Wie Jesus Christus in „Geduld“ sein Leiden ertragen hat, so sollt auch Ihr das tun. Denn dann – irgendwann – bekommt Ihr Anteil an der Herrlichkeit des Auferstandenen.

Ich persönlich glaube weder an Gott den Allmächtigen – dann kann ich nämlich nicht verstehen, wie Gott das ganze Leid zulässt.

Und ich glaube auch nicht an Gott den Ohnmächtigen – dann kann ich nicht verstehen, warum ich überhaupt irgendetwas machen sollte, mich für irgendetwas einsetzen sollte.

Ich vertraue der liebevollen Verbindung in dem, was das Wort „Gott“ versucht zu beschreiben, was ich mir nicht mehr vorstellen, worauf ich aber vertrauen kann: Die liebevolle Verbindung zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist. Dieser trinitarische Gott ist für mich „der Gott allen Trostes, der uns tröstet in aller unserer Bedrängnis…“ Aus diesem Trost gewinne ich die Kraft, andere, die in Bedrängnis sind, wirklich zu trösten – ohne sie zu vertrösten.

Dieser Trost ist sehr wirkkräftig – aber er ist nicht allmächtig. Wer seine Seele verschlossen hat, wer seine Fenster zu seiner Innen- und in Folge davon zu seiner Außenwelt verschlossen hat, den kann dieser Trost nicht trösten. Er kann sich nicht mehr in Verbindung erleben – weder zu sich noch zu seiner Umgebung. Echter Trost benötigt einen „Friedens-Korridor“, durch den er „hineinkommen“ darf. Je totalitärer ein Regime ist, je totalitärer die Grundstruktur eines Menschen ist, desto unwahrscheinlicher ist die Akzeptanz eines solchen Korridors.

Echter Trost kann nur den erreichen, der bereit ist, noch einmal den Weg durch den (alten) Schmerz zu gehen. Nicht, um sich zu quälen; vielmehr um sich und sein So-und-nicht-anders-geworden-Sein zu verstehen. „Die Leiden Christi werden reichlich über uns kommen“, schreibt Paulus. Die Leiden Christi sind die Leiden meiner Seele, die Leiden des Nicht-verstanden-worden-Seins, die Leiden des Falsch-Seins, die Leiden, nur über Leistung Anerkennung zu bekommen, die Leiden des Im-stich-gelassen-worden-Seins usw. Auf diesem Leidensweg kommt als erstes die alte Wut, ja der alte Hass darüber wieder hoch, was mir alles angetan worden ist. In dieser Wut erlebe ich mich verständlicherweise als Opfer.

Der Weg in die Freiheit aber – und da wird es dann so richtig schmerzhaft – ist, mir einzugestehen, dass ich selbst auch Täter geworden bin, dass ich selbst Seiten in mir habe, die ich so sehr verabscheue. Die ich versuche, mit Gewalt in anderen Menschen unterzubringen. Das ist das bekannte „Sich-empören-über-Andere“. Der Weg in die Freiheit führt darüber, sich mit seinen eigenen dunklen Seiten, die mich an Anderen so empören, vertraut zu machen: den eigenen Hass, den eigenen Neid, die eigene Überheblichkeit, die eigene Missgunst, die eigene Gier, die eigene Bemächtigung von Schwachem, die eigene Faulheit, das eigene Desinteresse usw.. Dieser Weg ist nur in enger Verbindung mit einem „Gott der Barmherzigkeit“ begehbar. Wie Paulus schreibt: Der Gott des Trostes ist zugleich der „Vater der Barmherzigkeit“.

Es bedarf dieser Barmherzigkeit, um nicht in den Erstarrungen der Täter-Opfer-Spaltungen stecken zu bleiben. Es bedarf des Verständnisses auch für die andere, für die Täter-Seite. Für meine eigene Täter-Seite. In dem über Jahrhunderte wirksamen Dogma, Gott habe seinen eigenen Sohn geopfert, da nur dieser Gottes Zorn tilgen konnte, wird noch einmal Täter und Opfer zementiert.

Im Johannesevangelium wird der Tod Jesu mit dem Sterben des Weizenkorns verglichen. Es ist ein Sterben für das Leben. Das verbitterte Weizenkorn kann nicht sterben: es kann nicht loslassen, nicht absehen von sich selbst. Und so „bleibt es allein“. Das verbitterte Weizenkorn ist einsam. Das sich hingebende Weizenkorn, das sich dem Leben öffnende Weizenkorn aber „bringt viel Frucht“.

Oder, weniger poetisch ausgedrückt: Das einsame Weizenkorn ist in sich selbst, in seinem Narzissmus gefangen. Es kreist in unendlichen Schleifen um sich selbst. Das sich dem Leben öffnende Weizenkorn lässt sich selbst und die Anderen sein. In aller Unvollkommenheit! Ihm genügt es, da zu sein und sich an seinem eigenen und am Dasein der Anderen zu freuen. So kommt das Frucht-Tragen von ganz alleine. Indem es aufhört, um sich selbst zu kreisen, richtet sich sein Leben auf das Wohl der Gemeinschaft aus, als dessen Teil es sich erlebt. Diese Gemeinschaft ist im Letzten die Gemeinschaft des Lebens. Und dies ist nichts anderes als die Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott. Den „Vater der Barmherzigkeit“, den „Gott des Trostes.“ Dass wir alltäglich in fester Verbindung mit ihm bleiben mögen, dazu verhelfe uns Gott, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist, AMEN.

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Jenseits von gut und böse

Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem!“

Dieses Wort von Paulus in Römer 12 wäre doch, so dachte ich, ein gutes Leitmotiv für ein Friedensgebet.

Doch dann kamen mir Zweifel: Geht das so einfach: Hier Gutes – dort Böses?

Zweifellos: In ein Land einmarschieren ist böse. Es ist empörend. Es schürt Gefühle von Wut und Hass. Diese Gefühle polarisieren. Und Polarisierungen helfen nicht zum Verstehen.

Sie helfen nur dazu, den eigenen Hass unterzubringen.

So habe ich mich entschieden, Ihnen Gedanken mitzuteilen, die sich nicht für derart polarisierendes Denken eignen. Angeregt wurde ich durch eine alte chassidische Geschichte.

Sie handelt davon, was einen guten Lehrer ausmacht.

Sie handelt von den Grenzen des Rat-Gebens, die ein guter Lehrer kennt und an die er sich hält.

Ich habe die Geschichte auch ausgesucht in einer Zeit, in der die Angst umgeht, in der guter Rat teuer ist.

Grenze des Rats

Die Schüler des Baalschem hörten von einem Mann als von einem Weisen reden. Einige unter ihnen verlangte es, ihn aufzusuchen und seine Lehre zu erfahren. Der Meister gab ihnen die Erlaubnis; sie aber fragten weiter: ‚Und woran sollen wir erkennen, dass er ein wahrer Zaddik ist?’ ‚Erbittet von ihm’, antwortete der Baalschem, ‚einen Rat, wie ihr es anzufangen habt, damit die unheiligen Gedanken euch nicht mehr beim Beten und Lernen stören. Gibt er euch einen Rat, so wisst ihr, dass er der Nichtigen einer ist. Denn das ist der Dienst des Menschen in der Welt bis zur Todesstunde, Mal um Mal mit dem Fremden zu ringen und es Mal um Mal einzuheben in die Eigenheit des göttlichen Namens.’“ (Martin Buber, Chassidische Geschichten, Zürich 1949, S. 151. )

Das Leben des Menschen ist kein: Ich will. Auch kein: Man gönnt sich ja sonst nichts, oder: Das steht mir zu!

Das Leben des Menschen ist ein Dienst.

Ein Dienst, der zu tun ist gerade und genau an der Stelle, an der ein Mensch gerade steht.

Ein Dienst in dem Rahmen, in dem jemand in der Lage ist, ihn zu tun.

Und was ist sein Dienst-Auftrag?

Mal um Mal mit dem Fremden zu ringen… bis zur Todesstunde!“

Also: bis zuletzt!

Was heißt das?

Schnell und oft ist das Fremde eine Bedrohung des Eigenen. Das Fremde ist das mir Unbekannte, das Neue, das Unerhörte. Das Fremde löst in mir etwas aus: Es befremdet mich. Instinktiv und intuitiv versuche ich es einzuordnen, einzugemeinden. Misslingt dies, werde ich es ausstoßen, von mir wegschieben, abschieben. Gelingt auch das nicht, werde ich versuchen, es zu vernichten. Dies erleben wir zur Zeit: Den Diktatoren ist Demokratie fremd und bedrohlich. Sich darauf einlassen würde bedeuten, sich von der Diktatur zu verabschieden. Es würde das vernichten, was mühsam aufgebaut worden ist.

Für mich als Kind einer über siebzigjährigen Friedensepoche sind die grausamen Bilder des Ukraine-Krieges, die Verzweiflung der Menschen, die unmenschliche Kälte der Mächtigen fremd. Sie stören, verstören, passen nicht hinein in meine eigene Sehnsucht nach Wärme, Harmonie und Geborgenheit. Ich erlebe sie als aufdringlich – wie ein Bettler, dessen bloße Anwesenheit mich stört. Ich will nichts mit ihm zu tun haben, erinnert er mich doch daran, wie gut es mir. Sein Betteln ist ein Angriff auf mein Leben.

Lieber schaue ich mir etwas Erbauendes an. Einen Krimi, wo ich von Anfang an weiß, der Böse wird gefasst werden. Er wird nicht davon kommen, Das beruhigt meine Seele.

In der Wirklichkeit ist es so anders: Der oder das Böse, die Lüge und der Betrug, die Täuschung haben die Oberhand. Sie tragen weiße Hemden und Krawatten und sehen sehr gepflegt aus. Zum Zerstören, zum Metzeln haben sie ihre Helfer. Es greift zu kurz, zu sagen, wir sind die Guten, die Anderen sind die Bösen.

Die Frohe Botschaft, das Evangelium ist die gute Nachricht von der Anwesenheit Gottes in dieser Welt – und nicht die schlechte Nachricht von seiner Abwesenheit. Aber wo ist Gott im Grauen? Wo ist er in den eingekesselten ukrainischen Städten? Wo ist er in der Seuche von Corona? Wo ist Gott im Mittelmeer, wo die Flüchtenden ertrinken?

Ich glaube, es ist gut, sich daran zu gewöhnen, dass Gott nicht so da ist, wie ich mir das wünsche. Wie ich meine es zu brauchen.

Gott ist kein Medikament, das ich bei Bedarf nehmen kann.

Gott ist keine Droge, die mir Gelassenheit und Ruhe schenkt.

Und vor allem: Der Gott, dem ich vertraue ist kein Gott der Macht und kein Gott des Sieges.

Die unheiligen Gedanken, die mich beim Beten stören, sind mein Hadern mit der Wirklichkeit, wie sie gerade ist. Sie soll anders sein – Gott, der doch allmächtig ist, soll sie anders „machen“. Er soll meinen Polarisierungen entsprechen, er soll meine Vorstellungen von gut und böse verwirklichen.

Einheben“ heißt: Dieses Hadern in mir Halten und Aushalten. Das ist etwas Anderes, als mich meinem „Genervt-Sein“ zu überlassen.

Akzeptieren, dass ich nicht die Kraft habe, die Wirklichkeit zu verändern. Alles, was ich kann, ist, meine Haltung zu dem, was ich vorfinde, zu verändern. Ich kann mit einem harten, abweisend verbitterten Blick meine Tage leben. Und ich ich kann mit einem weichen, freundlich barmherzig-zugewandten Blick meine Tage leben.

Ich kann mich zerstreut, gehetzt und genervt fühlen – dann ist alles „viel zu viel“ –

und ich kann mich eingerahmt von der Kraft der Liebe fühlen – dann ist zu tun, was eben zu tun ist.

In dem kleinen Rahmen, der mir eben möglich ist.

Es ist diese unscheinbare Kraft der Liebe, die es möglich macht, den Dienst des Menschen, den Dienst von uns Menschen, mal um mal, Tag für Tag, zu erfüllen.

Für die Ausübung selbst gibt es keinen Rat, sagt Baalschem. Ja – wer meint, er hätte einen Rat, eine Handlungsanweisung, der ist kein wirklicher Lehrer. Denn jeder von uns steht in der Tiefe auf seinen eigenen Füßen und hat seinen ganz eigenen, einmaligen Weg durch sein eigenes Leben zu finden.

Und jeder von uns Menschen hat die Freiheit, sich auf diesem Weg von seinem Hass oder von Gottes Liebe leiten zu lassen, AMEN.

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Schlussgebet Estomihi 2022

Großer, geheimnisvoller Gott,

manchmal frage ich mich, warum Leben so kompliziert ist.

Warum ist es um so viel leichter, sich von anderen Menschen abzuwenden, als sich ihnen zuzuwenden?

Warum ist es um so viel leichter, etwas zu zerstören, als etwas aufzubauen?

Warum ist es so verführerisch, sich in falschen Sicherheiten, in billigen Illusionen zu flüchten, als dem hellen Schein der Wahrheit zu begegnen?

Wenn ich mich dies frage, dann hadere ich mit dir. Dann will ich nicht wahrhaben, dass Leben so ist, wie es ist. Dann will ich ein anderes Leben haben.

Und dann werde ich schwer und müde und verliere die Lust am Leben

Oder ich werde gereizt und missmutig.

Ich weiß, dass ich dann schwer zu ertragen bin, Herr.

Ich weiß auch, dass du mir nicht helfen kannst, solange ich mir von dir nicht helfen lasse.

Und wenn ich dann meinen Widerstand aufgebe,

meine verschlossenen Türen öffne,

meine Mauern abtrage,

meine Gefängnisgitter absäge,

dann bist du da, wie ein frischer Morgen, wie ein erster Sonnenstrahl, der mich in der Nase kitzelt.

Und dann merke ich: du bist immer schon da gewesen, ich konnte dich nur nicht sehen, in meiner Blindheit, in meinem Kreisen um mich selbst.

Und dann spüre ich: du wirst immer da sein, so wie du immer da gewesen bist, denn deine Kraft, das ist die unzerstörbare Kraft des Lebens selbst und der Liebe zu jedem Augen-Blick, den das Leben für jeden von uns bereit hat.

Du bist auch und besonders bei den Menschen in der Ukraine, die in Angst und Schrecken leben.

Ihrer wollen wir heute besonders gedenken.

Und auch die Aggressoren schließen wir in unser Gebet ein.

Auf dass sie zur Vernunft zurückfinden!

Auch für sie beten wir, wie Jesus uns gelehrt hat:

Vaterunser …

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Predigt über Markus 8, 31-38 am Sonntag Estomihi (27.2.22) gehalten unter dem Eindruck des Ukrinekonfliktes

Liebe Gemeinde,

ich beginne mit einer persönlichen Vorbemerkung:

In den Religionen wird Sprache dazu verwendet, zu überzeugen. Ziel ist, dass dem, der etwas mitteilt, geglaubt wird. Im AT wird dafür die Autorität Gottes selbst ins Spiel gebracht: „So spricht Gott …“ heißt es bei den Propheten. „Wahrlich, ich sage Euch …“, heißt es im NT. Und „Predigen“ heißt wörtlich: „praedicare“, zu deutsch. „ausrufen“, „preisen“, „rühmen“. Es kann aber auch heißen: „festsetzen“, „befehlen“.

So gesehen sind meine Predigten allesamt eine Themaverfehlung.

Ich rühme niemanden und ich setze nichts fest. Es gibt auch keine Befehle im Sinne von: mach das – oder lass das! Und schon gar nicht würde ich ein „so spricht Gott…“ voran stellen. (Auch wenn ich dazu manchmal größte Lust hätte. Und zwar v.a. dann, wenn ich mich über etwas empören möchte!)

Meine Predigten sind ein Versuch, meinen Hörern Anteil zu geben an Gefühlen und Gedanken, die ein religiöser Text in mir auslöst. Nicht mehr aber auch nicht weniger. Es ist mein subjektives Verständnis eines Textes – auf dem Hintergrund meines Theologiestudiums und meines Psychoanalysestudiums.

Dies ist der Hintergrund, auf dem sie meine nun folgende Predigt hören mögen!

Liebe Gemeinde,

der heute zu predigende Text löst bei mir als erstes Abneigung aus. Ich glaube, das hat damit zu tun, dass er sich sehr gut als Magna Charta, als Fundament für die Gründung einer religiösen Sekte oder eines totalitären Staates eignet. Da ist von den Schriftgelehrten die Rede, die Jesus töten werden, da wird Petrus, einer der engsten Freunde Jesu, als Satan beschimpft, um schließlich in dem hässlich-hassvollen Satz zu gipfeln: „Denn wer sich meiner und meiner Worte schämt unter diesem ehebrecherischen und sündigen Geschlecht, dessen wird sich auch der Sohn des Menschen schämen, wenn er kommen wird in der Herrlichkeit seines Vaters mit den heiligen Engeln.“ (Vers 38) Das könnten Sätze eines Diktators sein, dem jegliche Empathie abhanden gekommen ist. „Denken Sie doch an die unschuldigen Menschen, die vom Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine betroffen sind, die im schlimmsten Fall getötet werden“, hatte unsere Außenministerin fast flehentlich gesagt. Für einen empathischen Menschen ist es nicht leicht, sich vorzustellen, wie gefühllos Menschen sein können. Und noch schwerer ist es, darauf nicht mit eigenem Hass zu reagieren. Sich nicht vom Hass, den ich spüre, infizieren zu lassen.

Liebe und Hass – das sind emotionale Grundbausteine des Lebens. Und je mehr wir unsere eigenen „hässlichen“ Seiten verleugnen, desto mehr Macht über uns erlangen sie. „Lass dich nicht vom Bösen überwinden; überwinde das Böse mit Gutem“, schreibt Paulus im Römerbrief. Übrigens derselbe Paulus, der im ersten Korintherbrief seiner Wut auf die Korinther freien Lauf lässt. Im selben Brief, in dem er auch das sogenannte Hohe Lied der Liebe schreibt, das wir vorhin gehört haben.

Für mich heißt „Jesus nachzufolgen“ nichts anderes, als die eigene Liebefähigkeit zu stärken. Damit wird automatisch die eigene Bereitschaft zum Hassen geschwächt. Wenn wir die einfühlende Liebe verlieren, sind wir schutzlos unserem eigenen Hass ausgeliefert.

In der neu revidierten Lutherbibel trägt unser Predigttext die Überschrift:

Von der Nachfolge“. Ich werde im Folgenden neun Punkte benennen, die meiner Meinung nach eine „Nachfolge in Liebe“ ermöglichen. Ich erhebe damit keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit.

Erstens: Nachfolge in Liebe bedeutet, dass die Existenz eines Satans, eines „Verwirrung-Stifters“ und eines Feindes meiner Fähigkeit zu lieben, nüchtern anerkannt wird. Erst dann nämlich kann ich mich mit ihm auseinander setzen und ihn in nüchterner Liebe auf den richtigen Platz stellen. Er muss sich hinten anstellen. „Geh hinter mich, du Satan!“ „Du meinst nicht, was göttlich ist, sondern was menschlich ist.“ Menschlich ist, dem Leiden, den Schmerzen und den damit verbundenen vermeintlich unerträglichen Gefühlen auszuweichen. „Ich will das nicht haben“, sagt der Mensch. „Du musst das auch nicht aushalten“, sagt Satan!

Nüchterne Antwort:

Du stellst dich hinten an. Nicht länger bestimmst du meinen Weg. Nicht länger lasse ich mich von dir in die Irre führen bzw. verführen.“

Zweitens: „Das eigene Kreuz zu sich zu nehmen und zu tragen, ja zu ertragen“ – das hält Satan für völlig überflüssigen Unfug. Satan wirbt für maximalen Lustgewinn. Man könnte auch sagen, er macht Propaganda für Lust. Solche Propaganda-Sätze können heißen: „Das hast du dir jetzt echt verdient!“ Oder: „Man gönnt sich ja sonst nichts!“ Auch: „Das musst du dir nicht bieten lassen!“ „Wenn du stark bist, schlägst du zurück.“ (In Klammern: Wussten Sie übrigens, dass der Begriff „Propaganda“ in unserer Bedeutung, nämlich durch Werbung für die Ausbreitung von irgend einer Botschaft zu sorgen, erstmals im kirchlichen Bereich Verwendung fand? Im Jahr 1622 wurde in Rom eine „päpstliche Gesellschaft zur Verbreitung des Glaubens“ gegründet. Die hieß auf lateinisch: „congregatio de propaganda fide“. Klammer zu.)

Drittens: Der Weg der Nachfolge in Liebe beginnt mit Verleugnung. „Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst.“ „Verleugnen“, griechisch „aparneomai“, bedeutet wörtlich: „sich lossagen“.

Lossagen heißt sich lösen von all den Selbst-Täuschungen, denen ich aufgesessen bin. Alle Betrüger dieser Welt betrügen sich in der Tiefe selbst. Machen sich selbst etwas vor und verbringen ihr Leben damit, sich diese Täuschungen schön zu reden. Sie fliehen vor dem Blick in den Spiegel; sie weichen der Frage: „Wer bist du in Wirklichkeit?“ aus. Das Prinzip Satan erklärt diese Frage als uninteressant. Da, wo Selbst-Erkenntnis geschehen könnte, findet Selbst-Ablenkung statt.

Viertens: Menschen wie Jesus ist es möglich geworden, einen Blick hinter die Kulissen des Schauspiels Selbst-Täuschung zu werfen. Und er hatte den Mut, diesen Blick mitzuteilen und zu sagen: Ihr seid doch alle Schauspieler. Das ist doch nicht echt, was ihr da treibt. Ihr redet von Gott – und lasst Euch leiten von Satan. Dass jemand mit einer derartigen Botschaft gekreuzigt wurde, ist da nicht weiter verwunderlich.

Fünftens: An Jesus glauben, seine Botschaft verinnerlichen, mit und in ihr zu leben, führt keineswegs ins Paradies unbegrenzter Lusterfüllung. Zunächst einmal führt seine Botschaft in die Öde und Kargheit des Verzichts. Des Verzichtes darauf, sich weiterhin etwas vor zu machen. Ein notwendiges Gefühl am Beginn dieses Weges ist das Erschrecken über sich selbst. „Oh Gott, wie konnte ich mich nur so täuschen?“ Es gehört viel Mut und Kraft dazu, sich seine eigenen Täuschungen einzugestehen. Dieses Eingeständnis wird nämlich noch von einem weiteren, sehr unangenehmen Gefühl begleitet: Der Angst, verrückt zu werden. Und dieses Gefühl ist absolut angemessen: Auf dem Weg in die Nachfolge werde ich ver-rückt. Alles, was ich bislang für sicher hielt, wird nämlich in Frage gestellt und neu geordnet, neu aufgestellt.

Sechstens: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er sich selbst gewönne und doch Schaden nähme an seiner Seele?“

Die Abwehr dieses Satzes ist einfach und verbreitet. Da ich nicht weiß, was Seele ist, muss ich mich auch nicht mit ihr beschäftigen. Aber ich weiß, wie es geht, in dieser Welt Anerkennung und Ruhm zu bekommen. Und das hilft mir was. „Haste was, bist du was!“

Was bringt demgegenüber die Beschäftigung mit sich selbst?“ – „Eben: nichts!“

Siebtens: Jesus predigte das Reich Gottes – gekommen aber ist die Kirche.

Und die Kirche musste kommen, weil Jesu Predigt sich nicht dafür eignet, mit ihr eine Gemeinschaft oder gar einen Staat zu etablieren. Im Urchristentum lebte man wohl in einer Art Kommune. Die Hippie-Bewegung der Sechziger-Jahre des letzten Jahrhunderts mit ihrem Slogan: „All you need is love“ ist – glaube ich – sehr nahe diesem urchristlichen Gedankengut. Es ist eine wunderschöne Vision – nur nicht dafür geeignet, menschliches Zusammenleben zu ordnen. Nebenbei: Wir wissen, dass es auch im Urchristentum einen erheblichen Streit zwischen Petrus und Paulus gab, der im sogenannten „Apostelkonzil“ beigelegt worden ist. Menschliches Zusammenleben benötigt einen klaren und verlässlichen Rahmen. Wie schwer es uns Menschen fällt, sich an einem Rahmen zu halten, hat der Missbrauchsskandal der katholischen Kirche gezeigt. Und zeigt aktuell das Handeln Putins.

Achtens: Deshalb ist es auf dem Weg liebevoller Nachfolge unabdingbar, dem eigenen Hass, der eigenen Bereitschaft zu zerstören, ins Auge zu blicken – um ihr Einhalt zu gebieten zu können. Das setzt aber voraus, Zerstörerisches als Zerstörerisches überhaupt erst Mal zu erkennen. Putin sagt, er schützt und sichert die Ukraine und damit Russland vor den westlichen Feinden. Sein Krieg ist „eine Friedensmission“. Die Schriftgelehrten damals wollten ihr religiöses System vor einem vermeintlichen Gotteslästerer schützen. Deshalb musste er vernichtet werden.

Neuntens: Es bleibt uns nicht erspart, eine eigene Position zu beziehen. Ich versuche alltäglich meiner Fähigkeit zu lieben Raum zu geben. Und ich scheitere alltäglich und lasse mich verführen zu hassen. In dem Ganzen brauche ich einen barmherzigen vergebenden Gott. Einen Gott, der die Liebe ist.

Und mein Gebet an ihn ist sehr kurz:

Gott, sei mir Sünder gnädig! AMEN.

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Predigt über Matthäus 14, 22 – 33 am 4. Sonntag vor der Passionszeit 2022

Liebe Gemeinde,

heute geht’s um’s „Bewundern“.

„Kommet her und sehet die Werke Gottes, der so wunderbar ist in seinem Tun an den Menschenkindern!“

Mit diesem Psalmvers wurde unser Gottesdienst eingeläutet, er möge uns in dieser Woche begleiten.

Das Evangelium handelt von der „wunderbaren Stillung des Sturms“.

Nun scheint zum Bewundern unabdingbar Angst dazu zu gehören: „Und sie fürchteten sich sehr und sprachen untereinander: ‚Wer ist der, dass ihm Wind und Meer gehorsam sind?’“

In der anderen bekannten Geschichte, bei der die Jünger ebenfalls in einem Boot sitzen, freilich alleine, ohne ihren „Meister“, geht es auch um Angst. Um die Angst eines besonderen Jüngers mit Führungsqualitäten – um die Angst von Petrus. Doch hören Sie selbst, aus dem Evangelium des Matthäus im 14. Kapitel:

22 Und alsbald drängte Jesus die Jünger, in das Boot zu steigen und vor ihm ans andere Ufer zu fahren, bis er das Volk gehen ließe. 23 Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg er auf einen Berg, um für sich zu sein und zu beten. Und am Abend war er dort allein. 24 Das Boot aber war schon weit vom Land entfernt und kam in Not durch die Wellen; denn der Wind stand ihm entgegen. 25 Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem Meer. 26 Und da ihn die Jünger sahen auf dem Meer gehen, erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst!, und schrien vor Furcht. 27 Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht! 28 Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser. 29 Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu. 30 Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, rette mich! 31 Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? 32 Und sie stiegen in das Boot und der Wind legte sich. 33 Die aber im Boot waren, fielen vor ihm nieder und sprachen: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!“

Bewundern und Angst gehören offensichtlich zusammen. Und das Bewundern ist eine Möglichkeit, Angst los zu werden. „Idealisieren“ wird das in der Psychologie genannt.

Es ist die Angst vor der „nüchternen“, vor der „wirklichen“ Wirklichkeit.

Indem ich jemand bewundere, ihn oder sie auf seinen Sockel stelle, muss ich mich nicht mehr mit der Wirklichkeit beschäftigen. Jemand, den ich bewundere, der „steht für sich“. Er befriedigt meine Sehnsucht nach Allmacht, Allwissenheit, ewigem Leben usw. Und indem ich ihn/sie/es bewundere werde ich selbst herausgehoben aus der alltags-grauen Wirklichkeit, in der ich gerade stecke. Wer anfällig für Bewunderung ist, der befindet sich notwendig in einer Wirklichkeit, die ihn nicht befriedigt. Und versucht mit aller Macht, die Bewunderung aufrecht zu erhalten. Wenn es dann überhaupt nicht mehr geht, ist die Enttäuschung um so größer, der Fall des ehemals Bewunderten um so tiefer.

Diese Dynamik muss gerade die katholische Kirche erleben und v.a. erleiden.

Der Jesus, der uns in unserem heutigen Predigttext vorgestellt wird, soll bewundert werden. Whow – er kann auf dem Wasser gehen, er kann direkten Einfluss auf das Wetter nehmen. …

Dieser Jesus, oder besser die Fantasien über solch einen Jesus, stammen aus der Kindheit. Zur gesunden Entwicklung eines Kindes gehören „Gestalten“, die es bewundert. Das können Tiere sein (Das Pferd Fury, der Hund Lassie, der „König der Löwen“ usw.) und das können Menschen sein. Bei mir waren es eine Zeitlang Winnetou und Old Shatterhand. Oder – moderner – Harry Potter. Natürlich können das auch grausame Machthaber sein. Sie alle sind „Helden der Kindheit“: sie leben so, wie ich als Kind auch gerne leben würde. Auf dem Weg der Entwicklung zum Erwachsenen, wird aus diesen „Bewunderungen“ ein Ideal. Ideal heißt: „So würde ich gerne sein!“

Je „abgehobener“ dieses Ideal von der Wirklichkeit ist, desto schwerer habe ich es. Wenn ich erst dann mit mir zufrieden bin, wenn ich auch auf dem Wasser laufen kann, werde ich sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne „absaufen“. Die Bemerkung: „Wenn du untergehst, dann war dein Glaube halt noch nicht groß genug“, ist in diesem Zusammenhang das zynische Festhalten an einem unrealistischen Ideal.

Nun gibt es Berufe, die sich in ganz besonderem Maße dafür eignen, höchste Ideale zu realisieren. Es sind die „rettenden“ Berufe. Dies sind allesamt soziale Berufe: Ärzte, Therapeuten, Priester, Politiker – sie alle umgibt die Aura von Größe, von Macht und eben auch von Rettung. Anfällig für solche Berufe sind Menschen, die als Kinder, erlebten, dass ihr Auftrag es ist, Vater und/oder Mutter zu stabilisieren, zu stützen, ja zu retten …

Wenn ich dich nicht hätte“, hat es geheißen.

Oder: „Du bist mein Retter!“ Oder: „Du bist genial (für mich)!“

Eigene (Trieb-)Regungen wurden brutal unterbunden oder abgeschnitten oder gewaltsam „heraus geprügelt“.

Daraus erwuchs in der kindlichen Seele die Überzeugung, mein Lebenssinn, meine Existenzberechtigung besteht darin, für den Anderen da zu sein, für ihn nützlich zu sein! Etwas platt formuliert: Ich soll so sein, dass ich von meinem Vater, meiner Mutter, meinem Chef gut gebraucht werden kann. Dann bekomme ich die ersehnte Anerkennung. Das ist die Schwester des sexuellen Missbrauchs: Es ist der narzisstische Missbrauch.

Solche Kinder haben verinnerlicht, dass das ganz eigene Leben, die ganz eigene Kreativität, die ganz eigenen Gefühle unerwünscht sind. Sie sind böse. Wenn man sie fühlt, hat man den Platz in der Gemeinschaft verloren. Für den katholischen Priester geht dieses Ideal so weit, dass er auch die Kraft seiner ureigensten Lebendigkeit – seine Sexualität – dem opfern soll, was „Gott“ genannt wird. Dies ist sowohl ein Missbrauch an Gott („Ich will Eure Opfer nicht!“ heißt es bei Hosea.) als auch ein Missbrauch an dem jungen Mann, der Priester werden will. Der zur Zeit zurecht beklagte Missbrauchsvorwurf vieler katholischer Priester ist psychodynamisch nur der Ausdruck dieser Missbrauchsbeziehung. Wer seine Identität auf Missbrauch aufgebaut hat, kann nicht anders als sich selbst und ihm Anvertraute missbrauchen.

Soweit – so gut. Nur: Wenn wir unsere Geschichte nicht als Super-Helden-Geschichte lesen, was bleibt dann noch von ihr übrig?

Ergibt sie dann noch Sinn oder sollte man sie nicht – wie Vieles andere was in der Bibel steht – auf den Müll der Geschichte ablegen? Ist sie nicht genauso veraltet, wie unser ganzer Glaube, wie unser ganzes Christentum? Stehen wir nicht weiß Gott vor anderen Aufgaben: Stichwort Klimawandel, Stichwort Corona, Stichwort Ukraine.

Es kann durchaus sein, dass wir als Menschheit allesamt untergehen. Ohne dass es eine rettende Hand gibt, die uns da herauszieht.

Aber darum geht es m.E. in der Geschichte auch gar nicht. Ich lese unsere Geschichte als Veranschaulichung. Sie veranschaulicht die „Überwindung“ der Zeit. Wie damals, als sich das Schilfmeer teilte und die Israeliten trockenen Fußes ans andere Ufer kamen. Auch sie wurden nicht von der Zeit verschlungen. Aber dieses Wunder führte sie nicht in das Paradies oder Schlaraffenland, sondern – in die Wüste. Und immer wieder „murrte“ das Volk, wollte zurück zu den „alten Zeiten“, zu den „Fleischtöpfen“ Ägyptens, zu den „Brüsten der Mutter“.

Der auf dem Wasser wandelnde Jesus veranschaulicht die Möglichkeit, in der Zeit die Zeit zu „vergessen“. Die Verwirklichung dieser Möglichkeit nennen wir „in der Gegenwart sein.“ Nicht mehr – aber auch nicht weniger.

In der Gegenwart sein heißt: da sein. Mit allem, was mich ausmacht. In der Gegenwart sein heißt wahrnehmen, was gerade wahrzunehmen ist. Die Modeworte „Achtsamkeit“, „Aufmerksamkeit“ usw. sind Ausflüsse des „In-der-Gegenwart-Seins“.

Auf der einen Seite gilt: Unser Leben spielt sich in der Zeit ab. In ihr kommen wir auf die Welt, in ihr werden wir groß, in ihr machen wir unsere Erfahrungen, in ihr werden wir alt und in ihr sterben wir. Diese Zeit lässt sich als Pfeil, als gerichtete Linie visualisieren.

Auf der anderen Seite gibt es das „Verlassen“ oder „Vergessen“ dieser Zeit. Dies findet z.B. regelmäßig in Träumen statt, wo wir mühelos von Situationen sogar von Menschen träumen können, die es längst nicht mehr gibt. Das ist die vertikale Dimension des Erlebens.

Es gibt Menschen – insbesondere spirituelle Menschen -, die meinen, die „Lösung“, die „Erleuchtung“, wäre es, die Zeit zu „überwinden“. Ganz und gar gegenwärtig zu leben, „reine Präsenz“ zu erleben. Sie können sehr lange meditieren, bewusst atmen usw. Was sie aber nicht können, ist, die meditative oder kontemplative Erfahrung in ihr Alltags-Leben zu integrieren. So bleibt es bei einer „Spaltung“ oder „Aufteilung“ zwischen Alltag und Kontemplation. Aus dieser Spaltung heraus wird z.B. verständlich, dass hoch spirituelle Menschen gleichzeitig massiv abwertend, ja böse sein können. Wenn z.B. ein Bernhard von Clairvaux zum Heiligen Krieg gegen die Muslims aufruft, scheint seine spirituelle Lebenshaltung völlig verloren gegangen zu sein. Ähnliches gilt für die antisemitischen Äußerungen von Martin Luther. Und natürlich auch für die Position der Kirche – evangelisch wie katholisch – im III. Reich.

Es geht also um die gute, dem Leben dienende Verbindung zwischen dem schnöden alltäglichen Leben in der Zeit und einem spirituell-meditativen Leben „jenseits“ der Zeit.

Ich möchte dies abschließend mit einer Geschichte veranschaulichen, die ich bei A. de Mello gefunden habe:

Das Geheimnis der Zufriedenheit

Es kamen ein paar Suchende zu einem alten Zenmeister.

„Herr“, fragten sie „was tust du, um glücklich und zufrieden zu sein? Wir wären auch gerne so glücklich wie du.“

Der Alte antwortete mit mildem Lächeln: „Wenn ich liege, dann liege ich. Wenn ich aufstehe, dann stehe ich auf. Wenn ich gehe, dann gehe ich und wenn ich esse, dann esse ich.“

Die Fragenden schauten etwas betreten in die Runde. Einer platzte heraus: „Bitte, treibe keinen Spott mit uns. Was du sagst, tun wir auch. Wir schlafen, essen und gehen. Aber wir sind nicht glücklich. Was ist also dein Geheimnis?“

Es kam die gleiche Antwort: „Wenn ich liege, dann liege ich. Wenn ich aufstehe, dann stehe ich auf. Wenn ich gehe, dann gehe ist und wenn ich esse, dann esse ich.“

Die Unruhe und den Unmut der Suchenden spürend, fügte der Meister nach einer Weile hinzu: „Sicher liegt auch Ihr und Ihr geht auch und Ihr esst. Aber während Ihr liegt, denkt Ihr schon ans Aufstehen. Während Ihr aufsteht, überlegt Ihr wohin Ihr geht und während Ihr geht, fragt Ihr Euch, was Ihr essen werdet. So sind Eure Gedanken ständig woanders und nicht da, wo Ihr gerade seid. In dem Schnittpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft findet das eigentliche Leben statt. Lasst Euch auf diesen nicht messbaren Augenblick ganz ein und Ihr habt die Chance, wirklich glücklich und zufrieden zu sein.“

So einfach ist das – und zugleich so schwer!

Gott ist ein Gott der Gegenwart, sagt Meister Eckhart.

Gebe dieser Gott, dass wir mit der Fülle oder auch Leere dessen, was uns je und je umgibt, einverstanden sind. So wird Zufriedenheit und Glück von selber in unsere Seele einziehen, AMEN.

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Predigt über Jesaja 42, 1-9 am 1. Sonntag nach Epiphanias 2022

Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.“ (Römer 8,14)

Diese einfache und einprägsame Aussage aus dem Römerbrief – der heutige Wochenspruch – bündelt die Texte des Gottesdienstes am ersten Sonntag nach Epiphanias. Man könnte ihn auch den „Sonntag der Kinder Gottes“ nennen. Und diesen Kindern Gottes ist eben eines gemeinsam: Sie sind vom Geist Gottes Getriebene. Ihr Antrieb ist Gottes Geist. Was das heißt und wie sich das lebenspraktisch auswirkt, davon handelt ein prophetisches Wort aus dem alttestamentlichen Buch des Propheten Jesaja.

Kapitel 42

Siehe, das ist mein Knecht, den ich halte, und mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat. Ich habe ihm meinen Geist gegeben; er wird das Recht unter die Heiden bringen. Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen. Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. In Treue trägt er das Recht hinaus. Er selbst wird nicht verlöschen und nicht zerbrechen, bis er auf Erden das Recht aufrichte; und die Inseln warten auf seine Weisung.

So spricht Gott, der Herr, der die Himmel schafft und ausbreitet, der die Erde macht und ihr Gewächs, der dem Volk auf ihr den Atem gibt und Lebensodem denen, die auf ihr gehen: Ich, der Herr, habe dich gerufen in Gerechtigkeit und halte dich bei der Hand. Ich habe dich geschaffen und bestimmt zum Bund für das Volk, zum Licht der Heiden, dass du die Augen der Blinden öffnen sollst und die Gefangenen aus dem Gefängnis führen und, die da sitzen in der Finsternis, aus dem Kerker.

Ich, der Herr, das ist mein Name, ich will meine Ehre keinem andern geben noch meinen Ruhm den Götzen. Siehe, was ich früher verkündigt habe, ist gekommen. So verkündige ich auch Neues; ehe denn es sprosst, lasse ich’s euch hören.

Sie merken schon am Beginn: Hier wird etwas ganz Besonderes besser jemand ganz Besonderes vorgestellt: Siehe, das ist mein Knecht, den ich halte, und mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat.

Kind Gottes zu sein bedeutet Knecht und Auserwählter in einem zu sein. Auserwählt zu dienen.

Auf ihm liegt Gottes Geist – und aus dieser Kraft heraus wird sich seine Wirksamkeit entfalten:

Er wird das Recht bringen – zu allen Völkern der Erde. Das ist die Überschrift.

Und wie wird er das anstellen?

Durch Nicht-Tun!

Nicht durch Geschrei – „seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen“ (Vers 2).

Nicht durch Gewalt – „das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.“ (Vers 3a)

Und was wird er „tun“ – indem er nicht tut?

Er trägt das Recht in Treue hinaus.“ (Vers 3b)

Er öffnet „die Augen der Blinden“ (Vers 7a).

Er führt „die Gefangenen aus dem Gefängnis“ und „die da sitzen in der Finsternis aus dem Kerker“ (Vers 7b).

Und woher weiß der Knecht Gottes, dass dies seine Aufgabe ist?

Er wurde von Gott, dem Schöpfer des Himmels und der Erde, genau dafür „gerufen“, ja „geschaffen“ (Vers 6). Nichts anderes ist seine Existenzberechtigung, ist seine Identität.

So weit – so gut. Spüren Sie die unglaubliche Wucht dieser Sätze! Da ist ein Prophet seiner Sache, seiner Verkündigung sehr sicher. Er spricht in prophetischer Vollmacht. Er spricht als einer, der Gott, den Allmächtigen, im Rücken hat: „Ich der Herr habe dich gerufen in Gerechtigkeit und halte dich bei der Hand.“ Er wurde der „Zweite Jesaja“ (Deuterojesaja) genannt, der das Volk Israel aufrütteln, ihm Mut einhauchen möchte gleich dem Gott, der den Menschen seinen Lebens-Atem in die Nase bläst.

Wer so viel Mut benötigt, der liegt wohl ziemlich am Boden. Der fühlt sich wie ein „glimmender Docht“, wie ein „geknicktes Rohr“. Und so ist es wirklich. Deuterojesaja spricht zu Gefangenen, zu Deportierten. Es ist die babylonische Gefangenschaft, in der sich das Volk Israel, in der sich „Gottes eigenes Volk“ befindet. Von daher ist zunächst einmal der Zuspruch des Propheten als Zuspruch für Israel zu lesen. Dies anzuerkennen und nicht vorschnell seine Worte auf unseren „Herrn Jesus Christus“ hin zu deuten, tut uns Christen sehr gut. Und wenn wir sie dann in den weihnachtlichen Kontext der Geburt Jesu Christi stellen, so bitte nicht in der selbstgerecht-überheblichen Weise einer „Judenmissionierung“ nach der Art: „Ihr ward ja zu dämlich dafür, euren eigenen Messias zu erkennen!“ Es ist zu bekennen: Das Christentum ist als Bemächtigungs-Religion groß und erfolgreich geworden. „In diesem Zeichen wirst du siegen!“ Auch wenn es sich so wohl historisch nicht zugetragen hat – so wurde doch im Zuge des Sieges von Kaiser Konstantin das Christentum zur Staatsreligion. Tragische Ironie: Gottes Knecht ist genau kein Bemächtiger! Ganz im Gegenteil: „Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.“ Gottes Knecht ist ein Beschützer und Bewahrer!

Dieses beschützende und bewahrende Nicht-Tun ist Kennzeichen derer, die wirklich vom Geist Gottes getrieben sind. Sie haben nämlich verinnerlicht: Wirkliche Veränderung geschieht im Stillen, geschieht gewaltlos! Und: wirkliche Veränderung lässt sich nicht machen. Um dies auszuhalten bedarf es Fähigkeiten, die allesamt mit Bescheidenheit zu tun haben: „In Treue trägt er das Recht hinaus“ (Vers 3b). Er macht kein großes Geschrei, nicht mit Pauken und Trompeten verkündet er das Recht. Er „richtet (es) auf!“ (Vers 4a) Aufrechter Gang, diese spezifisch menschliche Fähigkeit, hat mit „aufrichtig“ zu tun. Aufrechten Hauptes den eigenen Lebensweg gehen: Das ist die Bestimmung des Gottesknechtes, das ist die Bestimmung derer, die sich vom Geist Gottes treiben lassen. Gemeint ist dies durchaus auch im moralischen Sinne. Aber die Quelle dessen, aus der heraus wir als Kinder Gottes leben, sprudelt jenseits der moralischen Aufteilung in gut und böse.

Ich bin der Herr dein Gott, der dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt hat …“ (2. Mose 20, 2) – das ist die Überschrift über alle Moral. Moral ist sekundär; sie ist abzuleiten aus der Beziehung zu jenem befreienden Gott, dessen Repräsentanten, dessen Gesandter und dessen Knecht uns heute vorgestellt wird. In der sicheren Vertrauens-Beziehung zu jenem befreienden Gott hat alles Sollen ein Ende. Für uns, die wir zum Gottes-Kind-Sein befreit sind, ist alles Sollen belanglos. Wir werden nicht mehr töten, nicht mehr stehlen, nicht mehr huren usw. Nicht, weil uns jemand vorschreibt, dass wir das alles nicht tun sollen. Eher schon so, dass wir es aus uns selbst heraus nicht mehr tun wollen. Mehr noch: Wer vom Geist Gottes getrieben ist, der kann nicht mehr anders. Das ist das Verrückte! Es ist verrückt, weil das Kind Gottes ver-rückt geworden ist: Es wurde hinein gerückt in die Beziehung zu einem barmherzigen, liebevollen Gott. Hesekiel hat das in seinen Worten so ausgedrückt: „Ich will ihnen ein anderes Herz geben und einen neuen Geist in sie geben und will das steinerne Herz wegnehmen aus ihrem Leibe und ihnen ein fleischernes Herz geben.“ (Hesekiel 11, 19) Wer sich traut, sich ein „fleischernes Herz“, das zu Einfühlung fähig ist, schenken zu lassen, der kann gar nicht anders, als aus einem neuen Geist heraus zu leben. Es ist der Geist der Liebe: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.“ (Galater 2, 20a) Wer den Mut zu dieser „Herz- und Geist-Transplantation“ aufbringt, ließ sich von Gott fangen und vernichten – und gerade so zu Gott hin befreien. Oder in den Worten des islamischen Mystikers Rumi:

Die Liebe ist wie ein Hund. Sie packt uns alle beim Genick und schleppt uns Zappelnde zu Gott.“

Und es ist unsere Angst verbündet mit unserem Hass, die uns dazu treiben, vor diesem Hund zu fliehen!

So entsteht die entscheidende Frage:

Wie geschieht echte Verwandlung? Wie wird aus einem „Kind der Angst“ ein „Kind Gottes“?

Wie geht das: Die Augen der Blinden öffnen, die Gefangenen aus dem Kerker zu führen?

Noch einmal: Ganz sicher nicht durch Gewalt. Mit Gewalt, im Zwang, Elemente, die leider oft zur Missionierung (und Erziehung) gehörten, geschieht keine wirkliche Veränderung. Es bedarf einer radikalen Freiwilligkeit. Aber woher den „freien Willen“ nehmen, solange er gefesselt im Kerker der Angst liegt?

Ausgangspunkt ist nicht, was sein sollte, oder – schlimmer noch – wie der Andere sein sollte. Ausgangspunkt ist das, was ist. Das, was ist, aber ist die Wirklichkeit: die eigene, wie die des Anderen. Dies gilt in gleichem Maße in der Seelsorge wie in der Psychotherapie. Die große Verführung für Seelsorger/Therapeuten/Pfarrer ist, aus Harmoniesehnsucht und Konfliktscheu mit den Selbsttäuschungen des Patienten/der Gemeinde eine Komplizenschaft zu bilden. Oder anders ausgedrückt: Anstatt das Erleben von Enge und Gefangenschaft ernst zu nehmen, wird gemeinsam so getan, als säße man auf einer lichtdurchfluteten grünen Wiese. Erst wenn ich anerkennen kann, dass ich im Gefängnis sitze und darunter leide, entsteht in mir eine Sehnsucht nach Freiheit. Für diese Anerkenntnis aber bedarf ich eines Begleiters, der den Weg aus seinem eigenen Gefängnis heraus gefunden hat. Sitzt er selbst in seinem eigenen Gefängnis, entsteht eine Compliance der Gefangenen – aber keine Entwicklung zur Freiheit hin. Einfacher ausgedrückt: Gefangene reden über Freiheit – anstatt darum zu kämpfen, frei zu werden!

Der Weg in die Freiheit führt Schritt für Schritt hinein in die Unsicherheit. Dies macht diesen Weg so steinig. Gefängnisse sind nämlich die sichersten Orte auf dieser Welt! Ist die Angst vor Unsicherheit zu groß, ist der Hass auf Freiheit zu groß, dann kann auch Rumis Hund der Liebe nichts ausrichten. Er kann nur diejenigen am Genick packen, die bereit sind, sich auch packen zu lassen. Und das geht nicht ohne Leiden daran, wie es ist. Es ist der berühmte „Leidensdruck“, der möglicherweise zu Veränderungen führt. Damit hängt zusammen, dass wirksame Seelsorge/Therapie schmerzhaft ist und schmerzhaft sein muss. Die Taufe, bei der in der Alten Kirche der Täufling unter Wasser gedrückt worden ist, damit er Todesangst verspürt, symbolisiert wirkliche Veränderung. Es ist das Ahnen, dass das Erhalten eines „Neuen Herzens“ und eines „Neuen Geistes“ nur über den Weg des Ertragens von und irgendwie Zurecht-Kommens mit Todesangst führt. Das ist der Preis für wirkliche Veränderung.

Und das ist die Schwäche allen Predigens: Es ist notgedrungen ein „Reden über“!

Die entscheidende Frage lautet: Wie kann ein „Reden über“, das der Verstand versteht, so zu Herzen gehen, dass ein neues, ein „fleischernes Herz“ wachsen kann?

Antwort: Überhaupt nicht.

Rabbi Dow Ber, der Maggid von Mesritsch sagte einmal: „Kein Ding der Welt vermag aus einer Wirklichkeit in eine andere zu kommen, wenn es nicht vorher zum Nichts, das ist zur Wirklichkeit des Dazwischen kam. Da ist es Nichts, und niemand kann es begreifen; denn es ist zur Stufe des Nichts gelangt, wie vor der Schöpfung. Und da wird es zu einem neuen Geschöpf erschaffen, vom Ei zum Küchlein. In dem Augenblick, nachdem die Vernichtung des Eis vollendet ist, und ehe das Werden des Küchleins begonnen hat, ist das Nichts.“ (M. Buber, Die Erzählungen der Chassidim, Zürich 1949, S. 200)

Das Frühere, siehe es ist eingetroffen und Neues verkündige ich. Bevor es sprosst, lasse ich es euch hören.“ Die Rede des Propheten als Gottesrede (Vers 8: „Ich bin Jahwe, das ist mein Name…“) macht deutlich: Diese Rede ist weder den Sinnen noch dem Verstand zugänglich. Es geht um ein radikales Sich-Einlassen in Blindheit, das der Heilige Johannes vom Kreuz als „dunkle Nacht“ bezeichnet. Ein Sich-Einlassen, gegen das sich unsere sinnliche Erfahrung und unser Verstand mit aller Macht sträuben. „Bevor das Neue sprosst …“ – es gibt nichts zu sehen, nichts zu denken. Das Erleben von „bevor es sprosst“ ist das Erleben einer Leere, die Hass und Angst umgibt: Es ist das Entsetzen im Angesicht des Nichts, der „horror vacui“! Der wirkliche und wirksame Gott, der Ich- bin-da-Gott – er ist nicht bei den Götterbildern der Babylonier (Vers 8b) zu finden. Genauso wenig, wie er in dieser Predigt zu finden ist. Er ist nirgends auffindbar. Und gerade so wirkt er: Als „Stimme verschwebenden Schweigens“ (1. Könige 19,12b). Oder als Klang vor allem Werden, allem Sprießen. In der Kabbala ist es der Klang von Aleph, dem unhörbar ersten Buchstaben des hebräischen Alphabetes. Aus diesem Nichts heraus werden Gottes Kinder – getrieben von jenem Geist, der „über dem Wasser schwebte.“ (1. Mose 1, 2b)

Gebe Gott, dass wir den Mut finden, die Klänge der geisterfüllten Stille in dunkler Nacht zu hören, in uns aufzunehmen und nach ihnen uns formen zu lassen, AMEN.

Predigt über Jesaja 42, 1-9 am 1. Sonntag nach Epiphanias 2022 Read More »

Predigt über 2. Korinther 5, 1-10 am vorletzten Sonntag des Kirchenjahres 2021

Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen!“ Sie kennen dieses geflügelte Wort aus Aschenputtel: Mit Hilfe der Tauben gelingt es Aschenputtel, die quälend-sadistische Aufgabe ihrer Stiefmutter zu lösen. Diese hatte Linsen in die Asche geworfen und Aschenputtel sollte sie heraus holen und dabei die guten Linsen von den schlechten unterscheiden. Um etwas auszulesen, muss es vorher unterschieden sein: Eben die schlechten Linsen werden von den guten Linsen unterschieden. Wir könnten hier auch „Auslesen“ vornehmen: Alle, die an einem Tag, mit einer ungeraden Zahl Geburtstag haben. Oder alle, die im November Geburtstag haben usw.

Es gibt also eine „Ordnung“, nach der die Auslese vorgenommen wird. Eine Unterscheidungs-Ordnung. Eine Diskriminierung. Diskriminierung heißt – neutral, ohne emotionalem Beigeschmack – nur „Unterscheidung“. Unterscheidungen sind nötig, um irgend etwas erkennen zu können. Ohne Diskriminierungen sind wir im Nebel des Gleich-Gültigen: und wenn alles gleich-gültig ist, dann ist es beliebig. „Das ist mir gleichgültig“ heißt: Ich habe keine eigene Meinung, keine Position dazu. Erst wenn mir etwas nicht gleich gültig ist, entsteht meine eigene Haltung, die sich von der Anderer unterscheidet.

Dies alles ist solange einfach, solange nicht unsere Emotionen dazu kommen. Und die kommen notwendig dazu, wenn es um Unterscheidungen im Bereich der Moral, der Lebensführung geht. Da gibt es nämlich dann die Guten und die Bösen, die „Gesegneten“ und die „Verfluchten“, die „Böcke“ und die „Schafe“, die Umweltbewussten und die Umweltsünder usw. Und – spannend – sogar Orientierungsangaben können für moralische Kategorien verwendet werden: Rechts ist „recht“, also gut, links ist „link“, also nicht gut.

(Kleiner biographischer Einschub: Gib deine „schöne Hand“ – sagte mir meine Mutter als Kind. Die schöne Hand war natürlich die rechte Hand. Tragische Ironie: Meine Mutter ist Linkshänderin gewesen!)

Gleichzeitig einen klaren und präzisen Standpunkt einzunehmen und offen zu bleiben für seine Relativität: Diese Kunst bildet das Fundament demokratischen Denkens und Handelns.

Der Wochenspruch für die vor uns liegende Woche ist ein Wegweiser für diese Art zu denken: „Wir müssen all offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi“ 1. Korinther 5, 10a) heißt es da.

Wer seine eigenen Unterscheidungen, seine eigene Matrix von gut und böse, von falschem und richtigem Leben, absolut setzt, der hält nicht aus, dass in dieser Welt der Richterstuhl Christi, oder Allahs, oder Jahwes unbesetzt, also leer bleibt.

Stattdessen setzt er sich selbst auf diesen Stuhl. Die dazugehörige Haltung ist eine selbstgerechte und überhebliche. Einfühlung, Mitgefühl und Verständnis für anders Denkende ist auf diesem Wege verloren gegangen. An ihre Stelle ist Macht und die Durchsetzung von Macht getreten. In der Erziehung nennt man das „Schwarze Pädagogik.“ Sie ist nicht an Wachstum und Veränderung interessiert, sondern an Unterwerfung und Gehorsam. Auf dem Richterstuhl sitzt ein sadistisch-grausamer Richter.

Ich vermute, dass Paulus – trotz und mit all seinen Versuchen über die Liebe – einen grausamen und hasserfüllten Richter verinnerlicht hatte. Der nicht bereit war, sich an die Natürlichkeit, den organischen Verlauf von Leben anzupassen. Der Tod ist für Paulus sein Tod-Feind. Und er tut alles dafür, diesem seine Macht zu nehmen. Dies macht er im Namen seines Christus – seines Helden. (So bleibt er in der Tiefe dualistischem Denken verhaftet!)

In unserem heutigen Predigttext (2. Korinther 5, 1-10) wird dies gleich am Anfang deutlich.

Wenn das irdische Zelt, in dem wir jetzt leben, nämlich unser Körper, abgebrochen wird, hat Gott eine andere Behausung für uns bereit: ein Haus im Himmel, das nicht von Menschen gebaut ist und das in Ewigkeit bestehen bleibt.“ (Vers 1)

Paulus kann offenbar nicht denken, dass mit seinem Tod sein individuelles Leben zu einem hoffentlich guten Ende gekommen ist. Er kann den Tod nur als „Durchgang“ denken. Und das hört sich dann so an:

„Weil wir das wissen, (dass uns ein Haus im Himmel erwartet), stöhnen wir und sehnen uns danach, mit dieser himmlischen Behausung umkleidet zu werden; denn wir wollen ja nicht nackt dastehen, wenn wir den irdischen Körper ablegen müssen. Ja, wir sind bedrückt und stöhnen, solange wir noch in diesem Körper leben; wir wollen aber nicht von unserem sterblichen Körper befreit werden, sondern in den unvergänglichen Körper hineinschlüpfen. Was an uns vergänglich ist, soll vom Leben verschlungen werden. Wir werden auch an dieses Ziel gelangen, denn Gott selbst hat in uns die Voraussetzung dafür geschaffen: Er hat uns ja schon als Anzahlung auf das ewige Leben seinen Geist gegeben.“ (Verse 2-5)

Was Paulus hier schreibt, kann ich zunächst einmal sehr gut nachvollziehen: Eine tiefe Sehnsucht nach einer Behausung, die ich nicht mehr verlassen muss. Quasi eine letzte Häutung – und dann ist es gut. Ein letztes tiefes Ausatmen. Ein endlich, endlich Zuhause-Ankommen. Eine Heimat. Ich vermute, nicht wenige unter uns kennen diese Sehnsucht auch. Diese Sehnsucht ist besonders stark bei Menschen ausgeprägt, deren Grundgefühl ist, etwas verloren oder gar nicht erst bekommen zu haben. Es ist ein Gefühl, dass irgendwas nicht stimmt. Sie fühlen sich in der Tiefe nicht wirklich zugehörig, nicht wirklich da. Und so baut sich die Sehnsucht nach einem Ort auf, wo alles richtig ist und vor allem: Wo sie selbst richtig und erwünscht sind. Und weil diese Sehnsucht so heftig ist, erscheint es als unerträglich, dass es keinen „unvergänglichen Ort“ auf dieser Welt gibt. Daraus entsteht der Wunschtraum des Paulus von einer himmlischen Behausung, einem unvergänglichen Körper:

„Wir wollen aber nicht von unserem sterblichen Körper befreit werden, sondern in den unvergänglichen Körper hineinschlüpfen.“ Es soll keine Trennung geben, stattdessen einen direkten Übergang von diesen vergänglichen in jenen unvergänglichen Körper.

Der Nachteil dieses Denkens: Alles was ich habe und bin bleibt irgendwie vorläufig. Je mehr Energie in dieser Sehnsucht steckt, desto weniger Energie bleibt für mein Leben in der Gegenwart. (Dieses Geschehen ist im übrigen ein wesentlicher Baustoff für Depressionen. Franz Schuberts Liederzyklus: Die Winterreise hat sehr berührend diese Sehnsucht komponiert: „Fremd bin ich eingezogen – fremd zieht ich wieder aus …“)

Aber zurück: Je mehr ich in die Sehnsucht auf Künftiges investiere, desto weniger Kapital steht mir für die Gegenwart zur Verfügung. Die Gegenwart wird zu einer „Anzahlung auf das ewige Leben“, wie Paulus schreibt. Er verbindet das mit dem „Geist“. Der Geist ist auch und gerade für den Juden Paulus zunächst einmal unser Atem, die Ruach. Wenn und indem ich mich meinem Atem überlasse, kann ich spüren, wie „es“ in mir atmet. Weder atme ich – noch werde ich beatmet. Genau dazwischen geschieht dieses „ES“, das da atmet. Und je stärker und je tiefer ich mich damit verbinde und verbünde, desto näher komme ich dem ewigen Leben. Ewiges Leben heißt für mich, das Leben oder die Lebendigkeit schlechthin, die es seit Milliarden von Jahren auf diesem Planeten Erde gibt. Und welch ein Glück, welch ein Geschenke, dass ich im Rahmen meiner individuellen Lebensspanne daran Anteil haben darf. Ich weiß schon: Wer so denkt, dem bleibt nichts anderes übrig, als den Schmerz der Vergänglichkeit irgendwie zu ertragen. Nur und auf der anderen Seite: Damit hat das Warten auf eine bessere Zukunft ein Ende, und ich bin frei für meine Gegenwart geworden. Und damit wird auch der Teil meiner Lebensenergie frei, der im Warten gebunden gewesen ist.

Oder dasselbe nochmal in einem Bild: Wenn das ewige Leben das Meer ist, so ist jeder von uns ein Wassertropfen in diesem Meer. Nicht mehr aber auch nicht weniger.

Und Leben heißt, an diesem Geschehen teilhaben zu dürfen. Das wird zur Quelle der Freude – unter der Voraussetzung, dass ich mein eigenes Werden und Vergehen und mein gerade so und nicht anders Geworden-Sein bejahen kann. Das ist die eigentliche Herausforderung: Ja zu sagen zu dem, der ich bin.

Eine winziger Wassertropfen im Ozean unendlichen Seins.

Paulus formuliert das so:

„Deshalb bin ich in jeder Lage zuversichtlich. Ich weiß zwar: Solange ich in diesem Körper lebe, bin ich vom Herrn getrennt. Wir leben ja noch in der Zeit des Glaubens, noch nicht in der Zeit des Schauens.

Ich bin aber voller Zuversicht und würde am liebsten sogleich von meinem Körper getrennt und beim Herrn zu Hause sein.

Weil ich mich danach sehne, setze ich aber auch alles daran, zu tun, was ihm gefällt, ob ich nun in diesem Körper lebe oder zu Hause bin beim Herrn. Denn wir alle müssen vor Christus erscheinen, wenn er Gericht hält. Dann wird jeder Mensch bekommen, was er verdient, je nachdem, ob er in seinem irdischen Leben Gutes getan hat oder Schlechtes.“

Ich stimme diesen Gedanken inhaltlich sehr zu. Nur verlege ich sie nicht in eine ferne Zukunft, in ein „danach“, sondern in die Gegenwart. „Die wichtigste Zeit ist der Augenblick“, sagt Meister Eckhart.

Der Augenblick selbst ist ewig! Niemand kann sagen, wann er beginnt und wann er wieder aufhört. Das einzige, was möglich ist, ist, mich dem, was gerade ist mit allem, was ich habe, hinzugeben. Damit relativiert sich mein Leid, das aus meiner Vergangenheit stammt und das mich aus der Gegenwart wegzieht.

Je tiefer ich im Augenblick bin, desto tiefer bin ich da. Einfach so. Mit allem, was mich gerade ausmacht. Das kann Freude sein, das kann Trauer sein, das kann Angst sein, das kann Wut sein. Das kann Trostlosigkeit sein und Verzweiflung.

Im Augenblick ist alles so, wie es gerade ist.

So gesehen hat der Augenblick etwas unendlich Reines, ist er doch befreit von den Wünschen an die Zukunft und dem Hadern über die Vergangenheit.

Im „Augenblick“ gibt es auch keine Diskriminierungen mehr. Die Stimme des Augenblickes ist ein tiefes Einverstanden-Sein: „Es ist, was es ist.“

Es ist auch ein Verstanden-Sein mit den eigenen unvermeidlichen Spaltungen, die zu unserem menschlichen Denken hinzugehören.

Dazu möchte ich Ihnen abschließend eine Geschichte erzählen, die ich bei Anthony de Mello gefunden habe. Sie lautet:

Ein Schäfer weidete seine Schafe, als ihn ein Spaziergänger ansprach. „Sie haben aber eine schöne Schafherde. Darf ich Sie in Bezug auf die Schafe etwas fragen?“ – „Natürlich“, sagte der Schäfer. Sagte der Mann: „Wie weit laufen Ihre Schafe ungefähr am Tag?“ – „Welche, die weißen oder die schwarzen?“ „Die weißen.“ – „Die weißen laufen ungefähr vier Meilen täglich.“ – „Und die schwarzen?“ „Die schwarzen genauso viel.“ „Und wie viel Gras fressen sie täglich?“ – „Welche, die weißen oder die schwarzen?“ – „Die weißen.“ – „Die weißen fressen ungefähr vier Pfund Gras täglich.“ – „Und die schwarzen?“ – „Die schwarzen auch.“ „Und wie viel Wolle geben sie ungefähr jedes Jahr?“ – „Welche, die weißen oder die schwarzen?“ – „Die weißen.“ – „Nun ja, ich würde sagen, die weißen geben jedes Jahr ungefähr sechs Pfund Wolle zur Schurzeit.“ – „Und die schwarzen?“ – „Die schwarzen geben genauso viel.“

Der Spaziergänger war erstaunt.

„Darf ich Sie fragen, warum Sie die eigenartige Gewohnheit haben, Ihre Schafe bei jeder Frage in schwarze und weiße aufzuteilen?“

„Das ist doch ganz natürlich“, erwiderte der Schäfer, „die weißen gehören mir, müssen Sie wissen!“ – „Ach so! Und die schwarzen?“ – „Die schwarzen auch“, sagte der Schäfer.

Lieber Gott, schenke uns die befreiende Einsicht in die Dummheit unserer menschlichen Kategorien. Und verleihe uns die Kraft, uns nicht von ihnen, sondern von der unmittelbaren Schönheit des Augenblicks leiten zu lassen, AMEN.

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Meditative Predigtgedanken zum 2. Advent

Kopf hoch!

„Richtet Euch auf und erhebt Eure Häupter, denn Eure Befreiung ist nahe!“

Meditative Gedanken zum 2. Advent (5. Dezember 2021)

Blicke nicht zu weit nach oben: Dann läufst du Gefahr, die Stolpersteine deines Weges zu übersehen und hinzufallen.

Blicke nicht zu weit nach unten: Dann läufst du Gefahr, einen krummen Rücken zu bekommen und von dem Leben, das dich umgibt. nichts mehr mitzubekommen.

Stell dich auf deine eigenen Beine.

Selbst-ständig. Aufrechten Hauptes. Aufrichtig!

Sicher auf dem Mutter-Boden der Wirklichkeit stehend in guter Verbindung mit der väterlichen Höhe, die dich umgibt.

Mag sein, dass die Wirklichkeit dessen, was du in jungen Jahren erlebt hast, für deine kleine, junge Seele unerträglich gewesen ist. Vielleicht sind keimende Triebe aus Unachtsamkeit kaputt gegangen. Vielleicht wurden sie auch rücksichtslos abgeschnitten. Vielleicht bist du viel zu lange allein gelassen worden, im Dunkeln gestanden, so dass du welk geworden bist. Und hast dann gierig die wenigen Sonnenstrahlen, die dich beschienen haben, aufgesogen. Oder du bist viel zu lange ungeschützt in der prallen Sonne gestanden, so dass Vieles, was wachsen wollte, verbrannte.

Wie dem auch sei: Kopf hoch!

Was war, das war. Die einzige Chance, die du in der Gegenwart hast, ist: Der Augenblick, in dem du gerade lebst!

Ich persönlich glaube aus eigener Erfahrung: Wenn du in dein Unbewusstes hinab steigst, deine Träume dir merkst und ernst nimmst und aufmerksam bist für deine Gefühle, kannst du dein Jetzt, deinen Augenblick besser verstehen. Und das wiederum hilft dir, die vermeintlich unerträglichen Gefühle von damals besser zu halten und auszuhalten. Du musst sie dann weder an dir selber, an deinem eignen Körper, ausleben noch an deinen Mitmenschen.

Du kannst natürlich auch den Weg wählen, deine Gefühle und die darin liegenden Schmerzen Tag für Tag zu betäuben. Das Preis ist chronische Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Kraftlosigkeit. Nicht selten in Verbindung mit Kopfschmerzen und anderen vegetativen Symptomen.

Und der Preis sind Durchbrüche deiner ungehaltenen Gefühle, für die du dich – wenn du mit dir ehrlich bist – dann wieder schämst.

Ich möchte dich ermuntern, der Wirklichkeit deines Lebens ins Auge zu schauen.

Ich möchte dich ermutigen, das, was du siehst, was du fühlst, was deine Intuition dir sagt, ernst zu nehmen. Versuche es auszusprechen, es in Kontakt mit dir und deinen Mitmenschen zu bringen. Lass dir nichts einreden, was dir nicht einleuchtet. Dann musst du deinen Kopf nicht hängen lassen und beschämt zu Boden schauen.

Versuche bei allem aber auch, dich in die Position deines Gegenübers einzufühlen. Einfühlen heißt, Verständnis für den Anderen zu haben, ohne ihm Recht zu geben.

Das geht nur, indem du dich nicht über deine Mitmenschen erhebst. Deine Arroganz ist nur die andere Seite deiner Depression. Beides hält dich von deinem Leben ab.

Mit erhobenen Kopf durchs Leben gehen heißt nicht, auf die Anderen herabzuschauen. Es heißt:

In der eigenen Mitte zu ruhen.

In ihr spürst du die Kraft der Liebe deines Gottes.

Mit ihr im Bunde wirst du aufhören zu hadern mit dem, wie es gewesen ist.

Mit ihr im Bunde wirst du aufhören zu hoffen, dass es irgendwann anders, besser werden wird.

Mit ihr wirst du auch aufhören dich zu ängstigen vor dem, was kommen wird.

Du weißt es nicht, du kannst es nicht wissen und du musst es auch nicht wissen.

Sei da. Sei da, wo du gerade bist.

Sei ganz da, wo du bist. Mit deinem kühlen Verstand und deinen wohltemperierten Gefühlen.

Drücke dich nicht vor deiner Verantwortung – aber überfordere dich auch nicht.

Aus deiner Mitte heraus kannst du dich vertreten.

Aufrecht und aufrichtig.

Mit Gottes Liebe in deinem Kreuz kannst du dem, was gerade ist, in die Augen schauen.

So wie du deinen Mitmenschen in die Augen siehst.

Wissend, dass auch dies nur ein Augenblick ist.

Dein Leben – die Fülle von Augenblicken. Lebe sie erhobenen Hauptes.

Steht auf und erhebt Eure Häupter, denn Eure Befreiung ist nahe.“

Die Türen deines Gefängnisses sind geöffnet.

Es liegt ausschließlich an dir, ob du den Mut hast, hindurch zu gehen.

Hinein in deine Freiheit.

Dazu verhelfe uns der stets kommende Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn, AMEN.

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Predigt über Römer 10, 9-17 am 17. Sonntag nach Trinitatis 2021

Liebe Gemeinde,

„Herr, wer glaubte unserem Predigen?“ (Jesaja 53,1)

Dieser Satz des Propheten Jesaja steht am Ende unseres heutigen Predigttextes, ein Abschnitt aus dem Römerbrief des Paulus.

Paulus deutet das so: „So kommt der Glaube aus der Predigt; das Predigen aber durch das Wort Christi.“

Nun – vor dem Glauben steht das Hören. Das Zuhören. Das Hören auf das, was ein anderer, z.B. ein Prediger zu sagen hat.

Zur Veranschaulichung: Jeder, der die Mühe auf sich nimmt, einen Hund zu erziehen, weiß, dass alles damit beginnt, dass der Hund überhaupt bereit ist, auf mich zu hören. Dazu muss ich irgendwie mit ihm in Beziehung kommen. Ihn irgendwie darauf aufmerksam machen: „Hey, es gibt mich. Ich bin mehr und Anderes als das Ende deiner Leine! Ich will zum Beispiel, dass du neben mir gehst, wenn ich ‚bei Fuß‘ sage.“ Indem der Hund erlebt, dass dieses „Ich will jetzt was von dir!“ attraktiv ist, wird er sich erreichen lassen. Oft ist das ein „Leckerli“! Oder eine Streicheleinheit. Oder beides. Auf der anderen Seite: Ich muss glaubwürdig sein. Man nennt das auch konsequent. Wenn ich einmal den Hund beschimpfe, dass er an der Leine zieht, ein anderes Mal mich von ihm durch die Gegend ziehen lasse, herrscht Willkür in unserer Beziehung. Die Konsequenz: Der Hund lernt: Was mein Herrchen oder Frauchen sagt, ist nicht ernst zu nehmen.

Dies erfordert für den Hundeführer viel Klarheit, Nüchternheit, Präsenz: und – ganz wichtig – den Verzicht auf eine bestimmte Art der Befriedigung. Es ist der Abschied von etwas Sentimentalem: Der Hund möge gerade so sein, wie ich ihn brauche, um glücklich zu sein. Dies gilt nun auch für jede Art von Beziehungen zwischen uns Menschen: Je mehr ich darauf angewiesen bin, von meinen Mitmenschen befriedigt zu werden, je bedürftiger ich bin, desto schwerer habe ich es im Leben.

Ich habe lange gebraucht und es fällt mir immer noch schwer zu akzeptieren, dass das so ist.

Meine große Frage, wenn ich eine Predigt schreibe lautet stets: Wie komme ich mit den Menschen, denen ich meine Predigt halte, in Kontakt, in Beziehung? Wie erreiche sie? Es ist noch gar nicht so lange her, dass dazu sich ein neuer Gedanke gesellt: Ich bin nicht davon abhängig im Sinne von „darauf angewiesen“, die Gemeinde zu erreichen. Das schafft einen Spielraum, einen Freiheitsraum. Zwischen Gemeinde und Pfarrer, zwischen mir und Euch! Der Preis für diesen Spielraum ist die Anerkenntnis: Die Kraft meines Predigens endet – im übertragenen Sinne – wo Eure Kirchenbank beginnt. Weiter komme ich nicht. Und weiter darf ich auch nicht kommen. Das wie in der Arbeit mit Raubtieren: Jeder Löwe, jeder Tiger hat seinen Individual-Raum. Und es ist gut für den, der mit diesen Tieren arbeitet, diesen auch zu respektieren.

Anders ausgedrückt: Was Ihr mit meinen Worten, Sätzen, Gedanken macht, wofür Ihr die verwendet, das habe ich nicht mehr in der Hand. Auch wenn ich versuche noch so schmackhaft zu predigen, noch so viele Leckerli in meiner Predigt verpacke … es gibt Hunde, es gibt Menschen, die ein: „Wenn ich nicht will, dann will ich nicht!“ ausstrahlen und leben.

Als Prediger oder Hundeführer habe ich verloren, wenn mich das kränkt. Meine Bedürftigkeit, von Euch „gehört“, „wahrgenommen“ zu werden, schwächt meinen Standpunkt erheblich. Meine Bedürftigkeit macht mich unfrei – dem Hund gegenüber und Euch als Gemeinde gegenüber. Und dies gilt für jede Art zwischenmenschlicher Beziehung: Zwischen Eltern und Kindern, zwischen Ehepartnern, zwischen Freunden zwischen Christen in der Gemeinde und eben auch zwischen Tieren und Menschen.

(An dieser Stelle ist es mir ein Bedürfnis, den Tieren zu danken, die mich dies gelehrt haben und alltäglich lehren!)

Wenn ich jetzt also Ihnen ein paar Gedanken zu dem Predigttext, den Sie vorher gehört haben, anbiete, so sind das meine ganz eigenen Gedanken. Ich erhebe keinen Anspruch darauf, dass ich mit diesen Gedanken „die Wahrheit“ verkünde. Es sind meine Gedanken und in Ihnen steckt natürlich meine Persönlichkeit, mein individuelles Geworden-sein. Ich greife zwei Abschnitte aus dem Text heraus:

Erstens: „Wenn du mit deinem Munde bekennst, dass Jesus der Herr ist, und in deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn auferweckt hat von den Toten, so wirst du gerettet. Der wer mit dem Herzen glaubt, wird gerecht; und wer mit dem Mund bekennt, wird selig.“ (Vers 9-10)

Solche vollmundigen Sätze widerstreben mir. Ich maße es mir nicht an, zu beurteilen, wer unter welchen Bedingungen gerettet, gerecht oder selig wird. Aber ich weiß aus eigener Erfahrung und aus meiner seelsorgerlich-therapeutischen Arbeit: Für körperlich-seelisches Wohlergehen genügen diese Sätze nicht. Es kann geradezu zynisch sein, einem in großer seelischer Not befindlichen Mitmenschen zu sagen: Du musst Jesus als deinen Herrn mit dem Munde bekennen und im Herzen glauben. Und ich weiß aus eigener Erfahrung: Ich kann niemanden retten: nicht als Pfarrer, nicht als Therapeut.

Das heißt auf der anderen Seite nicht, dass Seelsorge oder Therapie sinnlos ist. Was der Therapeut/Seelsorger nämlich kann, und was er gelernt haben sollte, ist: Den Anderen in seinem So-geworden-Sein (und das ist zugleich sein Anders-Sein) wahrzunehmen und Ernst zu nehmen. Damit ist zugleich die Grenze der Möglichkeiten von Seelsorge benannt: Wer zu viel Angst davor hat, gesehen zu werden, dessen Schutz ist der Rückzug. Kompliziert wird es allerdings dann, wenn jemand zugleich gesehen werden will und sich versteckt. Das Zusammensein mit solchen Menschen erfordert sehr viel Kraft und noch mehr Geduld. Mein schwarzer Talar eignet sich im übrigen bestens dafür, mich in ihm bzw. in der Rolle des Pfarrers zu verstecken. Dann predige zwar mit dem Mund aber nicht meinem Herzen. Ich vermute, die aufmerksamen Zuhörer unter ihnen würden das spüren. Man sagt dann: „Irgendwie ist er nicht rüber gekommen.“ Das liegt daran, dass er/sie/es nicht wirklich präsent gewesen ist. Oder, mit Paulus: Dass er nicht mit dem Herzen geredet hat. Dies gilt natürlich auch für unsere Politiker, die sich heute zur Wahl stellen.

Zweitens: „Wie sollen sie aber den anrufen, an den sie nicht glauben? Wie sollen sie aber an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie aber hören ohne Prediger? Wie sollen sie aber predigen, wenn sie nicht gesandt sind?“ (V.14-15a)

Die Aufgabe des Predigers nach Paulus ist es also, das, woran die Menschen glauben sollen, bekannt zu machen. Für Paulus ist das sehr eindeutig: „Dass Jesus der Herr ist, der von den Toten auferweckt worden ist.“ Das ist die Mitte, das Herz der paulinischen Botschaft: Der auferstandene Gekreuzigte. In und durch ihn ist jeder, der an ihn glaubt – egal ob Jude oder Heide – gerettet.

Auch dies kann ich leider nicht so eindeutig und überzeugend predigen, wie das Paulus konnte. Ich kann das deshalb nicht, weil ich das in der Tiefe meiner Seele oder auch mit meinem Herzen so nicht glauben kann. Es ist zu weit weg von meinem Erleben. Was mir zu Herzen geht, das ist die Botschaft, die die der lebendige Jesus hatte. Was mich berührt, das ist seine Predigt von der Gottesliebe und der Nächstenliebe. Es sind Sätze wie dieser: „Du siehst den Splitter im Auge deines Nächsten – den Balken im eigenen Auge siehst du nicht!“ Hier beginnt für mich christliche Existenz, christliches Leben in der Nachfolge Jesu: Mit dem Willen und dem Mut, den Balken, den Schatten im eigenen Auge kennen zu lernen. Und sich einzugestehen, dass der vermeintliche Splitter im Auge meines Nächsten von meinem eigenen Balken abgesplittert ist. Mit anderen Worten: Dass all‘ meine Gedanken und Sätze über meine Mitmenschen Projektionen meiner Selbst sind. Melanie Klein hat einmal gesagt, dass wir Menschen in der Tiefe gar nicht fähig sind, andere Menschen zu erkennen. Alles, was wir über andere sagen, sind in der Tiefe Aussagen über uns selbst. Diese Erkenntnis ist besonders unangenehm, wenn wir das auf unsere Bewertungen bzw. Abwertungen von anderen Menschen anwenden.

Und damit kehre ich am Ende meiner Predigt zu ihrem Anfang zurück:

Herr, wer glaubte unser, Predigen?“ Paulus verwendet dieses Jesajazitat nicht dafür, sein eigenes Predigen zu hinterfragen. Er macht daran den Ungehorsam derer fest, die nicht glaubten. Dahinter steht die Strategie, sich selbst nicht in Frage stellen zu müssen. Gefährlich und destruktiv wird dieser Gedanke, wenn er sich verbündet und verbindet mit Konsequenzen derart: Wer mir nicht glaubt, ist ungehorsam und muss bestraft werden. Das ist der direkte Weg in eine totalitäre Religion und am Ende in einen Gottesstaat. Hätte Paulus den Mut zu Selbsterkenntnis aufgebracht, so würde er erkennen, dass es um sein eigenes Gekränkt-sein geht, wenn ihm jemand nicht glaubt. Dieses äußert sich als Ärger über die „Ungläubigen“ und führt zu ihrer Beleidigung. In totalitären religiösen Regimen wird der Name „Gott“ dafür missbraucht, den eigenen Hass ausleben zu dürfen. Wer es hingegen wagt, sich selbst kennen zu lernen, wird dieses Geschehen auch bei sich finden: Der Andere hat mich nicht so befriedigt, wie ich das erwartet habe, also wird er (völlig zurecht) bestraft. Ein moderne, sublime Form dieser Bestrafung ist der Beziehungsabbruch: Der Andere ist ab sofort Luft für mich!

 

Ein ganz anderes Denken lehren die Mystiker. Zum Beispiel der islamische Mystiker Rumi, übrigens ein Zeitgenosse von Meister Eckhart. (Beide lebten im 13. Jahrhundert!).

In einem Gespräch gibt er Anteil daran, woraus seine Gedanken quellen:

Ich sage, was immer aus dem Verborgenen kommt. Wenn Gott will, dann macht er dieses bisschen Rede nützlich und lässt es sich in Eurer Brust festsetzen, und es bringt gewaltigen Nutzen. Wenn Gott nicht will, können hunderttausend Worte gesprochen sein, und keines würde sich im Herzen festsetzen; sie alle würden vorüber gehen und vergessen werden. …

Ich hoffe zu Gott, dass Ihr diese Worte auch mit Eurem Herzen hört, denn das ist nützlich. Wenn tausend Diebe von außen kommen, können sie die Tür nicht öffnen, solange sie drinnen keinen Diebeskomplizen finden, der von innen öffnen kann.“ (Von Allem und vom Einen, München 2008,S. 129-130)

In dieser Haltung zu predigen und zu leben erfordert viel Demut und Zurückhaltung. Und es entlastet und befreit! Ich habe als Prediger nicht die Möglichkeit, Eure Herzen zu erreichen. Das kann nur Gott allein. Was ich kann und wozu ich mir bei jeder Predigt Mühe gebe, ist, Gott den Weg zu bereiten. Zu Ihren Herzen, zu meinem Herzen.

Gebe Gott, dass Sie und ich immer wieder einen Diebeskomplizen in unserm Innern finden, der uns hilft, die Tür zu öffnen, auf dass Gott selbst in unser Inneres hineinkommen kann, AMEN.

Predigt über Römer 10, 9-17 am 17. Sonntag nach Trinitatis 2021 Read More »

Predigt am 8. Sonntag nach Trinitatis (2021) über 1. Korinther 6, 9-14.18-20

Liebe Gemeinde,

unser aller Leben beginnt in der Dunkelheit der Nacht. Die Vereinigung von Ei- und Samenzelle findet im Dunklen statt. Es ist kein Zufall, dass der Heilige Johannes vom Kreuz von den drei dunklen Nächten spricht, in denen die Verwandlung, die Transformation des Menschenkindes hin zu Gott geschieht.

Wenn alles gut geht, entsteht daraus Leben. Falls etwas schief geht, so herrscht in den ersten drei Monaten ein Alles-oder-Nichts-Prinzip: Das nicht lebensfähige Leben wird ausgeschieden, es „geht ab“. Ein kluger Filter der Natur.

Bei uns, die wir überlebt haben, die wir hier sind, ist offenbar bis heute soweit alles gut gegangen.

Indem ich sage: „Leben entsteht aus der Vereinigung einer Ei- mit einer Samenzelle“, könnte man dies auf die „rein körperliche“ Entstehung des Lebens beziehen. Und damit entsteht die Frage: Wann und wie kommt dann Seele und Geist hinzu?

Diese Art zu denken führt in die Irre. Ihre Prämissen stimmen nicht. Sie setzt Zeit (wann?) voraus. Und sie setzt voraus, dass Seele und Geist unabhängig vom Körper existieren. Mit anderen Worten: Diese Art zu denken führt in eine Dualität. Die Wahrheit aber ist Eine: Es gibt kein Leben ohne Körper und es gibt keinen Körper ohne Seele. In Korrelation zum werdenden körperlichen Leben entwickelt sich das, was wir seelisches Leben nennen und das, was wir geistiges Leben nennen. Körper-Seele-Geist ist eine Dreiheit, die zusammen gehört, zusammen eins ist. (Die Beziehung zur Trinitätslehre ist erwünscht.)

Wenn auf diesem Weg des Auf-die-Welt-Kommens zu heftige Verletzungen passieren, findet ein Rückzug statt, ja wesentliche Teile des Menschen bleiben – bildlich ausgedrückt – im Mutterleib stecken. Nebenbei: Gute, wirkungsvolle Psychotherapie ist Geburtshilfe, der Job des Psychotherapeuten ist dem einer Hebamme vergleichbar. Nicht selten finden sich übrigens derartige Verletzungen in Musiker-Biographien. Dann wird die Musik (der Embryo hört bereits mit sechs Monaten im Mutterleib) zu einem Rückzugsort und Klänge zur Erinnerung an Zeiten, wo nach alles gut gewesen ist.

Im Umgang mit und in der Beziehung zu unserem eigenen Körper bildet sich die frühe Beziehung zwischen Menschenkind und Mutter ab. Im Besonderen die vorsprachliche und nicht-sprachliche Beziehung, die „Aura“ der Beziehung findet hier ihren Niederschlag. Jedes Baby spürt in der Tiefe, ob es willkommen geheißen wird oder ob es unerwünscht ist. Es spürt die Angst seiner Mutter, ohne zu verstehen, dass es die Angst der Mutter ist. Besonders schwer haben es diejenigen Babys, die von ihrer Mutter von Anfang an dafür gebraucht werden, die mütterlichen Ängste zu mildern oder ihr wegzunehmen. Sie bleiben auf ihren eigenen Ängsten sitzen, während sie ihre Lebendigkeit dafür verwenden, die Mutter in ihrer Not zu unterstützen. In gewisser Weise geben sie ihr Leben für das Leben der Mutter, weil sie unbewusst wissen: Wenn die Mutter stirbt, werden sie ebenfalls sterben.

Zurück gelassen wird ein Bündel voller Angst, das sich fühlt „like a motherless child“ (Nina Simone). Da dies unerträglich ist, wird es abgespalten. So entsteht ein kleiner Mensch, der auf der einen Seite der „Retter der Mutter“ ist und auf der anderen Seite voller Angst ist, verbunden mit Hass auf ebendiese Angst. Indem ich meine eigene Angst hasse, hasse ich mich selbst. Zu diesem Hass und zu dieser Angst gehört ein Ur-Misstrauen, ein Sich-verfolgt-Fühlen und ein ständiges auf der Flucht-Sein. Die große Sorge ist: Gibt es mich überhaupt? Gibt es mich für mich selbst? Habe ich einen Eigenwert, einen Selbstwert, oder besteht mein Wert genau darin, die Mutter, die Anderen zu retten, zu befriedigen?

Als Erwachsene werden solche Menschenkinder gerne Ärzte, oder Therapeuten oder auch Pfarrer. Da sich aber Abgespaltenes, das doch zu einem selbst gehört, nicht einfach „ausschalten“ oder eliminieren lässt, meldet es sich zum Beispiel in Form von Albträumen. Auf-der-Flucht-sein, oder von einem Mörder Verfolgt-Werden ist ein häufiges Motiv. Und das Abspaltene meldet sich in Form von Triebdurchbrüchen. Alkoholexzesse, sexueller Missbrauch, Pornographie usw.

In unserem heutigen Predigttext, einem Abschnitt aus dem ersten Korintherbrief des Paulus, ist von solchen Triebdurchbrüchen die Rede. Und alles, was Paulus dazu einfällt, ist das, was der Kirche bis heute dazu einfällt: Diese Handlungen der „Täter“ zu verurteilen – ohne jegliches Verständnis, wie es dazu kommen konnte.

Doch hören Sie selbst:

(Oder) wisst ihr nicht, dass die Ungerechten das Reich Gottes nicht ererben werden? Täuscht euch nicht! Weder Unzüchtige noch Götzendiener noch Ehebrecher noch Lustknaben noch Knabenschänder noch Diebe noch Habgierige noch Trunkenbolde noch Lästerer noch Räuber werden das Reich Gottes ererben. Und solche sind einige von euch gewesen. Aber ihr seid reingewaschen, ihr seid geheiligt, ihr seid gerecht geworden durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes.
Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll Macht haben über mich. Die Speise dem Bauch und der Bauch der Speise; aber Gott wird das eine wie das andere zunichtemachen.
Der Leib aber nicht der Hurerei, sondern dem Herrn, und der Herr dem Leibe. Gott aber hat den Herrn auferweckt und wird auch uns auferwecken durch seine Kraft.

Wisst ihr nicht, dass eure Leiber Glieder Christi sind? Sollte ich nun die Glieder Christi nehmen und Hurenglieder daraus machen? Das sei ferne! Oder wisst ihr nicht: Wer sich an die Hure hängt, der ist ein Leib mit ihr? Denn die Schrift sagt: »Die zwei werden ein Fleisch sein« (1. Mose 2,24). Wer aber dem Herrn anhängt, der ist ein Geist mit ihm. Flieht die Hurerei! Alle Sünden, die der Mensch tut, sind außerhalb seines Leibes; wer aber Hurerei treibt, der sündigt am eigenen Leibe. Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch ist und den ihr von Gott habt, und dass ihr nicht euch selbst gehört?

Denn ihr seid teuer erkauft; darum preist Gott mit eurem Leibe.“

Welch ein Text, liebe Gemeinde!

Voller rechthaberischer Moral, verbunden mit der dazu gehörigen Überheblichkeit eines „Moralapostels“. Vier Mal schleudert Paulus ein „Wisst ihr nicht …!“ den „Übeltätern“ entgegen. Frei übersetzt: „Wie idiotisch seid ihr eigentlich?!“

Natürlich wissen sie es. Gerade so wie jeder Mensch weiß, dass er seinem Körper nichts Gutes tut, wenn er raucht, Alkohol trinkt, Fettes isst. Gerade so wie jeder Mensch weiß, dass es keine Heldentat ist, ins Bordell zu gehen. Oder seinen Partner/Partnerin zu betrügen. „Alles ist erlaubt, aber nichts soll Macht über mich haben“ (Vers 12b). Wunderbar. Schön wäre nur, wenn Paulus noch hinzufügen würde, wie „man“ das hinkriegt. Offenbar ist ein quälendes schlechtes Gewissen, offenbar sind peinigende Schuld- und Schamgefühle allein kein Mittel, das eigene Verhalten zu ändern. Im Gegenteil: Sie sind eingebaut in dem süchtigen Kreislauf von Triebdurchbruch, Schuld und Scham, sich schwören so etwas nie wieder zu machen … bis zum nächsten Triebdurchbruch. Solcher Art Moralpredigten tragen bis heute sehr zur Unglaubwürdigkeit von Religion bei. Wenn dann noch heraus kommt, dass sich die Amtsträger selbst nicht an das halten, was in ihrer Bibel steht, dass sie selber nicht leben, was sie predigen, dann ist das ohnehin schon geschmolzene Vertrauenskapital aufgebraucht. Und es ist sehr verständlich, wenn sich die Menschen zuhauf von den Kirchen abwenden.

Glaubwürdigkeit entsteht, wenn das öffentliche Reden oder Predigen eines Menschen im Großen und Ganzen im Einklang mit seinen Handlungen, mit seinem Leben als Ganzem steht. Ein Leben in Heiligkeit ist ein Leben „aus einem Guss“ (Martin Buber). Das Gegenteil davon ist Schein-Heiligkeit, ist, mit gespaltener Zunge zu reden. So entsteht Doppelbödigkeit. (Sie erinnern sich: Die Matrix dieser Doppelbödigkeit ist die Spaltung zwischen dem „braven“ „erwünschten“ und gelobten Befriediger-Baby und den Ängsten, dem Misstrauen, dem Hass dieses Babys. Für diese Gefühle gibt es keinen Platz: weder in der frühem Mutter-Beziehung noch bei Paulus und seinen Nachfolgern!)

Der erste Schritt auf dem Weg hin zu ganzheitlichem („heiligem“) Leben ist, sich selbst nüchtern und kritisch kennenlernen zu wollen: „Was ist es denn in mir, was mich da so wütend macht?“ Zu dieser selbstkritischen Frage ist Paulus offenbar nicht fähig. Ich vermute, es sind bei ihm dieselben Gefühle, die auch heute zu Wut und Hass führen. Es sind Gefühle des Ohnmächtig-Seins, des Sich-ausgeliefert, Sich-hilflos-Fühlens. Der „Andere“ (mein „Nächster“!) lebt nicht nur anders als ich – er ignoriert auch noch meine Werte, setzt sich möglicherweise triumphal oder auch nur ignorant darüber hinweg. Es ist die Macht-Ohnmacht-Schaukel, die zu verlassen solange unmöglich ist, wie ich meine, damit „vergebe“ ich mir etwas. Solange ich der Überzeugung bin: Ich muss an meinem Recht-Haben mit aller Gewalt festhalten.

Es ist für mich kein Zufall, dass in demselben Brief, in dem sich Paulus hemmungslos seinem Zorn, ja Hass überlässt – vgl. Kapitel 5, wo er allen Ernstes rät, ein Gemeindeglied dem Satan zu überlassen: „zum Verderben des Fleisches, auf dass sein Geist gerettet werde“ (im übrigen eine wunderschöne Rechtfertigung für die selbsternannten Großinquisitoren aller Zeiten) – dass in eben diesem Brief einer der schönsten Texte über die Liebe sich findet, das bekannte „Hohe Lied der Liebe“ (1. Korinther 13).

Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu …“ (1. Korinther 13, 4-5) Ganz offenbar ist es Paulus in unserem Textabschnitt (noch?) nicht gelungen, seinem eigenen Hass Einhalt zu gebieten. So ist er aus der Liebe, die er selbst im 13. Kapitel predigt, herausgefallen. Auch steht ihm ein anderer Gedanke, den er im Römerbrief ausformuliert, (noch?) nicht zur Verfügung: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ (Römer 12, 21)

Was lernen wir daraus?

Erstens: Gegenüber unseren Emotionen hat der Verstand, hat unser Wissen alleine keine Chance. Deshalb ist etwas zu predigen viel einfacher als das Gepredigte selbst vorzuleben. Dies erleidet jeder Prediger, der die Kraft zu nüchterner Selbstkritik aufbringt. Indem er sich seine eigene vermeintliche „Schwäche“ eingesteht, wird sich auch der Inhalt seines Predigens in Richtung Barmherzigkeit verändern.

Zweitens: Sich über andere zu empören ist viel leichter, als zu versuchen, das Fremde, das Andere, das mir und meiner Haltung zum Leben Entgegenstehende zu verstehen. Und verstehen heißt ja nicht für gut heißen!

Drittens: Im Hebräischen bedeutet jadaʿ nicht nur rational zu wissen, sondern ganzheitlich zu erkennen, bis hin zum Geschlechtsakt von Mann und Frau (1. Mose 4). In diesem „liebevollen Erkennen“ geschieht, was Paulus in seinem Hohen Lied der Liebe besingt. Von daher könnte man mit Paulus gegen Paulus auch sagen: „Alles ist mir erlaubt, aber nurmehr die liebevolle (Selbst-)Erkenntnis soll Macht über mich haben. Solange ich in ihr bleibe, solange bleibt sie in mir. Und gerade so erfreue ich mich meines leibhaftigen Lebens als winziger Teil einer großartigen Schöpfung!

Oder – in den Worten von Theresa von Avila:

Tu deinem Körper etwas Gutes, damit die Seele Lust hat, darin zu wohnen“ AMEN.

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Predigt über die Geburt von Johannes dem Täufer

Predigt über Lukas 1, 57 – 80 am 4. Sonntag nach Trinitatis (27. 6. 2021)

Liebe Gemeinde,

die Geburt Johannes des Täufers ist eine merkwürdige Geschichte. Der ersehnte Nachkomme des in die Jahre gekommenen Ehepaars Elisabeth und Zacharias – beide Nachfahren priesterlichen Geschlechts – will sich nicht einstellen. Sie sind ein hoch religiöses Paar, Zacharias ist Priester „von der Ordnung Abija“, gehört also zu den Leviten, Elisabeths Stammbaum geht direkt zurück auf den durch Moses von Gott selbst eingesetzten Hohepriester Aaron. Und so leben sie „beide gerecht und fromm vor Gott … in allen Geboten und Satzungen des Herrn untadelig.“ (Vers 6b). Und doch wird ihre Beziehung nicht fruchtbar. Um ein Kind zu bekommen, bedarf es der Bereitschaft zu „Unordnung“. Zu viel Kontrolle in Verbindung mit krampfhaft-nötigendem Bemühen („Es muss klappen!“) verhindert liebevolle Hingabe an das, „wie es gerade geschieht“. Hinzu kommen die besonderen Schwierigkeiten, wenn ein Kind in ein vorhandenes „(Familien-)System“ hinein geboren werden soll. Der ersehnte Thronnachfolger, der ersehnte Nachfolger des Firmeninhabers, oder eben der ersehnte Nachfolger in der Dynastie des Priestergeschlechtes zu werden, ist eine besondere Bürde für Eltern wie Kind. Die Gefahr ist groß, dass es von vorne herein wenig um das Kind als solches in seinem Neu- und Eigen-Sein geht, sondern darum, einer Rolle, einer Erwartung für Andere (die Eltern, Großeltern, Verwandtschaft, das Volk …) gerecht zu werden. Anders ausgedrückt: Das Kind ist bereits vor seiner Zeugung gefährdet, ein Mittel für die Befriedigung von Erwartungen zu sein. Sensible Frauen, die dies in ihrem Unbewussten spüren, die vielleicht selbst als Kinder in der gesunden Entwicklung ihres Selbstwertes durch an sie gestellte Erwartungen beeinträchtigt worden sind, reagieren darauf mit psychischer – nicht physiologischer – Unfruchtbarkeit und schützen so sich und ihr potentielles Kind davor, wiederum nur „Mittel zum Zweck“ zu werden.

In Klammern: Die Gedanken können dazu anregen, einmal der Frage nach zu gehen: Welche Bedeutung hatte ich eigentlich für meine Eltern? Was wollten sie von mir?

Was sollte ich in ihren Augen werden?

Und was sollte ich nicht werden?

Zacharias und Elisabeth scheinen sich einerseits damit abgefunden zu haben, dass ihnen kein Kind und Nachfolger beschieden ist; sie sind aus dem Alter raus, in dem man Kinder kriegt, ähnlich Abraham und Sara (Genesis 18). Andererseits haben sie wohl doch – wider alle Vernunft – um das Geschenk eines Kindes gebetet. Die Erfüllung ihres Wunsches, die Erhörung ihres Gebetes, geht mit „Bestürzung und Erschrecken“ (Vers 12) einher. Dies ist ein merkwürdiges, gar nicht seltenes Phänomen, dass die Nicht-Erfüllung gerade von Herzens-Wünschen beruhigend wirkt.

S. Freud hat dies auf dem Hintergrund einer anderen, freilich tragisch endenden Vater-Sohn-Geschichte, der von König Laios und seinem Sohn Ödipus, damit erklärt, dass der Wunsch des Kindes nach der Vereinigung mit einem Elternteil in der Fantasie-Welt des Kindes sich abspielt und nötig ist für gesundes seelisches Wachstum. Zur seelischen Katastrophe (Trauma) kommt es, wenn der kindliche Wunsch durch narzisstischen oder gar sexuellen Missbrauch durch eine Autoritätsperson „in Erfüllung“ geht, also Realität wird. Die Katastrophe besteht im Verschwinden (in der Ödipusgeschichte der Tötung) des „anderen“ Elternteils. Das seelische Erleben (des Kindes) ist nicht länger aufgespannt in der Raum gebenden und schützenden Dreiheit von Vater-Mutter-Kind. In der Geschichte des Christentums gibt es viele schlimme Beispiele dafür, dass die Erfüllung des Wunsches nach der „Vereinigung“ mit Gott zur Kehrseite die Liquidierung des Anderen, des Fremden hatte. Es ist ebenfalls ein verbreitetes menschliches Phänomen, dass in der liebevollen Hinwendung zu dem „Einen“ die hässliche – im Sinne von hasserfüllt – Abwendung von dem „Anderen“ geschieht. Unser menschlicher Verstand neigt dazu, „Unterscheidung“ mit „Aus-Scheidung“ und nicht mit „Hinein-Nahme“ im Sinne von Integration zu verbinden. (Aus-Scheidung: lateinisch Exkommunikation!)

Diese Art des Verstandes-Denkens wird radikal in Frage gestellt, wenn wahrhaftig Gott selbst ins Denken einfällt. Dazu gehören Gefühle von „Angst und Schrecken“. Zacharias hat die Kraft, diese zu ertragen. So kann er da bleiben und hören, was zu hören ist. Allerdings so, dass er verstummt. Die ihm vertrauten, Sicherheit gebenden Möglichkeiten seines Erkennens – „Woran soll ich das erkennen?“ (Vers 18a) – sind am Ende. Der ihm vertraute Verstand verstummt. Das Neue beginnt mit dem neuen Namen.

Natürlich – so ist es gute Tradition – erhält der männliche Erstgeborene den Namen seines Vaters. Gabriel, traditionell der Überbringer göttlicher Visionen, durchbricht dies: „Du sollst ihm den Namen Johannes geben“ (Vers 13b). Johannes heißt: „Gott ist gnädig, barmherzig“. Es geht um die liebevolle Zuwendung Gottes zu seinen Geschöpfen! Weshalb aber ist diese mit „Angst und Schrecken“ verbunden? Liebe ist viel schwerer auszuhalten als Hass. Zuwendung ist viel gefährlicher als Abwendung. Ja zu sagen ist um so viel schwieriger als Nein zu sagen. Dies hat wohl damit zu tun, dass ich im Nein meine vermeintliche Sicherheit behalte, während ich mich im hingebungsvollen echten „Ja“ ausliefere. Je jünger Kinder sind, desto verletzlicher, desto ausgelieferter sind sie an ihre Umwelt – ganz einfach deshalb, weil sie noch nicht selbst für ihr Überleben sorgen können. Waren die Erfahrungen aus dieser frühen Zeit schmerzhaft oder gar demütigend, wird den Erwachsenen ein harter Panzer des Schutzes umgeben. Was sich in Beziehung als kalt, abweisend oder bemächtigend anfühlt, ist Ausdruck jenes Schutzraumes, der einst das Überleben sichern sollte. Sein Aufgeben ist lebensgefährlich, weckt die alten Todesängste.

Sich (auf Gott) einlassen bedeutet, diesen Schutzraum zu verlassen. „Adam, wo bist du?“ ist die erste Frage, die Gott an Adam, den Menschen schlechthin, richtet. Der Mensch, wir Menschen neigen dazu, uns zu verstecken und reagieren auf den Anruf Gottes mit „Angst und Schrecken“. Unser Vertrauen auf einen gnädigen und barmherzigen Gott ist brüchig: Allzu oft haben wir erfahren, wenn wir unser Versteck verlassen, stoßen wir auf kein Verständnis, stattdessen werden wir abgelehnt und bestraft. In dieser moralischen Verdrehung wird die „Vertreibung aus dem Paradies“ als Strafe Gottes verstanden, ebenso wie das Verstummen des Zacharias als Strafe missverstanden wird: „Weil du meinen Worten nicht geglaubt hast.“ (Vers 20b)

Durch die chronische Verwendung von Religion für moralische Ge- und Verbote hat sie ihr Ansehen verloren, gilt sie bei ihren Gegnern als reaktionär und entwicklungsfeindlich. Der Weg Adams ist in Wahrheit einfach der Weg des sich entwickelnden Menschen, der notwendig heraus führt aus der kindlichen Sehnsucht nach dem Paradies. Der Weg wahrhaftigen Erlebens Gottes, wie es Zacharias widerfuhr, führt in die Stille, in das Schweigen hinein. Dies hat nichts mit Strafe zu tun. Dabei ist zu ertragen, dass die „Gesellschaft“ sich wundert. Zweimal heißt es in unserem Text: „… und sie wunderten sich.“ Einmal, als Zacharias „so lange im Tempel bleibt“ (Vers 21a), das andere Mal, als deutlich wird, dass Elisabeth und der stumme Zacharias darin übereinstimmen, ihren neugeborenen Sohn – entgegen aller Tradition – nicht nach dem Namen des Vaters sondern Johannes zu nennen (Vers 63b).

Sich wundern“, thaumazo, drückt ein Kontinuum aus, das auf der einen Seite in Richtung Bewunderung, auf der anderen Seite in Richtung Ablehnung geht: „Ich bin schon sehr verwundert …!“ Die Befreiung religiösen Denkens aus dem Korsett der Moral führt in das Erleben eines existentiellen Alleinseins, das allen Mystikern und Mystikerinnen bekannt ist – auf das die „Außen-Stehenden“ (die religiösen Institutionen) mit idealisierender Bewunderung (Heiligsprechung) einerseits, mörderischer Verwunderung (Scheiterhaufen) andererseits reagierten. Dem entspricht das Schicksal des Johannes, das sein Vater etwas einseitig vorhersagt: „Und du, Kindlein, wirst ein Prophet des Höchsten heißen Denn du wirst vor dem Angesicht des Herrn hergehen, seine Wege zu bereiten, um seinem Volk Erkenntnis des Heils zu geben in der Vergebung ihrer Sünden, durch die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes…“ (Vers 76ff.). Was Zacharias weglässt, das ist die dunkle Seite des prophetischen Lebens seines Sohnes: Sein Allein-sein in der Wüste, seine Gefangenschaft und schließlich seine Enthauptung durch König Herodes, um eine Laune seiner Tochter zu befriedigen.

Echte Propheten sind keine Schön-Wetter-Propheten. Sie stellen eine reale Gefahr für die Institution (das „Establishment“) dar, da sie die mühsam gewonnene und geronnene Struktur, innerhalb derer die Institution „funktioniert“, bedrohen. Ihre Kraft und ihren Mut beziehen diese Menschen allesamt aus der Tiefe ihrer Gottesbeziehung. Diese entsteht – auch darin besteht prophetische Einigkeit – durch ein Sich-leer-Machen. Neun Monate hatte Zacharias geschwiegen. So wurde sein Denken von den ihm bekannten und vertrauten Gedanken entleert. Der Ort der Leere aber ist die Wüste: Er wird zur Heimat seines Sohnes werden. Zacharias hat im Schweigen seine „innere Einöde“ aufgesucht. Und als das „Neue Leben“ in Gestalt seines Sohnes Johannes, in Gestalt des Erlebens: „Gott ist barmherzig!“ auf die Welt gekommen ist, bekam Zacharias eine neue Fülle geschenkt, entstanden und gewachsen in eben dieser Leere: „Und Zacharias, sein Vater, wurde mit Heiligem Geist erfüllt und weissagte“ (Vers 67).

Im berühmten „Benediktus“ (Verse 68 – 79) bereitet sich der Heilige Geist selbst den Weg. Er spricht aus Zacharias heraus. Sein Sohn Johannes wird genau dieses Geschehen in den Mittelpunkt seiner Predigt stellen: „Bereitet den Weg des Herrn, macht seine Pfade gerade!“ (Lk. 3,4b). Beide, Vater wie Sohn, stehen mit dieser Botschaft unmittelbar in der Tradition prophetischer Heils-Verkündigung. Der Weg dorthin führt notwendig in die Wüste, dem Ort des Nicht, hinein. Der Weg der Erlösung ist ein Weg des Verzichts und der Entbehrung. Nicht so, dass der Verzicht als solcher einen Wert hätte. Das wäre der Missbrauch von Askese für vertrautes um sich selber kreisendes Erleben. Es geht um freiwilliges Sich-arm-Machen für einen ganz anderen Reichtum, der nicht „von dieser Welt“ ist. „Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat besucht und erlöst sein Volk …“ (Vers 68). Das griechische Verb für „besuchen“ (episkeptomai) bedeutet wörtlich: „ansehen“ im Sinne von „auf etwas oder jemanden schauen, etwas oder jemandem Mitleid, Wohlwollen oder Beachtung schenken.“ (Elberfelder Bibel) Nur nebenbei: Es ist auch der Stamm für das Wort „Bischof“!

Den Anderen „ansehen“ bedeutet, den Anderen als fremden Nächsten „ansehen“ und sein Eigen-Sein und seine Eigen-Art zu „respektieren“. In der einseitigen Verwendung des Anderen für das eigene Begehren und die eigenen Begehrlichkeiten wird das Anderssein des Anderen gerade nicht gesehen. Er wird ignoriert. Den Anderen als Anderen sehen und kennen lernen bedeutet aber, von sich selber absehen zu können. Da dies mit Gefühlen der Selbst-Aufgabe verknüpft ist, löst das Beschreiten dieses Weges (alte) Vernichtungsängste aus. Allein das tiefe Vertrauen in die „herzliche(n) Barmherzigkeit unseres Gottes“ (Vers 78a) verleiht auf dem Weg durch die Wüste die notwendige Sicherheit und Freiheit für das von Gott gemeinte wahre Eigen-Sein. Aus diesem Vertrauen heraus leben Elisabeth, Zacharias, Johannes und nicht zuletzt Jesus.

Mögen auch wir aus diesem Vertrauen heraus unseren Weg zu Gott und so zu uns selbst finden, AMEN.

 

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Predigt an Pfingsten 2021 über 1. Mose 11, 1-9

Liebe Gemeinde,

unser heutiger Predigttext ist einer der ganz großen Mythen der Menschheitsgeschichte. Er lautet missverständlicher Weise „Der Turmbau zu Babel“. In Wirklichkeit geht es um die Gründung einer Stadt und den Bau eines Turms. Der Mythos findet sich im 1. Buch Mose im 11. Kapitel.

„111Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. 2Als sie nun von Osten aufbrachen, fanden sie eine Ebene im Lande Schinar und wohnten daselbst. 3Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, lasst uns Ziegel streichen und brennen! – und nahmen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel 4und sprachen: Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, dass wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut über die ganze Erde.

5Da fuhr der Herr hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. 6 Und der Herr sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. 7Wohlauf, lasst uns hernieder fahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe!

8So zerstreute sie der Herr von dort über die ganze Erde, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen. 9Daher heißt ihr Name Babel, weil der Herr daselbst verwirrt hat aller Welt Sprache und sie von dort zerstreut hat über die ganze Erde.“

Die Struktur der Geschichte ist einfach: Da gibt es eine Gruppe – genannt Menschen – die wollen sesshaft werden. Von Osten kommen sie her und planen, eine „Stadt und einen Turm“ zu bauen. Dieser Plan wird von einer Gegenkraft vereitelt. Das Motiv der Gegenkraft: Wenn sie das tun, „wird man ihnen nichts mehr verwehren können“. Heißt: Dann sind sie allmächtig. Man hat diesen Mythos – wie viele Geschichten der Bibel – für schwarze Pädagogik verwendet. Der sich seiner selbst, seiner Möglichkeiten bewusst werdende Mensch wird für sein Denken und Handeln bestraft. Diese Pädagogik ist der Grund des Bündnisses von Religion mit reaktionärem Denken und der daraus folgenden Ablehnung neuer (natur-)wissenschaftlicher Erkenntnisse. Zu dieser Ablehnung gehört, dass dem wissbegierig-forschenden Menschen narzisstische Motive unterstellt werden: Er „will sich „einen Namen zu machen!“ Die Begründung freilich ist ganz und gar un-narzisstisch: „Wir werden sonst zerstreut über die ganze Erde“.

Zerstreuung ist ein merkwürdiger Zustand: „Eben hatte ich doch noch meinen Wohnungsschlüssel – und jetzt ist er weg! Und wo ist eigentlich meine Brille? Was wollte ich noch mal aus dem Keller holen?“

Ich vermute, viele von uns kennen diese Art von Zerstreutheit – ohne dass sie das Gefühl haben, dement zu werden.

Gegen Zerstreutheit hilft die Definition.

Eine Definition beschränkt (finis) – und indem sie beschränkt, bestimmt sie. Die ersten 7 Schöpfungstage mit ihren 10 Schöpfungswerken sind lauter Definitionen: Himmel – Erde; Licht – Finsternis; festes Land – Wasser … usw.

Bei uns Menschen ist unsere Definition unsere Identität. Auch sie beginnt mit dem Namen und führt dann weiter. Unsere Idenität gibt Auskunft auf die Frage: „Wer bin ich?“

Sich einen Namen machen heißt so gesehen: Sich eine Identität schaffen. Identität hat mit dem Wissen zu tun, wer man ist und wo man hingehört.

I bin der Lothar, und do bin i dahoam!“

Für ein erfülltes, sinnvolles Leben brauchen wir wenigstens eine Ahnung davon, wer ich bin und wo ich hin gehöre. Andernfalls erlebe ich „Zerstreuung“ und „Verwirrung“.

Nun erzählt uns der Mythos, dass das Tun dieser Menschen gerade nicht zur Erfüllung dessen führt, was sie sich wünschen. Ganz im Gegenteil. Es tritt genau das ein, was befürchtet wurde: „8So zerstreute sie der Herr von dort über die ganze Erde, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen.“ In der Psychologie heißt das: self fulfilling prophecy (Merton 1946) – eine Vorhersage, die sich selbst erfüllt. Dies ist ein machtvolles, verbreitetes und empirisch nachweisbares Geschehen: So ist z. B. erwiesen, dass Senioren, die Angst davor haben zu stürzen, auch wirklich häufiger stürzen.

Die befürchtete „Zerstreuung“ ist zunächst eine sprachliche, in der Folge davon auch eine räumliche. Sie wird auch als „Verwirrung“ bezeichnet. Was bedeutet das?

Die dahinter liegende Idee ist, dass es „einheitliche“ Sprache gibt, die das Wesen dessen, was sie benennt, ausdrückt. Eine wesentliche Sprache.

Eine wesentliche Sprache ist klar und eindeutig. Es wird gesagt, was zu sagen ist – nicht mehr und nicht weniger. Un-wesentliche Sprache ist „zerstreut“. In ihr drückt sich Beliebigkeit aus. Es kann das gemeint sein, es kann auch etwas ganz anderes gemeint sein. Oder es kann auch gar nichts gemeint sein. Unwesentliche Sprache ist in sich selbst verliebt, sie kreist um sich selbst. Eine wesentliche Sprache hingegen versucht dem Ausdruck zu verleihen, was ihr Sprecher wahrnimmt. Sie ist der Aufdeckung von Wahrheit verpflichtet. Unwesentliche Sprache will nichts aufdecken; sie will verschleiern – insbesondere dies, dass ihr Sprecher nichts zu sagen hat. Unwesentliche Sprache ist hohl.

Nicht selten werden Predigten in unwesentlicher Sprache verfasst.

Liebe Gemeinde,

vielleicht fragen Sie sich jetzt zurecht, was das ganze mit Pfingsten zu tun hat.

Die verbindende Klammer ist die Sprache:

Und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und begannen zu predigen in anderen Sprachen, wie der Geist ihnen zu reden eingab“, heißt es in der Apostelgeschichte des Lukas.

Wie geht das? Welches ist das Werk des Heiligen Geistes? „Er wirkt zweierlei im Menschen; das eine: er entleert ihn; das andere: er füllt das Leere, soviel und soweit er es leer findet.“ So predigte der Dominikaner Johannes Tauler vor ungefähr 700 Jahren an Pfingsten. Und er fährt fort:

Diese Entleerung ist die erste und größte Vorbereitung für den Empfang des Heiligen Geistes. Denn ganz so weit und ebensoviel der Mensch entleert ist, so viel mehr wird er auch fähig, den Heiligen Geist zu empfangen. Denn will man ein Fass füllen, so muss zuvor heraus, was drinnen ist. … Alles Geschöpfliche muss heraus, es sei von welcher Art auch immer; es muss alles weg, was in dir ist und was du empfangen hast. … So muss der Mensch sich fassen lassen, sich leeren und sich vorbereiten lassen. Er muss alles lassen, dieses Lassens sich selbst noch ledig werden und es lassen, es für nichts halten und ins sein lauteres Nichts versinken. Andernfalls vertreibt und verjagt er sicher den Heiligen Geist und verhindert ihn, in höchster Weise in ihm zu wirken.“

Johannes Tauler weiß, wovon er spricht. Er weiß auch, wie mühsam dies ist:

Aber diesen Weg sucht (so leicht) niemand auf.“ sagt er.

So unterscheidet er spitz zwischen „Lesemeister“ und „Lebensmeister“. Die Lesemeister seien überaus „belesen“, würden aber das Gelesene nicht auf ihr alltägliches Leben anwenden.

Ja – so ist das, so war das vor 700 Jahren und so wird es in 700 Jahren sein.

Aber, so Tauler: „Wann immer diese Vorbereitung (also das Leer-Werden) im Menschen geschehen ist, wirkt der Heilige Geist sogleich sein zweites Werk in dem so vorbereiteten Menschen: er füllt ihn nach seiner ganzen Empfängnisfähigkeit aus. Soviel du in Wahrheit geleert bist, ebensoviel empfängst du auch; je weniger des Deinen du behältst, um so mehr Göttlichkeit empfängst du: der Eigenliebe, der Eigenmeinung, des Eigenwillens, aller diese sollst du dich entäußert haben …“

STOP! – müssen Sie jetzt rufen!

So geht das nicht: Eben noch sprichst du noch davon, wie wichtig das Gefühl einer Identität für uns Menschen ist: zu wissen wer wir sind und wo wir hingehören.

Also der Bedeutung des Ur-Eigenen!

Und jetzt heißt es – mit Johannes Tauler – das Eigene hat überhaupt keinen Wert; um vom Heiligen Geist erfüllt zu werden, ist es aufzugeben, ist es „zu lassen“ und auch dein Bemühen, „es zu lassen“, sollst du noch sein lassen. Also: Zunächst soll ich mir mühsam meine Identität erarbeiten, um sie dann wieder aufzugeben?

Das ist doch ein eklatanter Widerspruch!

Genau so ist es. Es ist nicht nur ein Widerspruch – es ist ein existentielles Dilemma oder eine existentielle Dialektik, in der jeder von uns lebt! Ob er will, oder nicht, ob sie/er es sich bewusst macht, oder nicht. Diesen Widerspruch kennt im übrigen jeder Künstler. Wenn ich z.B. ein Musikstück einübe, muss ich es analysieren, in kleine und kleinste Teile zerlegen, es „technisch“ üben usw. Wenn ich damit fertig und zu musizieren beginne, ist es am besten, wenn ich all das wieder vergesse. Und mich ganz dem Augenblick des selbst versunkenen Spieles überlasse.

Und eben hier scheiden sich die Wege. Es geht um die Beantwortung der Frage, was mir wirklich wichtig im Leben ist, womit ich mich identifiziere. Die gültige Antwort darauf geben nicht die Worte, die ich sage, sondern das Leben, das ich lebe.

Wenn ich mit Erfolg, Status, Einfluss, Macht identifiziert bin, wenn ich mir in diesem Sinne „einen Namen machen möchte“, „Karriere“ machen möchte, werden mich die Gedanken Taulers ärgern und ich werde sie bekämpfen – oder schlicht ignorieren.

Tauler, der insbesondere zu Nonnen gepredigt hatte, also zu Menschen, die sich einem Leben in klösterlicher Hingabe an Gott verschrieben haben, hatte in seiner Pfingstpredigt den Mut zu folgendem Gedanken: „Wenn der dem Geschöpf anhangende Mensch nicht seines eigenen Selbst entleert ist, glaubt er oft, dass Gott alles wirke, was in ihm geschieht; es kommt aber alles von ihm selber, ist sein eigenes Werk, kommt von seiner Anmaßung, seiner Selbstzufriedenheit.“ Mit anderen Worten: Dieser Mensch verwechselt sich selbst mit Gott.

Besonders gefährdet für diese Verwechslung sind Menschen in religiösen Berufen. In nicht-religiösen Berufen ist die Gefahr eine andere – und das Ergebnis dasselbe: Die Gefahr ist, das eigene Denken absolut zu setzen und eine Position zu erlangen, die mich mit der Macht ausstattet, meine Anschauung von der Welt und den Menschen durchzusetzen.

Gott aber wirkt nicht durch die Macht einer kriegerischen Armee, Gott wirkt nicht durch Gewalt – Gott wirkt in und durch seinen Heiligen Geist – so heißt es bei Sacharja, dem Wochenspruch für diese Pfingstwoche.

Im Wirksam-Werden und im Wirken-Lassen des Heiligen Geistes geschieht radikale Veränderung der Persönlichkeit des Menschen. Dies ist für Johannes Tauler der Kern des Pfingstwunders. Wer dieses „Wunder“ am eigenen Leib erleben darf, erlebt ein Durchlaufen von Gefühlen des „Ver-rückt-Werdens“. Ich werde verrückt, indem ich in Gottes Wirklichkeit hinein gerückt werde. Wer die damit notwendig einhergehenden Ängste nicht aushält, der ist „nicht geschickt für das Reich Gottes“ (Lukas 9,62).

Die „anderen Sprachen“, in denen die Apostel reden, sind für Tauler „neue Sprachen“: „Der Mensch soll seine alte Redeweise, wie er sie von Natur aus empfangen, in Zucht nehmen.“ Und er fährt in direkter Anrede fort: „Meine Lieben! Vor allen Künsten lernt die Kunst, eure Zunge zu hüten, und seht euch vor, was ihr sprecht, …“ Um Neues wirklich lernen und verinnerlichen zu können, ist Altes bleiben zu lassen!

Die neue Sprache hat für Tauler auch eine neue Verwendung: „Seht zu, dass euer Wort zu Gottes Ehre sei und zur Besserung des Nächsten und zu eurem eigenen Frieden diene.“

Wer diesen Rat beherzigt, in dessen Herz zieht Stille ein und Friede.

Meylana Dschelaluddin Rumi, Gelehrter und einer der bedeutendsten persischen Dichter des Mittelalters, – er lebte zwei Generationen vor Tauler – empfiehlt ganz im Sinne Taulers:

Bevor ein Mensch spricht, soll er seine Worte durch drei Tore gehen lassen. Beim ersten Tor frage: ‚Sind sie wahr?‘ Am zweiten frage: ‚Sind sie notwendig?‘ Am dritten Tor frage: ‚Sind sie freundlich?‘* (Stangl, 2021). Und erst wenn sich alle drei Tore öffnen (also das Tor der Wahrheit, das Tor der Notwendigkeit und das Tor der Güte) ist es gut, was mir in den Sinn kommt auch auszusprechen.

Es gibt noch „andere“ Sprachen, jenseits unserer „menschlichen“ Sprache. Zum Beispiel die Körpersprache. Wer mit Tieren arbeitet, weiß, dass dies die entscheidende Art der Verständigung ist. Auch hier geht es um die Genauigkeit des Sich-Ausdrückens. Probleme mit Haustieren sind zu allermeist Verständigungsprobleme.

Schließlich gibt noch eine ganz „andere“ Sprache, die zwar menschlich ist – und doch ohne Worte auskommt. Sie ist international, und wer sie spricht, der kann mit anderen Menschen kommunizieren, auch ohne ein Wort der gesprochenen Sprache des Anderen zu kennen.

Und so hört jetzt meine Sprachpredigt auf, nicht aber die Predigt als solche.

Die Prediger, die jetzt in „anderer Sprache“ predigen, sind Aldo und Lisa mit dem „Abendlied“ für Violine und Orgel von Josef Rheinberger.

*Stangl, W. (2021). Die drei Siebe des Sokrates – Wahrheit – Güte – Notwendigkeit – arbeitsblätter news. Werner Stangls Arbeitsblätter-News.
WWW: https://arbeitsblaetter-news.stangl-taller.at/die-drei-siebe-des-sokrates-wahrheit-gute-notwendigkeit/ (2021-05-16).

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Predigt über Lukas 19, 37-40 am Sonntag Kantate 2021

Liebe Gemeinde,

stellen Sie sich vor, jemand, der ein hohes politisches Amt bekleiden möchte, müsste erst einmal seine Musikalität nachweisen. Ob dadurch und damit Politik menschenfreundlicher, lebendiger, weniger starr würde?

Ich weiß es nicht. König David, von dem wir vorhin hörten, war jedenfalls Schafhirte und Harfenspieler. Er spielte die zehnseitige Kinnor, auch Davidsharfe genannt. Vielleicht sang er auch dazu. Jedenfalls hat seine Musik den zu Wahnsinn neigenden König Saul beruhigt.

Musik hat eine ganz eigene Wirkung. Sie bringt in uns etwas in Schwingung, was über die Möglichkeiten von Sprache deutlich hinaus geht. Musik berührt anders als Sprache: irgendwie tiefer. Vielleicht hat das damit zu tun, dass unser Hörsinn, unser Gehör schon im Mutterleib vollständig ausgebildet ist und funktioniert. Wir hören ab etwa 5 bis 6 Monate – also lange bevor wir sehen. Wir hören den Rhythmus des Herzens der Mutter, wir hören die gurgelnden Darmgeräusche. Und wir hören – wenn auch sehr abgedämpft – Töne, Geräusche, Stimmen aus der Welt, deren Licht wir in ein paar Wochen erblicken werden.

Musik ist auch nicht – wiederum anders als unsere Sprache – auf unseren Verstand angewiesen. Sie wirkt – selbst wenn wir nichts von ihr verstehen. Auch Tiere reagieren auf Musik: Kühe geben mehr Milch, wenn ihnen Musik von Mozart vorgespielt wird.

Die Fähigkeit Musik zu machen, zu komponieren, hat andererseits keine Auswirkungen auf den Charakter des Menschen, der sie macht. Sieht man sich die Biographien berühmter Musiker an, so ist jedenfalls eines anzuerkennen: Bessere Menschen waren sie auch nicht. Ein Mozart in seiner provokanten Überheblichkeit, ein Beethoven mit seinen Beziehungsabbrüchen und Wutausbrüchen, ein Schumann mit seinen schizophrenen Schüben, ein Schubert mit seinem Alkoholabusus. Von daher darf man skeptisch sein, ob der Text des bekannten Kanons: „Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder“, so stimmt. Was aber sicher stimmt, ist: Gemeinsames Singen ist ein im höchsten Maße sozialer Akt, es ist auf ein Miteinander angelegt – auch wenn man manchmal bei Chorproben eher das Gefühl eines Gegeneinanders bekommen kann …

In unserem heutigen Predigttext ist zwar nicht direkt vom Singen die Rede, sondern davon, „mit Freuden Gott zu loben“. Singen also als „Gotteslob“! Das ist im übrigen auch und sehr stimmig der Titel des Gesangbuches unserer katholischen Schwestern und Brüder. Und es ist davon die Rede, wie dieses „Gotteslob“ Missmut und Ärgernis hervorruft. Doch hören Sie selbst (Lukas 19, 37-30):

37 Und als er schon nahe am Abhang des Ölbergs war, fing die ganze Menge der Jünger an, mit Freuden Gott zu loben mit lauter Stimme über alle Taten, die sie gesehen hatten, 38 und sprachen: Gelobt sei, der da kommt, der König, in dem Namen des Herrn! Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe! 39 Und einige von den Pharisäern in der Menge sprachen zu ihm: Meister, weise doch deine Jünger zurecht! 40 Er antwortete und sprach: Ich sage euch: Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien.“

„Und als er schon an den Abhang des Ölbergs herankam …“ – damit beginnt unser heutiger Predigttext der zugleich das Sonntagsevangelium darstellt.

Der Ölberg war zur Zeit Jesu ein Hügel voll mit Olivenbäumen. Einige wenige sind noch erhalten. Von dort aus zieht Jesus als der erwartete Messias in Jerusalem ein, dort betet er unmittelbar vor seiner Gefangennahme die bekannten Sätze: „Vater, willst du, so nimm diesen Kelch von mir; doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe!“ Und von dort aus ist er in den Himmel aufgefahren.

Der Ölberg ist also einerseits der Ort, an dem Jesus in innigster Beziehung mit seinem Vater ist – und zugleich der Ort, an dem er (von der Welt) gefangen genommen und mit dem Tode bestraft wird.

Mir geht es um dieses Zugleich. Mir geht es um Un-Eindeutigkeit. Dies widerspricht unseren Wünschen und Sehnsüchten. Sie wollen das Eine, das Absolute, das einzig Wahre. Sie wollen den Messias.

Jesus ist der Christus – und kein anderer.

Mohammed ist der größte Prophet – und kein Anderer.

Der einzige Gott ist unser Gott, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Und kein Anderer.

Eindeutigkeit stiftet Identität. Ich bin ich – und kein Anderer.

Diese Identität brauchen wir, andernfalls leben wir in Verwirrung. Es gibt Menschen, die heben im Nachsatz auf, was sie im Vorsatz gesagt haben. Solche Menschen sind verwirrt und verwirren. Sie scheuen Klarheit, Eindeutigkeit. Das hat damit zu tun, dass es eine verbreitete Verbindung von Eindeutigkeit und Machtausübung gibt. Ich sage, dir wie es ist – halte dich daran!

Dann wird aus „Ich bin ich“ „mia san mia“. Was soviel heißt wie: Wir bestimmen, was falsch und richtig ist, was gut und böse ist, wie man etwas zu machen und etwas zu lassen hat. Anders ausgedrückt: Dann wird eine Möglichkeit zu leben, die Welt zu sehen zur einzigen. Es gibt keine verschiedenen Perspektiven mehr, sondern nur die eine, eigene!

Es befreit unser Leben und unser Denken, wenn wir mit offenem Herzen anderen Perspektiven begegnen. Und noch befreiender ist der berühmte Perspektivenwechsel: D.h., ernsthaft versuchen, die Perspektive eines Anderen einzunehmen: und zwar soweit möglich „ganzheitlich“. Das ist die leider nicht sehr verbreitete Fähigkeit zu Empathie – zu deutsch Einfühlung. Ich fühle mich in den Andern ein, setzt die Bereitschaft voraus, ich sehe von meinen eigenen Gefühlen, von meiner eigenen Perspektive ab. Ich stelle mich zurück. So erst entsteht Raum für einen echten Dialog, einen echten Austausch zwischen zwei verschiedenen Menschen. Allerdings nur, wenn der Andere bereit, diesen „Gemeinschaftsraum“ mit mir auch zu betreten. Viel verbreiteter ist das „Absetzen“ der eigenen Meinung ohne Interesse an einem Miteinander. Monologische Kommunikationsformen wie z. B. eine Predigt eignen sich bestens dafür, die eigene Meinung absolut zu setzen. Es würde sehr viel Mut erfordern, dem Pfarrer, ausgestattet mit der Vollmacht seines Amtes, zu unterbrechen, zu widersprechen, eine andere Meinung zu äußern. In der schwarzen Pädagogik heißt das: „Nur böse Kinder geben Widerworte…“

Schauen wir auf diesem Hintergrund unseren Predigttext an:

Da gibt es die Perspektive der „Jünger Jesu“. Sie „loben Gott, und freuen sich“, denn für sie ist Jesus der erwartete Messias.

Dann gibt es die Perspektive der Pharisäer. Sie sind entsetzt und ärgerlich über die Perspektive der Jünger Jesu. In ihren Augen ist das alles Gotteslästerung, Und so fordern sie Jesus auf, seine Jünger zurecht zu weisen, dem blasphemischen Treiben Einhalt zu gebieten.

Und schließlich gibt es die Perspektive Jesu selbst, die sich in dem Satz ausdrückt: „Ich sage euch: Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien.“ Was so viel bedeutet wie: Für das Offenbar-Werden des Messias gibt es kein Halten, es lässt sich nicht unterdrücken.

Dies sind die Perspektiven der Akteure unseres Textes.

Und dann gibt es noch die Perspektive des Verfassers des Textes, des Evangelisten Lukas. Alle drei Evangelien schildern den Einzug Jesu in Jerusalem, aber nur Lukas berichtet von dieser Episode mit den Pharisäern. Ihm ist der Lobpreis aller Völker – Lukas schreibt für Nicht-Juden – besonders wichtig.

Und so ist es auch bei uns: Jede und jeder von uns sieht die Welt aus der ganz eigenen Perspektive, hört meine Predigt aus ihrer oder seiner Perspektive. Und natürlich predige auch ich aus meiner Perspektive, meiner „Sicht“ der Welt heraus.

Dies ist eine Quelle für viele Missverständnisse, die zu Streit und sogar Beziehungsabbrüchen führen. Unsere menschliche Sprache scheint sich im übrigen besser für Miss-Verstehen denn für Verstehen zu eignen. Dies ist auch eine Form der babylonischen Sprachverwirrung, über die ich an Pfingsten predigen werde.

An dieser Stelle beruhigt mich die Erkenntnis, dass es bei aller Fülle unterschiedlichster Perspektiven nur eine einzige Wahrheit gibt. Zu dieser Wahrheit sage ich Gott: Sie bleibt in der Regel für uns „normal Sterbliche“ unerkennbar. Und es steht jedem Menschen zu jeder Zeit seines Lebens frei, sich mit dieser Wahrheit zu verbünden, sich ihr zuzuwenden oder eben nicht.

Sich mit der Wahrheit verbünden bedeutet, auf dem Boden dessen, was ist, zu stehen. Das ist der Boden der Wirklichkeit, der Realität.

Sich mit der Wahrheit verbünden heißt auch, und das ist die Herausforderung, anzuerkennen, dass mein „Ich“ sie nicht besitzt, schlimmer noch, dass sie mir unbekannt ist. Dieses Nicht-Wissen mag mein Verstand überhaupt nicht. Seine Strategie ist: Was ich nicht weiß und/oder nicht verstehe, das ignoriere ich. Es lohnt sich nicht, sich damit zu beschäftigen.

Dies wiederum ist der Wirklichkeit, der Wahrheit völlig egal. Sie braucht auch keine Steine, die irgend etwas schreien. Die Wirklichkeit ist. Punkt, Mehr ist dazu nicht zu sagen.

Beispiel: Dem Corona-Virus ist es völlig egal, ob jemand seine Existenz verleugnet oder anerkennt. Er wirkt.

Der Sonne ist es völlig egal, ob jemand sie in seiner Fantasie um die Erde kreisen lässt, oder ob sie als Fixstern anerkannt wird.

Dem Christus, dem Messias ist es völlig egal, ob er als Messias anerkannt, bekannt wird. Aber: es gibt nicht nur Christus – es gibt auch Jesus.

Jesus, das „fleischgewordene Wort Gottes,“ leidet, weil er (auch) Mensch ist. Gerade so wie Sie und ich. Unmittelbar nach unserem Text heißt es von diesem Jesus: „Und als er nahe hinzu kam und die Stadt (Jerusalem) sah, weinte er über sie und sprach: Wenn doch auch du erkenntest an diesem Tag, was zum Frieden dient!“ In der Tat: Ist es nicht zum Heulen, dass uns Menschen – seit es uns gibt! – es derart schwer fällt, zu erkennen und zu leben, „was zum Frieden dient“?

An erster Stelle dient zum Frieden, sich selbst zurück zu nehmen. Es ist die Haltung und eine Handlung eines gesunden Egoismus, den Armen zu helfen und sich um Gerechtigkeit zu bemühen. Es ist die Haltung und eine Handlung eines kranken Egoismus, um sich selbst zu kreisen und sein Ich dafür zu verwenden, die eigenen süchtigen Bedürfnisse zu befriedigen. Die Abholzung des Regenwaldes in Brasilien, das Fehlen von Impfstoff in den armen Ländern – in Amerika wird er gehortet – und damit verbunden die unkontrollierte Ausbreitung des Corona-Virus: Es sind zwei aktuelle Beispiele, wie der Egozentrisums von uns Reichen („me first!“) auf uns selber zurück fällt.

Und wie geht das „Sich-selbst-Zurücknehmen“? Es geht so, dass ich mich und das, was mich (an-)treibt kennen lerne. Nur wenn ich den „Gegner“ kenne, kann ich mich auf ihn einstellen.

Und es geht so, dass ich meine Fähigkeit zu lieben stärke. Liebe ist aber nichts Anderes als einverstanden zu sein damit, wie es gerade ist, wie ich gerade bin, wie der Andere gerade ist. Damit ist der ewige Kampf beendet.

Rabbi Sussja wurde immer wieder gequält von dem Gefühl, das, was er sei und was er mache, genüge nicht, es sei einfach zu wenig. So wird berichtet, wie er mitten in der Nacht von seinem Bett aufsprang und mit großer Hingabe und Innigkeit ausrief: „Mein Gott und meine Seele! Ich liebe ich,doch was kann ich tun, ich habe keine Kraft!“ Er lief im Zimmer auf und ab und wiederholte diesen Satz unzählige Male. Rabbi Mordechai stand mit seinem Freund an der Tür und lauschte. Schließlich hörten sie Rabbi Sussja rufen: Oh, pfeifen kann ich doch! So will ich mein Schöpfer, zu deiner Verherrlichung pfeifen!“ Und er begann zu pfeifen.

Komm, eilen wir von hinnen!“, rief der erschrockene Rabbi Mordechai seinem Freunde zu, „komm, dass uns das Feuer der Heiligkeit nicht verzehre!“

Ja – so ist das: Wenn dann wirklich der Heilige Geist über uns kommen möchte, wenn das, was wir uns so sehr wünschen dabei ist, sich zu verwirklichen, ist die Gefahr groß, dass wir davonlaufen! Und beruhigen uns mit Ritualen, die wir dann z.B. Gottesdienst nennen. Die oftmals genau dazu dienen, dass Gottes Heiliger Geist bloß nicht lebendig werden soll! Und so bleibt das Lied, das in jedem von uns schläft, das ureigene Lied, das unsere Seele so gerne singen würde, ungehört und unerhört.

Da können einem schon auch mal die Tränen kommen… AMEN.

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