13. Sonntag nach Trinitatis

Predigt über Markus 3, 31-35 am 13. Sonntag nach Trinitatis in Pullach
18.09.2011

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen, AMEN.

Liebe Gemeinde,

seit alters wird der Begriff „Brüderlichkeit“ dafür verwendet, um trennende Grenzen zu übergehen. „Brüderlichkeit“ soll auf eine innere, eine seelische Verwandtschaft zwischen Menschen verweisen, jenseits von Religions- und Volkszugehörigkeit, jenseits von Hautfarbe und Geschlecht, jenseits von arm und reich. Brüderlichkeit steht auch für Würde, für Gleichheit, für Gleichwertigkeit.
„Freiheit“, „Gleichheit“, „Brüderlichkeit“: das waren die Schlüsselworte der franz. Revolution.
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen sich zueinander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen“, so heißt es im zweiten Artikel der Menschenrechte der Vereinten Nationen. „Alle Menschen werden Brüder“, dichtet Friedrich Schiller in seiner „Ode an die Freude“.

„Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag’ ich dir den Schädel ein“ – das war ein vulgärer Reim zur sogenannten „Brüderlichkeit“ in der franz. Revolution. Und die erste Bruder-Geschichte der Bibel handelt davon: Kain erschlägt seinen Bruder Abel!

Und wer mit Geschwistern aufgewachsen ist, weiß: Brüderlichkeit, Geschwisterlichkeit muss keineswegs Ausdruck ungetrübter Harmonie sein.

Im heutigen Predigttext begegnen wir – wie so häufig – einem provozierenden, brüskierenden Jesus, der seine eigenen Verwandten, ja seine eigene Mutter öffentlich bloßstellt.

„Und es kamen seine Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen. Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: ‚Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern draußen fragen nach dir.’ Und er antwortete ihnen und sprach: ‚Wer ist meine Mutter und meine Brüder?’ Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: ‚Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder! Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.’

Nun hat man sich schon immer mit dieser Geschichte schwer getan. Sie passt so gar nicht in das Bild eines die Liebe predigenden Messias. Und wenn man sich schwer tut, muss ein Sündenbock her, auf den das Schwere dann abgewälzt werden kann. So hat man gesagt: Jesus meinte gar nicht seine eigene Familie, er meinte die jüdische Synagoge.

Eine verhängnisvolle Missdeutung der Geschichte!

Wir wissen natürlich nicht mehr, ob sich diese Geschichte wirklich so zugetragen hat. Kann sein, kann auch nicht sein. Immerhin heißt es wenige Verse vorher von der Familie Jesu: „Sie aber wollten ihn festhalten; denn sie sprachen: Er ist von Sinnen!“ (3,22)

Nun: für uns ist es leicht, diesen Jesus zu bewundern. Aber stellen Sie sich doch einmal vor, dieser Jesus wäre Ihr Sohn. Und Sie spüren, wie er provoziert, wie er die Mächtigen gegen sich aufbringt. Wie er sich selbst in Gefahr bringt! Würden Sie das aushalten? Oder würden Sie nicht auch versuchen, ihn davor zu bewahren, dass er seinen Weg weiter geht?

„Er ist von Sinnen!“ Vielleicht ein verzweifelter Versuch, ihn zu entschuldigen. „Seid nicht böse auf ihn, ihr braucht ihn nicht so ernst zu nehmen – er ist  – verrückt!“

Für mich ist Jesus einer, der etwas ver-rückt. Der Dinge anders hin-rückt, als man sie geläufigerweise sieht. Der scheinbar Selbstverständliches in Frage stellt.

„Und es kamen seine Mutter und seine Brüder und standen draußen.“

Wenn einer etwas anders hinrückt, als ich gewohnt bin es zu sehen, fühle ich mich draußen. Es ist mir unverständlich. „Seine Mutter und seine Brüder“ (in alten Handschriften heißt es bereits hier und seine Schwestern) – das ist seine Herkunftsfamilie: Heißt: der Kreis der Menschen, innerhalb dessen er aufgewachsen ist, zu sprechen und zu denken gelernt hat. Sie standen draußen: er hat sich über sie hinaus entwickelt, sich von ihnen entfernt.
Das ist für die „Zurückgebliebenen“ schmerzhaft und es ist nur zu verständlich, ihn zurückhaben zu wollen.

Es ist andererseits das Schicksal des Eltern-Seins, miterleben und –erleiden zu müssen, dass sich die eigenen Kinder über einen selbst „hinaus“ entwickeln. Waren in meiner Kindheit und Jugend die Beatles, die Stones, die sich entwickelnde Pop-Musik Ausdruck des Draußen-Seins der Eltern (und was wurden sie bekämpft und abgewertet) – so ist es heute Face-Book, PC-Spiele, überhaupt die Computerwelt. Halten die „Zurückbleibenden“ den Schmerz des Draußen-Seins nicht aus, werten sie entweder das „Neue“ ab. Oder sie versuchen, um jeden Preis dazu zu gehören, was für Kinder und Jugendliche oftmals sehr peinlich ist, wenn sich z.B. ihre Eltern so kleiden wie sie oder ihre Sprache verweden, oder gar heimlich versuchen, in ihren Tagebüchern zu lesen.
 
Dabei ist es für die seelisch gesunde Entwicklung so wichtig, ein geschütztes „Innen“ erleben zu können. Ein „Innen“, in dem ich mich sicher fühle. Ein Innen, das Fenster und Türen hat, wo ich bestimme, wem ich mich öffne und wem ich mich verschließe. Erlebe ich mein eige-nes Innen als gefährdet, ja als besetzt von den Anderen, bin ich auf der Flucht. Vor den anderen und vor mir selbst. Suche verzweifelt Orte seelischen Rückzuges. Wo mich keiner finden kann. Wo ich mich selbst nicht mehr finden kann. Um dableiben zu können, bedarf es sicherer Innen-Räume. Je unsicherer ich mich in der Beziehung mit Menschen fühle, desto stärker werde ich mich äußerlich und innerlich vor ihnen zurückziehen.
 
Die „draußen“ Gebliebenen versuchen dann umso mehr, den, der da „drinnen“ ist, zu erreichen. So werden immer mehr zu Verfolgern, versuchen in ihn „einzudringen“. Sie „ließen ihn rufen“, heißt es. Es wird nicht genannt, wozu. Er soll wohl zu ihnen „hinaus“ gehen. Er soll bei ihnen sein, sich nicht soweit von ihnen weg entwickeln. „Er ist von Sinnen!“

Nun – vielleicht war Jesus von Sinnen. Vielleicht musste er von Sinnen sein, um seine Gedanken von der Gegenwart des Reiches Gottes in sich entfalten lassen zu können. Vielleicht bedarf es ein bestimmtes „von Sinnen sein“ – um neue, eigene Wege entdecken und beschreiten zu können. Die Vertreter des „vertrauten Denkens“, Jesu Familie, versucht, ihn zurück zu bekommen. Sie wollen ihn bei sich haben und halten. Und Jesus: wie geht er damit um?
 
„Wer ist meine Mutter und meine Brüder?“ Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen.

Jesus hält dem Drängen seiner Familie stand. Er hätte auch abbrechen und hinausgehen können. Er hätte zurückkehren können, reumütig, schuldbewusst. Oder auch genervt – die schon wieder, was wollen sie denn?

Nichts von dem. Er lässt sich gar nicht darauf ein. Im Gegenteil: er distanziert sich mit seiner Frage ausdrücklich von seiner Herkunftsfamilie. So bleibt er sich selbst treu und definiert Familie neu:

„Denn, wer Gottes Wille tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“

Das sind die, die im Kreis um ihn herum sitzen. Im Kreis sitzen ist ein Ausdruck ehrlichen, gleichwertigen Miteinander-Redens. Es gibt kein oben und unten, keine höher- und niederwertigen Plätze, keine Diktatur des rechten Winkels. Es gibt keinen Streit darüber, wer „zur Rechten des Messias“ (Mt. 20,21) sitzen darf. Das Zentrum des Kreises ist der Messias selbst, nicht als Machthaber, auf den zu blicken ist, sondern als Prediger und Anwalt der Liebe.
Was heißt das?
 
Im Reich Gottes sitzt man im Kreis. Und das Zentrum des Kreises ist das Dritte:  Gottes Wil-len zu tun. Dieses „Gottes Willen tun“ ist der „Machthaber“ im Reiche Gottes – und niemand und nichts anderes. Und Jesus sollte für uns Christen das Sprachrohr dieses Willen Gottes sein, so sehr, dass wir in ihm etwas von Gott selbst, seine Offenbarung entdecken. Aber nicht so sehr, dass wir damit andere Religionen mit anderen „Sprachrohren des Willens Gottes“ bekämpfen. Es geht nicht darum, wer den Willen Gottes verkündet, es geht darum, was der Wille Gottes ist und es geht darum, ihn auch zu tun.
 
Das den „Willen Gottes Tun“ ins Zentrum setzen bedeutet, aufhören, dies und jenes zu tun. Den Willen Gottes Tun ist zunächst einmal ein Nicht-Tun. Ist zunächst einmal ein Akt der Reinigung: üblicherweise sitzen nämlich in unserem Zentrum eine Fülle von hausgemachten Gedanken. Erst in der Leere lässt sich Gott erfahren, in der Fülle ist kein Platz für ihn. Dies berührt sich mit einem Gedanken von Laotse:

„Dreißig Speichen umringen die Nabe, doch erst durch das Nichts in der Mitte kann man sie verwenden; man formt Ton zu einem Gefäß, doch erst durch das Nichts im Innern kann man es benutzen; man macht Fenster und Türen für das Haus, doch erst durch ihr Nichts in den Öffnungen erhält das Haus einen Sinn.
Somit entsteht der Gewinn durch das, was da ist, erst durch das, was nicht da ist“ (Tao Te King 11)

So ist es auch mit dem Tun von Gottes Willen: erst in der Vernichtung des eigenen Wollens geschieht das „sein Wille, der Wille Gottes geschehe.“

Dieses Geschehen der Vernichtung ist nur möglich in Liebe. In jener Liebe, die alles erträgt, alles glaubt, alles hofft, alles duldet. In jener Liebe, die allein die Kraft hat, den Anderen loszulassen, und in dem Loslassen Ja zu ihm zu sagen.

Es ist einfach, zu meinem Partner, meinem Sohn, meiner Tochter ja zu sagen, wenn sie mir eine Freude machen. Die Nagelprobe der echten Liebe, das „den Willen Gottes Tun“ beginnt da, Ja zu ihnen zu sagen, wenn sie mir keine Freude machen. Wenn sie genau das nicht tun, was ich für richtig halte. Oder genau das tun, was ich nicht möchte. Oder, auf mich selbst bezogen: es ist einfach, mich des Lebens zu freuen, wenn ich gesund bin, keine Schmerzen habe, mein Körper funktioniert usw. Die Nagelprobe der Liebe beginnt da, wo ich damit konfrontiert bin, „dass es nicht so läuft, wie Ich es mir wünsche.“ Dass ich alt werde, gebrechlich, krank, dass ich sterben muss…
Der vertraute Weg, so wie wir alle zu denken gelernt haben, ist, aufzuteilen: in Schönes und Hässliches, in Gutes und Schlechtes, in Schwieriges und Einfaches, in Hohes und Tiefes, in Helles und Dunkles.

Die großen Lehrer der Menschheit haben diese Aufteilungen erkannt und gewagt, darüber hinaus zu denken. Damit haben sie große Beunruhigungen ausgelöst. Und wer beunruhigt, macht sich unbeliebt.

Es klingt so einfach, das Zentrum der Predigt Jesu: den Willen Gottes tun, das Doppelgebot der Liebe befolgen. Versuche ich aber wirklich danach zu leben, finde ich es alles andere als einfach. Viel nahe liegender ist es mir, zu bewerten, die Welt aufzuteilen in falsch und richtig, in recht und unrecht. Viel vertrauter ist es mir, die Menschen, (und besonders die, die von mir abhängig sind), mit Liebesentzug zu bestrafen, wenn sie nicht meinen Willen tun, und mit Lob und Anerkennung zu belohnen, wenn sie meinen Willen tun. Diese Art zu denken in der mein beurteilendes Ich das Zentrum ist, ist die mir vertraute. Ist mir so vertraut, weil ich von ihr herkomme: sie ist mein Vater und meine Mutter. Und ich vermute, dass ich mein Leben lang mit diesem Denken zu tun haben werde.

Und dann gibt es Jesu Predigt vom Reich Gottes, in der Jesus Christus als die Liebe das Zent-rum ist. Mein Ich weigert sich, sich mit mir hinein in diesen Kreis zu setzen. Es weigert sich, weil es sein Zentrum verlieren würde. Mein Ich ist gewohnt, selbst der „Bestimmer“ zu sein.

Und dann gibt es Worte wie diese:
„Der Weise tritt zurück,
so ist er weit voraus.
Er gibt sein Selbst auf,
so bleibt es erhalten.
Er vergisst sein Selbst,
so kann er sein Selbst finden.“ (Laotse, Tao 7)

Oder:

 „Wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, (das ist um der Liebe willen), der wird es erhalten. Denn was hülfe es dem Menschen, wenn er die Welt gewönne und nähme an seiner Seele Schaden?“ (Mk. 8,35-36)                  

Oder:

„Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“

Ganz schön ver-rückt, oder nicht?                                                              AMEN.

Und die Liebe Gottes, die unseren Verstand übersteigt, möge unser Fühlen und unser Denken bewahren in Christus Jesus, AMEN.                                                                           

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