Gedenke deiner Barmherzigkeit (Gedanken zum Sonntag Reminiscere 2025)
Liebe Gemeinde,
als ich neulich im Wartezimmer meines Zahnarztes saß, bekam ich folgendes Gespräch mit. Ein Junge, geschätzt 14 Jahre alt, sagt zu seiner Mutter:
„Also damit eines klar ist: Ich möchte entweder eine Vollnarkose, damit ich gar nichts mitbekomme, oder überhaupt keine Narkose. Alles, was dazwischen drin ist, will ich nicht!“
Das „Dazwischen“.
Dazwischen ist das Vage, das Unbestimmte, das jenseits der Pole des Eindeutigen.
Dazwischen ist das sogenannte „Sandwich-Kind“: zwischen Erstgeborenem und an dritter Stelle Geborenem.
Dazwischen ist irgendwie störend:
„Wieder stehst du zwischen mir und meinem Weg in die Freiheit,“ sagt der Pirat Jack Sparrow in dem Film: „Der Fluch der Karibik“ zu Will Turner.
(In Klammern: Manchmal sind es sich unterhaltende Gottesdienstbesucher*innen, die zwischen dem Versuch des Pfarrers, Gottesdienst zu halten und seiner Realisierung stehen.)
„Weder Fisch noch Fleisch…“ Ja – was denn dann?
Dazwischen ist der Kompromiss, der für eine demokratische Politik unerlässlich ist.
Dazwischen, zwischen dem Nord- und dem Südpol hat sich das Leben auf unserem „blauen Planeten“ entwickelt.
Dazwischen:
Dazwischen ist das Dritte. Das Mittlere.
Lateinisch „medium“.
Im Griechischen gibt es eine eigene Tätigkeitsform, die zwischen aktiv und passiv steht: das Medium.
Sprachgeschichtlich hat sich wohl unser bekanntes Passiv aus diesem Medium heraus entwickelt. Es drückt die „Tätigkeitsrichtung“ des Verbums aus.
Beispiel: Ich verstecke – aktiv.
Das Osternest wurde versteckt – passiv.
Ich bin versteckt – medium.
Im Altgriechischen ist das Medium eine eigene Tätigkeitsform und die Verben im Medium haben eine eigene Endung. In den meisten anderen Sprachen sind die Passivformen auch die Formen des Mediums.
Meditation könnte man als Einübung in ein „mittleres Denken“ bezeichnen. Ein Denken, das versucht, zwischen den Impulsen des Tuns und dem passiven Erleiden etwas Mittleres sich vorzustellen. Ein Denken, das es für denkbar hält, dass sich etwas ereignet. Ein Denken, das darauf vertraut, dass sich Sinn ergibt und nicht gemacht werden muss. Dies kann sehr entlasten, muss ich doch auf einmal nicht mehr so viel tun.
Angewandt auf unser Zusammensein hier: Ich trage nur die Verantwortung dafür, dass ich Ihnen einen vernünftigen Gottesdienst anbiete. Dazu gehört, dass ich mir bei seiner Vorbereitung Mühe gegeben habe. Dass ich versuche so zu predigen, dass sie verstehen können, was ich meine. Dass ich versuche, sie irgendwie zu erreichen, sie „abzuholen“, wie es so schön heißt. Aber ob Ihr oder Sie Euch erreichen lasst, das habe ich letztlich nicht in der Hand. Was zwischen uns in diesem Gottesdienst geschieht, ist ein „es geschieht!“ Genau deshalb bitte ich am Beginn meines Predigens darum, dass die lebende Gemeinschaft des Heiligen Geistes uns begleite. Damit verweise ich auf eine Dritte Kraft, über die ich nicht verfügen kann. Es geschieht oder es geschieht nicht. Anders, mit den Worten des Johannesevangeliums ausgedrückt: „Der Geist weht, wo er will!“ In der Bibel in gerechter Sprache heißt es: „Die Geistkraft weht, wo sie will…!“
Es geht um die Stärkung des Mittleren. Politisch: Um die Stärkung der Mitte.
Mittleres steht irgendwo dazwischen: Zwischen dem vermeintlichen Zwang, ich muss alles im Griff haben und dem laissez-faire, macht doch was ihr wollt. Ich lasse es einfach laufen.
In diesem „Mittleren“ eröffnet sich die Möglichkeit, dass „Gott ins Denken einfällt“, wie Emmanuel Levinas so schön formuliert. Ob er dann auch wirklich „einfällt“ – auch ob mir etwas „einfällt“ – das kann ich – wie gesagt – nicht machen.
So weit, so gut. Mit diesen Gedanken habe ich versucht, mich unserem Predigttext, einem Abschnitt aus dem Johannesevangelium (Kapitel 3, 14 -21) zuzuwenden.
Und musste einsehen: Es ging nicht.
In dem Text geht es – wie an so vielen Stellen im Alten und Neuen Testament (und im übrigen auch im Koran) – genau nicht um Mittleres. Es geht um Licht versus Finsternis; und den latenten Vorwurf, dass die Menschen die Finsternis mehr liebten als das Licht, „denn ihre Handlungen waren böse“. (V. 19b)
Es geht um die, die gerettet werden und um die, die nicht gerettet werden – sie werden gerichtet.
In diesem Denken, das uns Menschen so vertraut ist, und von dem wir alle herkommen, ist die Mitte zerstört. Es ist ein polares Entweder-Oder-Denken.
Entweder du bist für oder du bist gegen mich!
Historisch ist diese Art zu denken sehr verständlich, wenn man bedenkt, wie jung die Erfindung der Demokratie ist, jener Staatsform, in der das neue Zentrum die Gemeinschaft der „Vielen“ ist und nicht die Herrschaft des „Einen“ und/oder einiger weniger über den Rest. Wir bezeichnen heute die Herrschaft der Vielen als Demo-Kratie (demos: Volk; kratie: Herrschaft), die Herrschaft von Einem als Autokratie, die von einigen Wenigen als Oligarchie.
Und wir erleben eine Zeit, die deutlich macht, auf welch wackeligem Boden demokratisches Denken steht. Wie angreifbar es ist.
Demokratisches Denken ist mittleres Denken. Durchaus auch im Sinne von: gemäßigt oder maßvoll. Sich an Grenzen haltend. Einen Sinn dafür haben, was Meines ist und was Deines ist.
Mittleres Denken ist respektvolles Denken.
Respekt vor der Meinung, dem Standpunkt des Anderen.
Dies beinhaltet die Fähigkeit, sich nicht unbegrenzt auszubreiten.
Eigene Grenzen zu akzeptieren.
„Denn so hat Gott die Welt geliebt, dass er/sie ihren Erwählten, ihr einziges Kind, gegeben hat…“ heißt es in unserem Text. (In der Bibel in gerechter Sprache ist Gott manchmal weiblich, manchmal männlich.) Es heißt nicht: So sehr hat Gott die Welt geliebt. Nein: So hat Gott die Welt geliebt – so und nicht anders.
So hat Gott geliebt, dass er „gegeben“ hat. Gottes Liebe drückt sich im Geben aus. „Geben ist seliger als Nehmen“.
Keine Rede von einem Verrat. Sondern von einer Gabe.
Gabe auch im Sinne von Hingabe.
Hingabe an das Leben als etwas Mittleres.
Zwischen Vollnarkose und überhaupt nicht betäuben.
Zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Zwischen noch-nicht-leben und nicht-mehr-leben.
Zwischen meinem Leben und „dem Leben der Anderen“.
Hingabe an das Jetzt.
„Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will!“ hat Albert Schweitzer gesagt. Schweitzer kennt kein „gutes“ oder „böses“ Leben: für ihn ist „alles Leben heilig“. So ist die Grundlage seiner Ethik die „Ehrfurcht vor dem Lebendigen“. Dass auch hierbei Konflikte unvermeidlich sind, veranschaulicht er an folgender Geschichte:
„Ich kaufe Eingeborenen einen jungen Fischadler ab …, um ihn aus ihren grausamen Händen zu retten. Nun habe ich zu entscheiden, ob ich ihn verhungern lasse oder ob ich täglich soundso viele Fischlein töte, um ihn am Leben zu erhalten. Ich entschließe mich für das Letztere. Aber jeden Tag empfinde ich es als etwas Schweres, dass auf meine Verantwortung hin dieses Leben dem anderen (sc. Leben) geopfert wird.“ Dass dies so ist, sei Ausdruck der „Selbstentzweiung des Willens zum Leben“. Ist der Mensch „von der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben berührt, so schädigt und vernichtet er Leben nur aus Notwendigkeit, der er nicht entrinnen kann, niemals aus Gedankenlosigkeit.“ (ebd.) Dahinter steht der bescheidene Grundsatz: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ (Aus meinem Leben und Denken, Fischer Taschenbuch 1987, S. 65)
Um diesen Gedanken denken und vor allem leben zu können, brauche ich eine gute Distanz zum Anderen.
Wenn ich mit dem Anderen so sehr verschmolzen bin, dass ich darauf angewiesen bin, er muss so sein, so „ticken“ wie ich, gibt es keinen gegenseitigen Respekt.
Beispiel: Mein Arm ist ein Teil von mir – ich habe vor ihm keine Ehrfurcht. Er soll die neuronalen Impulse/Befehle, die er von mir empfängt, umsetzen. Er soll gehorchen! Und ich bin wütend, wenn er das nicht tut. Wenn er schmerzt.
Wer seine Mitmenschen als Verlängerungen des eigenen Egos sieht, der kann Präsident von Amerika, Russland oder China werden – was er nicht kann, ist, das eigene Leben in Ehrfurcht vor dem Leben der Anderen zu führen.
„Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt!“ Dieses Motto kommt bei Pippi Langstrumpf lustig daher. Nicht mehr so lustig ist es, wenn die Basis der eigenen Vorstellungen ist: Alles Fremde, alles Unpassende, alles, was mir nicht gefällt, soll verschwinden. Es soll „remigriert“ werden. Vor nicht allzu langer Zeit hieß das: es soll liquidiert werden. Die Ermordung von Millionen von Menschen galt als die „Endlösung“. Ja – so sind wir Menschen (auch).
Liquidieren war im übrigen auch die Lösung, die das religiöse Establishment zur Zeit Jesu als die geeignete ansah: Der – aus der Sicht des Establishments – sich selbst ernannte Messias, der sich selbst ernannte Gottessohn, soll einfach verschwinden!
Er stört unsere Selbstzufriedenheit. Er verunsichert. Er macht Angst.
Zwischenräume sind wesentlich Räume der Unsicherheit. Es sind Räume der Freiheit, die nicht kontrollierbar sind. Zwischenräume sind die Ritzen zwischen den Gehwegplatten, in denen das sogenannte Unkraut wächst. Das mit einem Gasbrenner „ausgebrannt“ wird. Hätte ich in der Politik etwas zu sagen, würde ich ein Gesetz erlassen, demzufolge es gerade uns Deutschen untersagt ist, Lebendiges (und sogenanntes Unkraut ist genauso lebendig wie Sie und ich!) zu verbrennen!
Totalitäres Denken und Leben aber will alles unter Kontrolle haben. Es lässt keine Zwischenräume zu. Ritzen sind zu schließen, am besten, indem man sie zubetoniert.
Ecce homo sagt Pilatus – mehr zu sich selbst als zu Jesus!
„Sieh da, ein Mensch!“
Also so einer, wie Sie und Ich.
Es ist der Mensch, der sich seines Mensch-Seins bewusst wird und aus diesem Bewusstsein heraus „menschlich“ handelt.
Sich seines Mensch-Seins bewusst werden, bedeutet anzuerkennen: ein Leben unter und neben vielen anderen Lebewesen zu sein:
„Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“
Ohne Wertungen irgendwelcher Art. Es gibt kein höher stehendes und kein niedrigeres Leben. Und schon gar nicht gibt es ein unwertes Leben. Es gibt größere Komplexität und kleinere Komplexität. Und das eine ist nicht besser als das andere.
Ich habe mir gemeinsam mit meiner Frau in der Passionszeit ein „Bewertungs-Fasten“ vorgenommen. Das heißt ganz bewusst darauf zu verzichten, etwas oder jemanden zu bewerten. Stattdessen versuche ich, wenn ich mich über etwas oder jemanden ärgere oder empöre, mir vor Augen zu stellen, inwieweit ich das, worüber ich mich so ärgere, auch bei mir selber finde. Denn in aller Regel ist es so, dass ich andere dafür verwende, etwas, was ich bei mir nicht sehen will, bei ihm oder ihr unterzubringen. Dies ist keine schöne Einsicht.
Ich bin Leben, das Leben will, in Verbindung mit einer Kraft, die mein Leben gewollt hat. Andernfalls gäbe es mich nämlich gar nicht.
Ich bin gewollt … und ich bin einer/eine unter Anderen.
Der oder die Andere ist genauso gewollt, wie ich.
Nicht weniger und nicht mehr.
Und je stärker diese Kraft des gewollten Daseins in mir wirkt, desto leichter wird mein Leben. Desto mehr Raum entsteht – für mich und für alles, was da um mich herum ist.
„Ich bin da.“ Und „du bist da“. Und „Ihr seid da!“ Und siehe, es ist gut!
Kennen Sie die Peanuts? (Es ist ein Comic aus den 50er.)
In meinem Fasten-Wegweiserr fand ich gestern folgendes Comic:
Erstes Bild: Man sieht Lucy, eine gute Freundin von Charlie Brown, wie sie kniend innig ins Gebet vertieft ist.
Zweites Bild: Lucy hat das Gebet beendet – oder auch abgebrochen.
Drittes Bild: Charlie und Sally frühstücken.
Sally sagt: Ich wollte eigentlich für mehr Geduld und mehr Verständnis beten.
Aber ich hab’s dann sein gelassen.
Viertes Bild: Ihr Freund Charlie schaut sie fragend an.
Sally sagt: Am Ende hätt‘ ich’s noch gekriegt.
Wenn wir also beten: „Gedenke Herr deiner Barmherzigkeit …“ dann sollten wir vorsichtig sein. Am Ende geht der Wunsch auch noch in Erfüllung… AMEN.
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