Predigten

Gedenke deiner Barmherzigkeit (Gedanken zum Sonntag Reminiscere 2025)

Liebe Gemeinde,

als ich neulich im Wartezimmer meines Zahnarztes saß, bekam ich folgendes Gespräch mit. Ein Junge, geschätzt 14 Jahre alt, sagt zu seiner Mutter:

„Also damit eines klar ist: Ich möchte entweder eine Vollnarkose, damit ich gar nichts mitbekomme, oder überhaupt keine Narkose. Alles, was dazwischen drin ist, will ich nicht!“

Das „Dazwischen“.

Dazwischen ist das Vage, das Unbestimmte, das jenseits der Pole des Eindeutigen.

Dazwischen ist das sogenannte „Sandwich-Kind“: zwischen Erstgeborenem und an dritter Stelle Geborenem.

Dazwischen ist irgendwie störend:

„Wieder stehst du zwischen mir und meinem Weg in die Freiheit,“ sagt der Pirat Jack Sparrow in dem Film: „Der Fluch der Karibik“ zu Will Turner.

(In Klammern: Manchmal sind es sich unterhaltende Gottesdienstbesucher*innen, die zwischen dem Versuch des Pfarrers, Gottesdienst zu halten und seiner Realisierung stehen.)

„Weder Fisch noch Fleisch…“ Ja – was denn dann?

Dazwischen ist der Kompromiss, der für eine demokratische Politik unerlässlich ist.

Dazwischen, zwischen dem Nord- und dem Südpol hat sich das Leben auf unserem „blauen Planeten“ entwickelt.

Dazwischen:

Dazwischen ist das Dritte. Das Mittlere.

Lateinisch „medium“.

Im Griechischen gibt es eine eigene Tätigkeitsform, die zwischen aktiv und passiv steht: das Medium.

Sprachgeschichtlich hat sich wohl unser bekanntes Passiv aus diesem Medium heraus entwickelt. Es drückt die „Tätigkeitsrichtung“ des Verbums aus.

Beispiel: Ich verstecke – aktiv.

Das Osternest wurde versteckt – passiv.

Ich bin versteckt – medium.

Im Altgriechischen ist das Medium eine eigene Tätigkeitsform und die Verben im Medium haben eine eigene Endung. In den meisten anderen Sprachen sind die Passivformen auch die Formen des Mediums.

Meditation könnte man als Einübung in ein „mittleres Denken“ bezeichnen. Ein Denken, das versucht, zwischen den Impulsen des Tuns und dem passiven Erleiden etwas Mittleres sich vorzustellen. Ein Denken, das es für denkbar hält, dass sich etwas ereignet. Ein Denken, das darauf vertraut, dass sich Sinn ergibt und nicht gemacht werden muss. Dies kann sehr entlasten, muss ich doch auf einmal nicht mehr so viel tun.

Angewandt auf unser Zusammensein hier: Ich trage nur die Verantwortung dafür, dass ich Ihnen einen vernünftigen Gottesdienst anbiete. Dazu gehört, dass ich mir bei seiner Vorbereitung Mühe gegeben habe. Dass ich versuche so zu predigen, dass sie verstehen können, was ich meine. Dass ich versuche, sie irgendwie zu erreichen, sie „abzuholen“, wie es so schön heißt. Aber ob Ihr oder Sie Euch erreichen lasst, das habe ich letztlich nicht in der Hand. Was zwischen uns in diesem Gottesdienst geschieht, ist ein „es geschieht!“ Genau deshalb bitte ich am Beginn meines Predigens darum, dass die lebende Gemeinschaft des Heiligen Geistes uns begleite. Damit verweise ich auf eine Dritte Kraft, über die ich nicht verfügen kann. Es geschieht oder es geschieht nicht. Anders, mit den Worten des Johannesevangeliums ausgedrückt: „Der Geist weht, wo er will!“ In der Bibel in gerechter Sprache heißt es: „Die Geistkraft weht, wo sie will…!“

Es geht um die Stärkung des Mittleren. Politisch: Um die Stärkung der Mitte.

Mittleres steht irgendwo dazwischen: Zwischen dem vermeintlichen Zwang, ich muss alles im Griff haben und dem laissez-faire, macht doch was ihr wollt. Ich lasse es einfach laufen.

In diesem „Mittleren“ eröffnet sich die Möglichkeit, dass „Gott ins Denken einfällt“, wie Emmanuel Levinas so schön formuliert. Ob er dann auch wirklich „einfällt“ – auch ob mir etwas „einfällt“ – das kann ich – wie gesagt – nicht machen.

So weit, so gut. Mit diesen Gedanken habe ich versucht, mich unserem Predigttext, einem Abschnitt aus dem Johannesevangelium (Kapitel 3, 14 -21)  zuzuwenden.

Und musste einsehen: Es ging nicht.

In dem Text geht es – wie an so vielen Stellen im Alten und Neuen Testament (und im übrigen auch im Koran) – genau nicht um Mittleres. Es geht um Licht versus Finsternis; und den latenten Vorwurf, dass die Menschen die Finsternis mehr liebten als das Licht, „denn ihre Handlungen waren böse“. (V. 19b)

Es geht um die, die gerettet werden und um die, die nicht gerettet werden – sie werden gerichtet.

In diesem Denken, das uns Menschen so vertraut ist, und von dem wir alle herkommen, ist die Mitte zerstört. Es ist ein polares Entweder-Oder-Denken.

Entweder du bist für oder du bist gegen mich!

Historisch ist diese Art zu denken sehr verständlich, wenn man bedenkt, wie jung die Erfindung der Demokratie ist, jener Staatsform, in der das neue Zentrum die Gemeinschaft der „Vielen“ ist und nicht die Herrschaft des „Einen“ und/oder einiger weniger über den Rest. Wir bezeichnen heute die Herrschaft der Vielen als Demo-Kratie (demos: Volk; kratie: Herrschaft), die Herrschaft von Einem als Autokratie, die von einigen Wenigen als Oligarchie.

Und wir erleben eine Zeit, die deutlich macht, auf welch wackeligem Boden demokratisches Denken steht. Wie angreifbar es ist.

Demokratisches Denken ist mittleres Denken. Durchaus auch im Sinne von: gemäßigt oder maßvoll. Sich an Grenzen haltend. Einen Sinn dafür haben, was Meines ist und was Deines ist.

Mittleres Denken ist respektvolles Denken.

Respekt vor der Meinung, dem Standpunkt des Anderen.

Dies beinhaltet die Fähigkeit, sich nicht unbegrenzt auszubreiten.

Eigene Grenzen zu akzeptieren.

„Denn so hat Gott die Welt geliebt, dass er/sie ihren Erwählten, ihr einziges Kind, gegeben hat…“ heißt es in unserem Text. (In der Bibel in gerechter Sprache ist Gott manchmal weiblich, manchmal männlich.) Es heißt nicht: So sehr hat Gott die Welt geliebt. Nein: So hat Gott die Welt geliebt – so und nicht anders.

So hat Gott geliebt, dass er „gegeben“ hat. Gottes Liebe drückt sich im Geben aus. „Geben ist seliger als Nehmen“.

Keine Rede von einem Verrat. Sondern von einer Gabe.

Gabe auch im Sinne von Hingabe.

Hingabe an das Leben als etwas Mittleres.

Zwischen Vollnarkose und überhaupt nicht betäuben.

Zwischen Vergangenheit und Zukunft.

Zwischen noch-nicht-leben und nicht-mehr-leben.

Zwischen meinem Leben und „dem Leben der Anderen“.

Hingabe an das Jetzt.

„Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will!“ hat Albert Schweitzer gesagt. Schweitzer kennt kein „gutes“ oder „böses“ Leben: für ihn ist „alles Leben heilig“. So ist die Grundlage seiner Ethik die „Ehrfurcht vor dem Lebendigen“. Dass auch hierbei Konflikte unvermeidlich sind, veranschaulicht er an folgender Geschichte:

Ich kaufe Eingeborenen einen jungen Fischadler ab …, um ihn aus ihren grausamen Händen zu retten. Nun habe ich zu entscheiden, ob ich ihn verhungern lasse oder ob ich täglich soundso viele Fischlein töte, um ihn am Leben zu erhalten. Ich entschließe mich für das Letztere. Aber jeden Tag empfinde ich es als etwas Schweres, dass auf meine Verantwortung hin dieses Leben dem anderen (sc. Leben) geopfert wird.“ Dass dies so ist, sei Ausdruck der „Selbstentzweiung des Willens zum Leben“. Ist der Mensch „von der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben berührt, so schädigt und vernichtet er Leben nur aus Notwendigkeit, der er nicht entrinnen kann, niemals aus Gedankenlosigkeit.“ (ebd.) Dahinter steht der bescheidene Grundsatz: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ (Aus meinem Leben und Denken, Fischer Taschenbuch 1987, S. 65)

Um diesen Gedanken denken und vor allem leben zu können, brauche ich eine gute Distanz zum Anderen.

Wenn ich mit dem Anderen so sehr verschmolzen bin, dass ich darauf angewiesen bin, er muss so sein, so „ticken“ wie ich, gibt es keinen gegenseitigen Respekt.

Beispiel: Mein Arm ist ein Teil von mir – ich habe vor ihm keine Ehrfurcht. Er soll die neuronalen Impulse/Befehle, die er von mir empfängt, umsetzen. Er soll gehorchen! Und ich bin wütend, wenn er das nicht tut. Wenn er schmerzt.

Wer seine Mitmenschen als Verlängerungen des eigenen Egos sieht, der kann Präsident von Amerika, Russland oder China werden – was er nicht kann, ist, das eigene Leben in Ehrfurcht vor dem Leben der Anderen zu führen.

„Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt!“ Dieses Motto kommt bei Pippi Langstrumpf lustig daher. Nicht mehr so lustig ist es, wenn die Basis der eigenen Vorstellungen ist: Alles Fremde, alles Unpassende, alles, was mir nicht gefällt, soll verschwinden. Es soll „remigriert“ werden. Vor nicht allzu langer Zeit hieß das: es soll liquidiert werden. Die Ermordung von Millionen von Menschen galt als die „Endlösung“. Ja – so sind wir Menschen (auch).

Liquidieren war im übrigen auch die Lösung, die das religiöse Establishment zur Zeit Jesu als die geeignete ansah: Der – aus der Sicht des Establishments – sich selbst ernannte Messias, der sich selbst ernannte Gottessohn, soll einfach verschwinden!

Er stört unsere Selbstzufriedenheit. Er verunsichert. Er macht Angst.

Zwischenräume sind wesentlich Räume der Unsicherheit. Es sind Räume der Freiheit, die nicht kontrollierbar sind. Zwischenräume sind die Ritzen zwischen den Gehwegplatten, in denen das sogenannte Unkraut wächst. Das mit einem Gasbrenner „ausgebrannt“ wird. Hätte ich in der Politik etwas zu sagen, würde ich ein Gesetz erlassen, demzufolge es gerade uns Deutschen untersagt ist, Lebendiges (und sogenanntes Unkraut ist genauso lebendig wie Sie und ich!) zu verbrennen!

Totalitäres Denken und Leben aber will alles unter Kontrolle haben. Es lässt keine Zwischenräume zu. Ritzen sind zu schließen, am besten, indem man sie zubetoniert.

Ecce homo sagt Pilatus – mehr zu sich selbst als zu Jesus!

„Sieh da, ein Mensch!“

Also so einer, wie Sie und Ich.

Es ist der Mensch, der sich seines Mensch-Seins bewusst wird und aus diesem Bewusstsein heraus „menschlich“ handelt.

Sich seines Mensch-Seins bewusst werden, bedeutet anzuerkennen: ein Leben unter und neben vielen anderen Lebewesen zu sein:

Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.

Ohne Wertungen irgendwelcher Art. Es gibt kein höher stehendes und kein niedrigeres Leben. Und schon gar nicht gibt es ein unwertes Leben. Es gibt größere Komplexität und kleinere Komplexität. Und das eine ist nicht besser als das andere.

Ich habe mir gemeinsam mit meiner Frau in der Passionszeit ein „Bewertungs-Fasten“ vorgenommen. Das heißt ganz bewusst darauf zu verzichten, etwas oder jemanden zu bewerten. Stattdessen versuche ich, wenn ich mich über etwas oder jemanden ärgere oder empöre, mir vor Augen zu stellen, inwieweit ich das, worüber ich mich so ärgere, auch bei mir selber finde. Denn in aller Regel ist es so, dass ich andere dafür verwende, etwas, was ich bei mir nicht sehen will, bei ihm oder ihr unterzubringen. Dies ist keine schöne Einsicht.

Ich bin Leben, das Leben will, in Verbindung mit einer Kraft, die mein Leben gewollt hat. Andernfalls gäbe es mich nämlich gar nicht.

Ich bin gewollt … und ich bin einer/eine unter Anderen.

Der oder die Andere ist genauso gewollt, wie ich.

Nicht weniger und nicht mehr.

Und je stärker diese Kraft des gewollten Daseins in mir wirkt, desto leichter wird mein Leben. Desto mehr Raum entsteht – für mich und für alles, was da um mich herum ist.

„Ich bin da.“ Und „du bist da“. Und „Ihr seid da!“ Und siehe, es ist gut!

Kennen Sie die Peanuts? (Es ist ein Comic aus den 50er.)

In meinem Fasten-Wegweiserr fand ich gestern folgendes Comic:

Erstes Bild: Man sieht Lucy, eine gute Freundin von Charlie Brown, wie sie kniend innig ins Gebet vertieft ist.

Zweites Bild: Lucy hat das Gebet beendet – oder auch abgebrochen.

Drittes Bild: Charlie und Sally frühstücken.

Sally sagt: Ich wollte eigentlich für mehr Geduld und mehr Verständnis beten.

Aber ich hab’s dann sein gelassen.

Viertes Bild: Ihr Freund Charlie schaut sie fragend an.

Sally sagt: Am Ende hätt‘ ich’s noch gekriegt.

Wenn wir also beten: „Gedenke Herr deiner Barmherzigkeit …“ dann sollten wir vorsichtig sein. Am Ende geht der Wunsch auch noch in Erfüllung… AMEN.

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Predigt über Johannes 4, 5 – 14 am 3. Sonntag nach Epiphanias 2025 in der Thomasgemeinde Grünwald (Der Gottesdienst ist auf you tube aufgezeichnet und kann auf der Website der Thomasgemeinde angesehen werden.)

Liebe Gemeinde,

heute geht es um Bedürfnisse.

Zum Beispiel um das Bedürfnis, einen gesunden Diener zu haben.

Oder auch – wie wir gleichen hören werden – um das geradezu existentielle Bedürfnis, Wasser zum Trinken zu bekommen.

Es gibt nur ein paar Grundbedürfnisse, die Lebewesen haben:

Luft zum Atmen, Wasser zum Trinken, Nahrung zum Essen, Raum zum Leben.

Und es gibt noch ein Grundbedürfnis das die Brücke in eine „andere“ nicht sinnfällige Welt darstellt: Das Bedürfnis nach Wertschätzung, nach „Würde“.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar!“

Ich möchte das ausweiten: „Die Würde, von allem, was da lebt, ist unantastbar.“

Es ist ein Grundbedürfnis, wertvoll zu sein. Wer sich als wertvoll erlebt, erlebt sich, erlebt sein Leben als sinnvoll. Und damit hat er beste Voraussetzungen für ein einigermaßen zufriedenes Leben.

Nun sind wir Menschen allesamt soziale Lebewesen. Das heißt, der Ort, an dem das Bedürfnis nach Wert befriedigt oder nicht befriedigt wird ist der gesellschaftliche.

Das Bedürfnis nach Wertschätzung ist ein Grundbedürfnis innerhalb unseres sozialen Zusammenlebens.

Und bereits hier wird es kompliziert. Die Frage und das Problem ist nämlich: „wertvoll wofür?“ „Wertvoll für wen?“ Wir haben vorhin vom „Diener des Hauptmanns von „Kapernaum“ gehört. (In Klammer: Das Griechische kennt zwei Formen von Sklaven und hat dafür auch zwei verschiedene Worte: „Pais“ und „Dulos“. Pais kann auch Kind bedeuten, betont also die „gute“ Beziehung zu seinem Herrn, während Dulos der Sklave ist, mit dem der „Herr“ machen kann, was er will. Seine Würde ist nicht nur nicht unantastbar – er hat keine Würde!)

Heutzutage ist es rechtsextremes Gedankengut, das anderen Menschen ihre Würde aberkennt. Wie sehr dies auf die Verfechter dieses Gedankenguts ausstrahlt, kann man an ihrem eigenen würdelosen Schreien radikaler un-menschlicher Paraolen erkennen!

Der Hauptmann setzt sich für seinen Diener ein. Warum? Natürlich kann man sagen: Weil er ihn braucht. Es liegt ihm nichts an seinem Diener als Menschen – aber er braucht seine Arbeitskraft. Deshalb will er einen gesunden Diener. Man kann auch sagen: Er mag seinen Diener unabhängig davon, was er zu leisten vermag und was nicht. Es geht ihm um das Leben seines Dieners „an sich“ – vor allem „brauchen“.-

Mit diesen Gedanken sind wir inmitten von schwer zu beantworteten Fragen gelandet. Was heißt den Anderen zu brauchen? Wo es ein Brauchen gibt, gibt es auch ein Missbrauchen. Wo es einen Diener gibt, gibt es einen Herrn – und damit ein hierarchisches Gefälle. Hierarchie heißt wörtlich: „Herrschaft des Heiligen“. Es bezog sich auf das Priesteramt.

Heute bezeichnet das Wort „Hierarchie“ die „Rangordnung“ von Menschen. Als Hauptmann kennt man sich mit Rangordnungen aus. Und mit Würde. Gegenüber Jesus bezeichnet er sich selber als „unwürdig“. Und bekommt die Anerkennung Jesu: „Wahrhaftig, ich sage euch, nicht einmal in Israel habe ich solch ein Vertrauen gefunden!“ (Matthäus 8, 10b) Heißt das, es ist erwünscht, sich selbst als „unwürdig“ zu bezeichnen? Ist das nicht die Haltung des im Rudel rangniederen Tieres, das sich dem Alpha-Tier/Wolf unterwirft? Ist das Christentum eine Religion für Menschen, die einen starken Führer suchen – weil sie sich selbst als schwach fühlen? Hat Nietzsche, der Pfarrers-Sohn, recht, wenn er sagt: „Sucht den Übermenschen“?

Das hieße, ein Donald Trump oder ein Elon Musk oder ein Jeff Bezos oder ein Marc Zuckerberg: sie machen alles richtig. Milliardäre an die Macht! Ist das die moderne Interpretation von: „Sucht den Übermenschen!“?

Sie merken: Fragen über Fragen.

Und – ich bin nicht Jesus – ich verfüge nicht über die Antwort.

Ich bin selbst auf der Suche.

Von daher bin ich von vorne herein als Heilsbringer ungeeignet. Von daher muss ich all‘ jene enttäuschen, die von einem Gottesdienst/einer Predigt erwarten, er oder sie könne ihn gesund machen.

Auch in meinen Gottesdiensten bekommen Sie mit, was mich ausmacht:

Ich bin unterwegs. Ich bin auf der Suche. Ich habe nichts Endgültiges, nichts: „SO ist es und nicht anders!“ dabei.

Vielleicht verbindet mich das mit dem Einen oder Anderen von Ihnen.

Vielleicht ärgert das aber auch den Einen oder Anderen von Ihnen, der sagt: Ich gehe doch nicht in die Kirche, um Fragen zu bekommen. Davon habe ich selber genug. Ich gehe in die Kirche, um Antworten zu finden! Antworten, die mich befriedigen, die mich satt machen, die meinen Durst nach etwas löschen, von dem ich selber nicht ganz genau weiß, was es eigentlich ist!

So ging es jener Frau aus Samaria, die beim Wasser-Holen Jesus begegnete.

Hören Sie selbst – unseren heutiger Predigttext (Johannes 4, 5-14):

5 Er [= Jesus] kam nun in eine Stadt Samarias, die Sychar heißt, nahe bei dem Grundstück, das Jakob seinem Sohn Joseph gegeben hatte. 6 Dort war der Brunnen Jakobs. Jesus nun, müde von der Reise, setzte sich so [wie er war] an den Brunnen. Es war aber ungefähr die sechste Stunde. 7 Da kommt eine Frau aus Samaria, um Wasser zu schöpfen. Jesus sagt zu ihr: „Gib mir zu trinken.“ 8 Seine Jünger waren nämlich in die Stadt weggegangen, um Nahrung zu kaufen. 9 Da sagt die samaritanische Frau zu ihm: „Wie kannst du, ein Jude, von mir, einer samaritanischen Frau, (etwas) zu trinken erbitten?“ Juden haben nämlich keine Gemeinschaft mit den Samaritanern. 10 Jesus antwortete und sagte zu ihr: „Wenn du die Gabe Gottes kenntest und (wüsstest), wer der ist, der zu dir sagt: ‚Gib mir zu trinken!‘, so würdest du ihn bitten, und er gäbe dir lebendiges Wasser.“

11 Die Frau spricht zu ihm: „Herr, du hast kein Schöpfgefäß, und der Brunnen ist tief. Woher hast du dann das lebendige Wasser? Bist du etwa größer als unser Vater Jakob, der uns den Brunnen gab und selbst aus ihm trank, und seine Söhne und sein Vieh?“ 13 Jesus antwortete und sagte zu ihr: „Jeder, der von diesem Wasser trinkt, wird wieder Durst haben. 14 Wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird für immer keinen Durst mehr haben, vielmehr wird das Wasser, das ich ihm geben werde, in ihm zu einer Quelle von Wasser werden, das in (das) ewige Leben sprudelt. 15 Die Frau sagt zu ihm: „Gib mir dieses Wasser, damit ich nicht mehr Durst habe und (nicht mehr) zum Schöpfen hierher kommen muss!“

Whow! denke ich mir, als ich diesen Text das erste Mal lese. Eine Quelle, die direkt in das ewige Leben hinein sprudelt. Von diesem Wasser möchte ich auch haben! Und – nein, mehr noch: nicht nur das Wasser, die Quelle selber verheißt Jesus: Wer von dem Wasser, das Jesus gibt, trinkt: in ihm wird das Wasser zu einer Quelle, das (direkt) in das ewige Leben hinein sprudelt. Nicht schlecht, oder? Ist das eine Spielart von „I’ll make Ameria great again: „I’ll make You great again!“?

Aber schon bald mischt sich mein innerer Bedenkenträger – „Rationalität“ mit Namen – ein. Er sagt: Falle doch nicht auf so unrealistische Verheißungen herein. Es gibt kein ewiges Leben! Schau dir doch deinen älter werdenden Körper an; denke an deine Kreuzschmerzen und andere Zipperlein. Denke an deine zwei Operationen im letzten Jahr: Dank moderner Medizin und moderner hygienischer Standards ist deine Lebenserwartung deutlich verlängert, aber sicher nicht dank irgend einer Quelle, die ein vor 2000 Jahren gestorbener Mann verheißen hat!

STOP! Sagt mein Ich. Auseinander Ihr beiden. Jetzt erst mal langsam.

Was ist denn das Zentrum des Textes? Ist es das „ewige Leben“?

Oder steht nicht etwas Anderes im Mittelpunkt?

Dass Jesus nämlich sich nicht um hierarchische Strukturen, um gesellschaftliche Rangordnungen kümmert. Dass es ihm ziemlich egal ist, innerhalb welcher Rangordnung sein Gegenüber steht. (Die Samaritaner waren aus der Sicht der Israeliten in der Rangordnung vor Gott niedriger. Und Frauen standen natürlich noch mal niedriger als Männer!) Und eben an so eine „niedrig stehende, unbedeutende“ Samaritanerin wendet sich Jesus mit seiner Bitte: „Gib mir etwas zu trinken!“

Das riecht nach Umbruch, nach Aufruhr, nach Umwertung der zur Zeit gültigen Werte. Es beunruhigt.

Freilich – unsere Erzählung stellt schnell eine Rangordnung wieder her: „Wenn du wüsstest, wer es ist, der dir sagt: ‚Gib mir zu trinken!‘ – dann hättest du ihn gebeten, dass er dir Wasser gäbe, und er hätte dir lebendiges Wasser gegeben!“ Das ist ganz schön provokant – noch dazu, wo Jesus keinen Schöpfeimer hat, mit dem er Wasser aus der Tiefe des Brunnens schöpfen könnte. „Bist du etwas größer als unser Vater Jakob, der uns den Brunnen gab…“ Damit bezieht sich die Frau auf die ihr bekannte Rangordnung. Sie holt Jesus sozusagen runter auf die Erde. Frei über setzt heißt das: „Jetzt mach mal halblang! Du meinst doch nicht im Ernst, du wärst größer als unser Stammvater Jakob, dem wir den Brunnen verdanken?! Worauf Jesus noch einmal „steigert“: Doch, genau das meine ich! Das Wasser nämlich, das ich gebe, ist eines, das nicht nur jeden Durst löscht – es ist quasi ein Vorgeschmack auf das Paradies, indem es sich zu einer Quelle sprudelnden Wassers verwandelt.

Liebe Gemeinde,

in Zeiten, in denen (wieder einmal) menschlicher Größenwahn Konjunktur hat, in denen Größenwahnsinnige zu Präsidenten gewählt werden – in solchen Zeiten möchte ich besonders darauf achtgeben, selber „auf dem Boden zu bleiben“.

Es geht (mir) um die gute Verbindung eines zuversichtlichen Glaubens/Vertrauens auf dem nüchternen Boden der Wirklichkeit. In Zeiten, in denen Verdrehungen der Wirklichkeit bis hin zu vorsätzlichen Lügen im Dienste von Propaganda Konjunktur haben, ist die Fähigkeit zu Nüchternheit und das nüchterne Überprüfen dessen, was jemand sagt und/oder verheißt, besonders wichtig. Der „Faktencheck“! Zurecht ist gesagt worden, man könnte den Text als Werbekampagne für Jesus-Wasser lesen. Mit dem Slogan: „Wer dieses Wasser trinkt, bei dem lösen sich alle Probleme wie von selbst. Er bekommt jetzt schon den (Vor-)Geschmack des Paradieses.“

(Ich muss an das HB-Männchen meiner Kindheit denken: Nach mehreren vergeblichen Versuchen kommt die „Erlösung“: Greife lieber zu HB, dann geht alles wie von selbst! Es gab auch ein gehässige Variante dieser Werbung: Das HB-Männchen versucht sich vergeblich umzubringen. Um dann zu hören: „Greife lieber zu HB; dann sinkst du friedlich in dein Grab!“)

Aber zurück. In unserer Wirklichkeit gilt: „Paradiese lost“ – unser Leben findet außerhalb des Paradieses statt. Und das ist überhaupt nicht schlimm. Schlimm ist und tragisch, wenn jemand vor lauter Paradieses-Sehnsucht vergisst, dass sein Leben im Hier und Jetzt stattfindet.

Dazu eine Geschichte, die ich bei Willigis Jäger in dem Büchlein: „Das Leben endet nie“ gefunden habe:

„Eine alte Frau bügelte einen Haufen Wäsche. Da trat der Todesengel zu ihr: ‚Es ist Zeit! Komm!‘ Die Frau antwortete: ‚Gut, aber erst muss ich die Wäsche fertig bügeln, wer tut es denn sonst, und ich dann muss ich kochen, meine Tochter arbeitet im Geschäft, sie braucht etwas zum Essen, wenn sie heimkommt. Siehst du das ein?‘ Der Engel ging. Eine Zeit später kam er wieder…. Die Frau ging gerade aus dem Haus. ‚Ich hab jetzt keine Zeit‘, sagte sie. ‚Ich gehe ins Altersheim. Da warten Dutzende von Menschen auf mich, die sehr einsam sind. Die kann ich doch nicht im Stich lassen.‘ Der Engel ging. Und so ging es weiter. Immer fand die Frau einen Grund, warum es jetzt gerade nicht möglich war zu sterben.

Als die alte Frau dann eine uralte Frau geworden ist, dachte sie bei sich: ‚Jetzt könnte der Engel kommen. Nach all der Arbeit und der Mühen muss die Seligkeit des Paradieses doch sehr schön sein.‘ Der Engel kam. Die Frau fragte ihn: ‚Führst du mich jetzt in die Seligkeit?‘ Der Engel frage zurück: ‚Und wo, glaubst du, warst du die ganze Zeit?'“

Jäger schreibt dazu: „Wir sind durchtränkt von der Idee, es gäbe eine bessere Welt. Wir meinen, es müsse eine Alternative zum Hier und Jetzt geben, das uns offensichtlich nicht genügt. Wir fordern eine ganz andere Schöpfung – die jetzige hat zu viele Unvollkommenheiten. Sie ist, um es deutlich zu sagen, das Werk eines Stümpers.“ (Jäger, S.74-75)

In den Religionen ist aus diesen Gedanken der Glaube an ein besseres Jenseits, an ein Reich Gottes entstanden, in dem nur Harmonie herrscht. „Kummer und Seufzen“ werden entfliehen, heißt es bei Jesaja. „Löwe und Lamm werden friedlich nebeneinander lagern“, heißt es in der Offenbarung des Johannes. „Sprudelnde Quelle ewigen Lebens“ heißt es in unserem Text.

Alle Mystiker hingegen sind sich darin einig: Es gibt gar nichts anderes und schon gar nicht etwas Besseres als das Jetzt. Und wir können es jeden Augenblick erleben, indem wir uns unserer Atems bewusst werden.

„Die Wirklichkeit des menschlichen Lebens dauert ein Einatmen lang“, sagt der vietnamesische Zen-Meister Thich Nhat Hanh.

Im Erleben des Augenblicks, im Erleben des „Jetzt und Hier“ werde ich frei! Befreit von meiner Sehnsucht, es gäbe vielleicht doch die Möglichkeit einer Rückkehr in das Paradies. Befreit von meinen Qualen, ich, mein Leben, meine Mitmenschen „es“ ist nicht gut genug!

In der großartigen Dichtung von J. Milton „paradise lost“ aus dem Jahr 1667 – „Das Paradies ist verloren“ – ist es der Satan, der dies nicht anerkennen und dadurch das Paradies nicht verlassen kann. Er kann/will die Realität dieser Welt, in der wir leben, nicht akzeptieren. Anders unsere Vorfahren: Eva und Adam werden zu erwachsenen Menschen, indem sie anerkennen: Es gibt kein zurück! Die Pforten des Paradieses sind geschlossen. Adam und Eva sind über das Paradies hinausgewachsen! Sie sind erwachsen geworden. Und sie wurden nicht von einem zornigen Gott ausgestoßen. Im Gegenteil – ein liebevoller, mitfühlender Gott hatte ihn noch eigenhändig aus Tierfellen Röcke genäht Genesis 3, 20-21! Und gerade so sind die Tore, die uns in unser einmaliges Leben hinein führen, in dem wir immer schon gewesen sind, weit offen. Alles, was wir tun müssen, ist: los zu gehen. In dem sicheren Vertrauen: Gott geht mit.

Denn – mit Meister Eckhardt: „Gott ist ein Gott der Gegenwart!“ AMEN

Ich kenne jemand, der hat mit anderen sozial engagierten Menschen zusammen die „STIFTUNG WASSER“ gegründet. Sie ist leicht im Internet zu finden!

Predigt über Johannes 4, 5 – 14 am 3. Sonntag nach Epiphanias 2025 in der Thomasgemeinde Grünwald (Der Gottesdienst ist auf you tube aufgezeichnet und kann auf der Website der Thomasgemeinde angesehen werden.) Weiterlesen »

Predigt über 1. Johannes 5, 11 – 13 (2. Sonntag nach Weihnachten 2025)

Liebe Gemeinde,

Wer an Heilig Abend in der Christvesper gewesen ist, der konnte Gedanken zum Vater-Sein hören. Sehr persönlich hat unser Pfarrer Martin Zöbeley mitgeteilt, dass ihn der Wusch seiner Tochter, von ihm getraut zu werden, sehr berührt hat.Und er hat dieses sein Erleben verknüpft mit der Bedeutung des eigenen Vater-Seins und dass er gespürt hat, wie wichtig er als Vater genau in diesem Moment für seine Tochter gewesen ist. Und es stimmt ja auch: Zu Beginn des Lebens eines Neugeborenen steht die nährende Mutter viel stärker im Zentrum als der Vater; von ihr fließt die lebensspendende Milch in den Körper des Babys. In ihrem Selbstwert verunsicherte Männer können sich dabei leicht überflüssig fühlen – was sie in Wirklichkeit aber überhaupt nicht sind: repräsentieren sie doch den nicht minder lebensspendenden „Dritten“, der eine andere Welt repräsentiert, eine Welt außerhalb der mütterlichen, in der es nur die Zweiheit Baby und Mutter gibt. Jedes Kind aber braucht für seine gesunde seelische Entwicklung beide: Vater und Mutter. Und: Es braucht für sein eigenes, gesundes Wachstum die liebevolle Beziehung zwischen den Beiden, zwischen seinen Eltern.

Je jünger Kinder sind, desto ungeschützter ist ihre Seele, das heißt sie nimmt alles auf, alles in sich hinein. Und da der Verstand noch nicht da ist, der im Sinne unserer Jahreslosung „alles prüft“ (1. Thessalonicher 5, 21), „behält“ die junge Seele nicht nur das „Gute“, sondern alles, was sie erleben muss. Gerade am Anfang eines Menschenlebens fließt mit der Muttermilch eben auch alles an Empfindungen und Fantasien in das Baby hinein, was gerade in der Mutter ist.-

Unser heutiger Predigttext – sie haben ihn vorhin schon einmal gehört – lädt dazu ein, nicht über die Vaterschaft sondern über die „Sohnschaft“ nachzudenken. (Spannend: Das Wort „Sohnschaft“ gibt es im Deutschen nicht!) Mit „Sohnschaft“ ist das eigene Sohn-Sein gemeint, das für jeden Vater gilt, sofern jeder Vater auch ein Sohn ist! (Das Rechtschreibprogramm von Microsoft Word kennt übrigens den Begriff „Sohnschaft“ nicht; es schlägt stattdessen „Sohnschuft“, oder „Sohnchaot“ oder „Sohnschaf“ vor! Welche Vater-Sohn-Beziehung hat wohl der Programmierer dieses Programms erlebt?)

Jeder Sohn wurde gezeugt von einem Vater. (Ich vernachlässige hier die durch moderne Medizin möglich gewordene „künstliche Befruchtung“.)

Von daher gibt es „den Sohn“ nicht ohne „den Vater“ und den Vater nicht ohne den Sohn. Auch unser heutiger Wochenspruch stellt das Sohn-Sein in den Mittelpunkt: „Wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und voller Wahrheit.“ (Joh. 1,14b). Nahtlos schließt sich hier unser Predigttext an (auch von Johannes, und zwar aus seinem ersten Brief):

Und darin besteht das Zeugnis: Gott gab uns das ewige Leben, und eben dieses Leben ist in seinem Sohn. Wer den Sohn in sich hält, der hält das Leben in sich. Wer das Leben nicht in sich hält, der hält auch nicht den Sohn Gottes in sich.

Dies habe ich euch geschrieben, damit ihr wisst, dass ihr das ewige Leben in euch haltet, und zwar die, die vertrauen in den Namen des Sohnes Gottes.“

(1. Joh. 5,11-13)

Liebe Gemeinde,

ich weiß nicht, wie es Ihnen geht: Aber natürlich denke ich, wenn ich von Vater und Sohn höre, als allererstes an meinen eigenen Vater und meine Beziehung zu ihm. Und als zweites an meine Beziehung zu meinen beiden eigenen Söhnen. Und das ist gut so, weil sonst die Gefahr besteht, sich in abstrakten Ideen aufzuhalten, denen der Boden unter den Füßen fehlt.

Meine persönliche Erfahrung – einmal als Vater, einmal als Sohn – „materialisiert“ die idealtypische, die abstrakte Vater-Sohn-Beziehung, von der hier die Rede ist. Es ist gut, wenn ich mir meiner erlebten Beziehung bewusst werde – erst dann kann ich verstehen, kann „das Gute behalten“ und das Nicht-so-Gute transformieren.

Denn darum geht es: „Es ist der Glaube eine feste Zuversicht dessen, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht“ (Hebräer 11,1) Als Prediger erwarte ich von mir, so zu predigen, dass Sie als meine Hörer etwas damit anfangen können. Mit meiner persönlich erlebten Vater-Sohn-Beziehung habe ich selbst fertig zu werden; sie hat in einer Predigt nichts verloren. Wir müssen uns auch deshalb von dieser konkreten Ebene verabschieden, weil Gott natürlich auch Mutter ist, und sein Sohn natürlich auch seine Tochter. In Gott ist die polare Geschlechtlichkeit unserer Welt „aufgehoben“ (im Hegelschen Sinne): Gott ist Beides: ying und yang, Mann und Frau, Mutter und Tochter oder eben auch Vater und Sohn.

Es ist eine Gratwanderung: Entferne ich mich zu weit von den Vorstellungen der materiellen Welt, wird mein Nachdenken über Gott (und die Welt) anämisch, es fehlt meinen Gedanken die Kraft der Lebendigkeit. Bleibe ich zu sehr im Konkreten nehme ich meinen Gedanken die Möglichkeit, bei Ihnen weiter zu wirken: bei Ihnen, da jeder von Ihnen seien ganz eigene, ganz einmalige Beziehung zu seinem Vater hatte. Es geht also einmal mehr um die Entdeckung des Zwischenraums: zwischen abstrakter Leblosigkeit und konkret-individuellem Erleben.

Wie also, so könnte man das Problem noch einmal anders formulieren, können wir alle – egal ob wir Söhne, Töchter, Mütter, Väter sind – erleben, was Johannes da schreibt: „Gott gab uns das ewige Leben, und eben dieses Leben ist in seinem Sohn“? Die Antwort von Johannes im Duktus seines Briefes (wie auch seines Evangeliums) ist sehr klar: Es geht darum, liebesfähig zu werden. Liebes-fähig-Sein heißt, narzisstisches, um sich selbst kreisendes Machtdenken durch soziales Liebesdenken zu ersetzen.

„Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ (1. Joh. 4, 16b)

Das ist auch so sein Satz, der abstrakt genommen gut klingt. Aber was heißt „Liebe“ konkret? „Ich habe das alles aus Liebe getan!“ Dieser Satz kann als Motiv für mörderische Handlungen verwendet werden. „Wen der Herr liebt, den züchtigt er!“ Wie viele Väter haben aus diesem Satz abgeleitet, dass sie ihren Kindern und besonders ihren Söhnen etwas Gutes tun, wenn sie diese verprügeln. Und wenn die Söhne dann selbst groß und Väter geworden sind, sagen sie, dass ihnen dies nicht geschadet hätte. Kurz um: „Liebe“ lässt sich – wie alles auf dieser Welt – für Wachstum genauso verwenden wie für Zerstörung.

Für mich ist das Besondere und das Bemerkenswerte an der Sohnschaft Jesu:

Gott-Vater und Gott-Sohn sind nicht in konkurrierender Macht aufeinander bezogen. Es geht in ihrer Beziehung gerade nicht darum: Wer ist der Stärkere, wer besiegt wen? Sie sind im Schmerz gemeinsam zu (er-)tragender Ohn-Macht aufeinander bezogen, der Ohn-Macht des Kreuzes. Das ist das Bemerkenswerte an dieser göttlichen Vater-Sohn-Beziehung: Gerade im gemeinsamen Aushalten der Ohnmacht, des Ohne-Macht-Seins, entfaltet sich ihre Stärke. Dieses Aushalten wird zum katastrophalen Wendepunkt: zunächst für die Beziehung der beiden und dann (als Folge) für die Beziehung all derer, die den Mut und das Vertrauen haben, die Katastrophe, die die Verwandlung von Machtdenken in Liebesdenken mit sich bringt, zu ertragen!

Die (scheinbare) Katastrophe, die zur Rettung der Beziehung führt, ist die Zerstörung einer Beziehung, die auf Macht gegründet ist. Dies ist die eigentliche Bedeutung der Kreuzigung Jesu. Das fleischgewordene Wort ist nichts anderes als „das Wort vom Kreuz“! In und aus dieser Zerstörung heraus erwächst das radikal Neue. Das Neue ist das, was wir als „Reich Gottes“ benennen; es ist das „Reich des Sohnes“ – wiederum nicht biologisch-konkret zu verstehen. Die Predigt dieses Reiches ist das Herzstück der Predigt Jesu, die wir auch in diesem Neuen Jahr hören werden und – falls wir das können und wollen – in uns Gestalt annehmen lassen. Im Reich des Sohnes leben heißt: ein Leben nicht mehr aus Macht, Kontrolle, Neid und Misstrauen heraus zu führen, sondern ein Leben aus Vertrauen, Dankbarkeit und Liebe zu wagen.

Ich weiß aus eigener Erfahrung: Das ist viel leichter gesagt als getan. Wer es wagt, sein Leben auf Vertrauen zu gründen, der setzt sich dem Spott und Hohn eines ganzen Systems aus: Jenes Systems, das der Meinung ist, ohne Macht und Kontrolle ist Leben nicht möglich. So manche Dornenkrone wurde und wird dem Ohn-Mächtigen aufgesetzt. Es ist eine große Illusion zu meinen, das „Vertrauen in den Namen des Sohnes Gottes“ führt zu einem unbeschwerten, paradiesischen Leben.

Wer dies Kind mit Freuden umfangen, küssen will, muss vorher mit ihm leiden groß Pein und Marter viel“ heißt es in einem alten Adventslied.

Das gilt nicht zuletzt auch für uns Pfarrer: Es ist viel leichter, Liebe und Vertrauen zu predigen … als zu leben! Und natürlich ist die Institution Kirche – auf katholischer wie auf evangelischer Seite – voller Beispiele, wo es um Macht, um Sich-Durchsetzen um Recht-Haben – und nicht um Liebe geht.

Wie stark mein Gott-Vertrauen wirklich ist, kann ich daran erkennen, wie es mir geht, wenn mein Leben nicht so läuft, wie ich es mir vorstelle. Wenn die nüchterne Wirklichkeit sich mit meinen Wünschen und Sehnsüchten nicht in Einklang bringen lässt. So lange alles „glatt“ geht, kann ich leicht „im Vertrauen“ leben. Die Gefahr ist die, dass wir – ohne es zu merken – unseren „Glauben“ dafür verwenden, dass unser Leben so läuft, wie wir es haben wollen, und dass wir Gott dafür verwenden, dass er uns doch bitte dafür helfen soll, dass unser Leben nach unseren Vorstellungen und Wünschen abläuft. Die Gefahr ist, dass wir statt an Gott an unser eigenes Ich glauben.

Das dazu passende Stoßgebet lautet: „Ich, mich, meiner, mir – Gott erhalte diese vier!“

Wenn ich versuche zu erleben, wovon Johannes schreibt, wenn ich versuche, den Sohn wirklich in mir zu (be-)halten, dann führt mein Weg notwendig zum Kreuz. Gekreuzigt werden all jene Ich-Wünsche, die mich von Gott trennen. Sie sind es, die mich von meinem eigentlichen, von meinem „wesentlichen“ Leben trennen. Wenn ich versuche, den Sohn in mir zu (be-)halten, dann gebe ich den erschöpfenden Kampf um den Sinn meines Lebens ab. Ich muss nicht länger „Sinn generieren“ – ich muss auch keinen „Sinn machen“. Stattdessen lasse ich los, überlasse mein Ich jener Liebesbeziehung, die zwischen Vater und Sohn im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi offenbart worden ist. Und in diesem Loslassen geschieht das, was unsere Welt so dringend braucht:

Die Verwandlung der Machtbeziehung in eine Liebesbeziehung.

Oder, mit Paul Gerhardt:

„Eins aber hoff ich, wirst du mir, mein Heiland nicht versagen:

dass ich dich möge für und für in, bei und an mir tragen.

So lass mich doch dein Kripplein sein;

komm, komm und lege bei mir ein dich und all deine Freuden.“

Und ich füge hinzu: Auch alle deine Leiden  AMEN

Und die Liebe Gottes, die höher ist als all unser menschliches Verstehen, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, AMEN.

Predigt über 1. Johannes 5, 11 – 13 (2. Sonntag nach Weihnachten 2025) Weiterlesen »

Predigt über Micha 6 am 22. Sonntag nach Trinitatis (27. 10. 2024)

Liebe Gemeinde,

1 Hört doch, was der HERR sagt:

Damit beginnt unser heutiger Predigttext aus dem alttestamentlichen Buch Micha (c. 6). Es geht um hören, um zuhören.

Als Zuhörer bin ich „Empfänger“. Ich empfange ganz viele Mitteilungen auf ganz vielen Ebenen. Wer Erfahrung in der Kommunikation mit Tieren hat, weiß, dass unsere menschliche Sprache nur eine Möglichkeit der Kommunikation ist. Es gibt die vielen Signale, die unser Körper aussendet: mit unseren Augen, mit unserer Gestik, mit unserer Mimik.

Ein aufmerksamer Zuhörer ist ein ganzheitlicher Zuhörer: Er nimmt wahr, was auf ihn einströmt. Und, ganz wesentlich: Er nimmt wahr, ohne zu bewerten.

Dies ist nur möglich, wenn ich einen „Raum“ in mir finde, in dem ich den Anderen „sein lassen“ kann. Das Gegenteil dazu ist der Drang, möglichst schnell etwas zu „ent-gegnen“. Als wäre es gefährlich, einen bewertungsfreien Raum zur Verfügung zu stellen. Als wäre es bedrohlich, dem Gespräch oder der Begegnung Zeit zu lassen. Zei zu lassen, das Gehörte erst einmal auf mich einwirken zu lassen.

Wenn Sie mögen, können Sie immer wieder freundlich wahrnehmen, wie viel Raum und Zeit Sie sich und Ihrem Gegenüber zur Verfügung stellen. Oder wie sehr es Sie drängt, Eigenes „hinzustellen“. Eine häufige Art dies zu tun, ist der Satz: „Ja, das kenne ich auch…“ Ich denke mir manchmal, wirklich? Kennt du mich wirklich so gut, dass du sagen kannst: „Das kenne ich auch!“ Oder verwendest du diesen Satz vor allem dafür, um dich dann mit deinem ausbreiten zu können?

„Hört doch, was der Herr sagt!“

Um diesem Satz des Propheten Micha zu befolgen, brauche ich Raum und Zeit. Die verbreitete Hetze ist ein Ausdruck davon, dass beides – Raum und Zeit – angegriffen sind.

Körperlich drückt sich das in einem flachen Atem aus.

Thích Nhất Hạnh sagt in einen „Worten der Weisheit“:

Jedes Mal, wenn ich einatme, bin ich mir bewusst, dass ich einatme.

Und wenn ich ausatme, bin ich mir bewusst, dass ich ausatme.

Und während ich einatme spüre ich: Mein Einatmen wird tiefer.

Und während ich ausatme, spüre ich: Mein Ausatmen wird länger.

Während ich einatme beruhige ich mich.

Während ich ausatme fühle ich mich erleichtert.

        –  Das versuchen wir jetzt mal: Meditation –

Auf diesem Hintergrund wollen wir hören, was Gott durch seinen Propheten Micha sagt: Er fordert sein Volk auf, einen Rechtsstreit gegen ihn selbst zu führen:

»Mach dich auf, führe einen Rechtsstreit vor den Bergen, lass die Hügel deine Stimme hören!« 2 Hört, ihr Berge, den Rechtsstreit des HERRN, ihr starken Grundfesten der Erde; denn der HERR will mit seinem Volk rechten und mit Israel ins Gericht gehen!

Das ist starker Tobak! Gott will, dass sein eigenes Volk ihn anklagt: 3 »Was habe ich dir getan, mein Volk, und womit habe ich dich beschwert? Das sage mir!

Etwas einfach – und darin durchaus zu Micha passend – könnte man sagen:

Gott ist sauer! Und zwar so richtig!

Das wird daran deutlich, dass der Satz: „Was habe ich dir getan, mein Volk?“ eine rein rhetorische Frage ist. Gott erwartet keine Antwort. Im Gegenteil – er fährt fort und holt so richtig in seinem Zorn aus: 4 Habe ich dich doch aus Ägyptenland geführt und aus der Knechtschaft erlöst und vor dir her gesandt Mose, Aaron und Mirjam. 5 Mein Volk, denke doch daran, was Balak, der König von Moab, vorhatte und was ihm Bileam, der Sohn Beors, antwortete; wie du hinüberzogst von Schittim bis nach Gilgal, damit du erkennst, wie der HERR dir alles Gute getan hat.« 

Gott verweist auf die Heilsgeschichte, die er mit seinem Volk erlebt hat. Seine Befreiung aus Ägypten unter der Führung von Moses, Aaron und Mirjam. Nebenbei – zum Thema Gleichberechtigung: Mirjam wird als Frau in einem Atemzug neben den Männern Moses und Aaron genannt.

Und weiter: Israel möge sich daran erinnern, was der Moabiterkönig Balak gegen es im Schilde führte und was ihm der Seher Bileam antworten musste! Der Moabiterkönig hatte die Sorge, dass das wandernde Volk, das sich auf seinem Gebiet niedergelassen hatte, alles Essbare aufbrauchen würde und dass die israelitischen Tierherden alles Grün fressen würden. Daher versuchte er den Propheten Bileam mit Geld zu bestechen, dass er das Volk Israel verfluche, damit sie das Land verlassen würden. Dank einem Tier – einer Eselin! – ging das schief! Dank er einer Eselin erkannte Bileam – wenn auch widerwillig – den Willen Gottes und verfluchte das Volk Israel nicht! Dazu ein Zitat des jüdischen Philosophen Moses Maimonides:

Unsere Weisen haben festgestellt, dass es in der Torah ausdrücklich verboten ist, einem Tier Schmerzen zu verursachen, und dass dieses Verbot auf dem Satz beruht: Warum hast du deine Eselin geschlagen?“

Und noch an eine dritte Erfahrung erinnert Gott, an den glücklich verlaufenden Jordanübergang zwischen Schittim und Gilgal! (Dieser Übergang war gefährlich!)

Und das Volk scheint sich von dieser Gottesrede erreichen zu lassen. Etwas kleinlaut antwortet es:

6 »Womit soll ich mich dem HERRN nahen, mich beugen vor dem Gott in der Höhe? Soll ich mich ihm mit Brandopfern nahen, mit einjährigen Kälbern? 7 Wird wohl der HERR Gefallen haben an viel tausend Widdern, an unzähligen Strömen von Öl? Soll ich meinen Erstgeborenen für meine Übertretung geben, meines Leibes Frucht für meine Sünde?«

Wenn ich Gott wäre, würde ich antworten:

„Jetzt weicht Ihr schon wieder aus!“ „Ich will Eure Opfer nicht, Euer frommes Getue, Eure süßlichen Gebete, Eure scheinheiligen Predigten…“

Und in die ratlose Stille hinein kommt dann das entscheidende Wort:

8 Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott. 

Schauen wir uns die drei „Forderungen“ Gottes an:

Erstens: „Halte dich an Gottes Wort“, übersetzt Luther. Wörtlicher heißt es: „Übe Recht“. Halte es ein, befolge es!

Was Recht ist und was Unrecht, das hat Jahwe seinem Volk mit den „Zehn Worten“ (die fälschlich als 10 Gebote übersetzt wurden) mit auf dem Weg gegeben. Eine Richtschnur, in der es klare Aussagen über ein gutes Leben gibt. Halte dich an das Recht, sagt der Herr, brich es nicht! Umgehe es nicht! Beuge es nicht! Sondern tue es! Und du kannst es tun, indem du dich immer wieder daran erinnerst, dass du frei bist, dass ich dein Gott bin, der dich aus Ägypten, dem Land in dem du Sklave deiner Lust und Unlust gewesen bist, befreit hat!

Nun gibt es Menschen, die meinen, sie seien immer im Recht. Dies kann zu sehr „unmenschlichen“ Menschen führen. Recht tun ist verbunden mit Empathie. So heißt es zweitens:

„Liebe Güte!“

Das hebräische „Chäsäd“ (Güte) bedeutet:

Verbundenheit, Gemeinschaftssinn, Solidarität. Das Wort kommt öfter vor, z.B. auch im Psalmwort: Danket dem Herr, denn er ist freundlich und sein Chäsäd währet ewiglich. Seine Güte übersetzt Luther.

Es geht um die Verbundenheit des Lebendigen!“ Indem ich mich eingebunden erlebe in die vielfältige Gemeinschaft des Lebendigen, entwickle ich Verständnis für das (mir) Fremde, „Andere“. Aus diesem Verständnis heraus entsteht Achtung und Respekt gegenüber dem Anderen. Dem Fremden.

Achtung und Respekt gerade auch dann, wenn ich mich nicht respektiert, wenn ich mich in meinem Eigenen nicht geachtet fühle. Das ist die Herausforderung: Chäsäd/Güte lieben heißt: Ich muss mich nicht mehr rächen, nicht mehr den Anderen spüren lassen, was er mir angetan hat. Oder, anders:

Ich habe die Kraft, es gut sein zu lassen. Das ist die Kraft des Ausatmens!

Dies kann nur aus der Liebe heraus geschehen.

Und noch einmal mit Thích Nhất Hạnh:

Während ich einatme, lächle ich.

Während ich ausatme, lasse ich los.

Und in diesem Loslassen geschieht die dritte Anweisung Gottes:

„Gehe bescheiden mit deinem Gott!“

Wer mit Gott geht, versucht nicht länger in blindem Gehorsam Regeln zu befolgen. Er schaut auch nicht hochnäsig auf die herab, die in seinen Augen zu wenig „fromm“ sind. Die scheinheilige Frage: „Womit soll ich mich dem Herrn nähern, mich beugen vor dem Gott in der Höhe?“ lenkt vom Wesentlichen ab.

„Du Menschenkind, stelle dich auf deine Füße, so will ich mit dir reden“ – sagt Gott zu dem Propheten Hesekiel (Hes. 2, 1)! Gott will ihrer selbst und so ihres Selbst bewusste Menschen. Dies aber sind mutige Menschen.

Wer mit Gott geht, verfügt über einen aufmerksamen, einen wachen Blick – und einen aufrechten Gang.

Und wer mit Gott geht, der lebt aus der Vergebung heraus:

Gerade so, wie wir eingangs hörten:

„Bei dir ist Vergebung, dass man dich fürchte!“

Im Sinne von: Bei dir ist Vergebung, dass man dich respektiere!

Im Akt des Vergebens geschieht letztes Loslassen:

„Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“

In diesem Loslassen geschieht Beides:

In dem ich vergebe, wird mir vergeben.

Vergeben heißt auch – und nicht zuletzt: sich selber zu vergeben. Aufzuhören, mit sich und dem eigenen Leben zu hadern. Liebevoll anzuerkennen, dass es mir „damals“ nicht anders möglich gewesen ist, zu leben und zu handeln, wie ich es halt getan habe.

Und so und nur so kann ich mich dem Augenblick, dem, was jetzt gerade ist, zuwenden.

Und das ist die letzte Atemübung von Thích Nhất Hạnh:

Während ich einatme verweile ich im gegenwärtigen Augenblick.

Während ich ausatme genieße ich diesen einmaligen Augenblick.

Ja, liebe Gemeinde, wir dürfen im Gottesdienst auch genießen…. Amen.

Predigt über Micha 6 am 22. Sonntag nach Trinitatis (27. 10. 2024) Weiterlesen »

Predigt über 1. Petrus 4, 7 – 11 am 18. Sonntag nach Trinitatis (29.09.2024)

Liebe Gemeinde,

wer die Kraft hat sich und Andere zu fragen: „Wie soll ich leben?“ der ist in seiner Entwicklung bereits weiter gekommen als all jene, die unbewusst, unreflektiert ihr Leben leben. Und mit der Frage nichts anfangen können.

Nun fragt der „reiche Jüngling“ im Evangelium nicht nur: „Wie soll ich leben?“ sondern er fügt hinzu: „… damit ich das ewige Leben ererbe.“

In seiner Antwort geht Jesus darauf nicht ein.

Stattdessen beschwert er sich, dass er „gut“ genannt wird – „Niemand ist gut außer Gott allein“ – und verweist auf die Thora, in unserem Sprachgebrauch die „Zehn Gebote“.

Ich finde es außerordentlich wichtig, sich darüber im Klaren zu werden, wofür ich etwas tue. Das ist die Frage nach der Verwendung meines Lebens. Warum will ich eigentlich ein „guter Mensch“ sein? Und was heißt das: „Niemand ist gut, außer Gott allein?“

Oder warum bin ich nicht bereit, etwas zu akzeptieren? Mein Älter-werden zum Beispiel. Meine zunehmende Gebrechlichkeit. Meine Schmerzen … Die steigende Popularität von Parteien wie der AFD?

Fragen über Fragen.

Oder, noch eine Frage: Wofür verwende ich meine Predigtgedanken? Welches Anliegen habe ich damit?

Verwende ich Sie dafür, dass Sie mich toll finden?

Oder verwende ich Sie dafür, eine Botschaft Ihnen mitzuteilen, die mir wichtig ist, die aber nicht unmittelbar etwas mit mir zu tun hat.

Im ersten Fall geht es um meinen Narzissmus. Da ist es mir wichtig, wie Sie mich sehen.

Im zweiten Fall geht es um Inhalt. Um eine „Sache“.

Die Sache, über die ich nachgedacht habe, ist mir vorgegeben: Sie heißt „Predigttext“. Bevor ich Ihnen Anteil an meinen Gedanken darüber geben werde, lese ich den Text erst einmal als Ganzes vor.

Es ist ein Ausschnitt aus dem ersten Petrusbrief, Kapitel 4, 7-11:

7 Es ist aber nahe gekommen das Ende aller Dinge. So seid nun besonnen und nüchtern zum Gebet. 8 Vor allen Dingen habt untereinander beharrliche Liebe; denn »Liebe deckt der Sünden Menge zu« 9 Seid gastfrei untereinander ohne Murren. 10 Und dienet einander, ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat, als die guten Haushalter der mancherlei Gnade Gottes: 11 Wenn jemand redet, rede er’s als Gottes Wort; wenn jemand dient, tue er’s aus der Kraft, die Gott gewährt, damit in allen Dingen Gott gepriesen werde durch Jesus Christus. Ihm sei Ehre und Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.

„Es ist aber nahe gekommen das Ende aller Dinge.“ Unter dieser Überschrift sind die dann folgenden Handlungsanweisungen zu verstehen.

Diese Überschrift ist heute – nachdem fast 2000 Jahre vergangen sind, ohne dass das „Ende aller Dinge“ eingetreten ist, nicht sehr glaubwürdig. Aber eines gilt auch heute noch: Dass es ein „Ende unseres Lebens“ geben wird. Und das heißt einen Zeitpunkt, an dem ich nichts mehr an meinem gelebten Leben ändern kann. Es ist dann so, wie es ist, bzw. wie es gewesen ist. Und ich habe nur die Wahl, dieses mein Leben so zu akzeptieren oder der eben nicht.

Viel „Altersgrantelei“ und viel „Missmut“ quillt aus der Ablehnung dessen, wie mein Leben war bzw. wie es ist.

Schauen wir mal, wie die Gedanken unseres Predigttextes hierzu passen.

Erstens: „So seid nun besonnen und nüchtern zum Gebet“. Besonnenheit und Nüchternheit tut gut. Sie verhindert unüberlegtes Handeln „aus dem Affekt“ heraus. Spannend dass es heißt: „zum Gebet“. Für mich heißt das: Lasst Euch in Euren Gebeten nicht dazu hinreißen, um die Realisierung Eurer Illusionen zu bitten. Betet vielmehr realistisch. Anstelle um eine wunderbare Heilung zu bitten, betet um die Kraft, Schmerzen, Enttäuschungen usw. zu ertragen. Bete um die Kraft, sich auf den Boden der Wirklichkeit zu stellen…. Mit der Überschrift: „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe!“

Zweitens: „Vor allen Dingen habt untereinander beharrliche Liebe; denn ‚Liebe deckt der Sünden Menge zu‘. Es geht nicht darum, Fehlverhalten zu vertuschen. Im Gegenteil: Fehlverhalten ist zu benennen. Aber „in Liebe“. Das Gegenteil dazu wäre: „in Verurteilung“. Es steht uns Menschen nicht zu, über einen Mitmenschen zu urteilen. Nicht einmal vor Gericht. Auch hier werden Taten von Menschen verurteilt – aber nicht Menschen als solche. Wichtig ist das Adjektiv „beharrlich“. Es ist leicht einen anderen Menschen zu lieben, solange er mir meine Wünsche erfüllt. Aber ist das wirklich Liebe? Liebe hat mit Ausdauer, eben Beharrlichkeit, zu tun. Und damit, es auch wieder „gut sein lassen zu können“. Beharrliche Liebe ermöglicht das Freiwerden von dem, was gewesen ist. Das Gegenteil hierzu ist nachtragend sein. Mir und dem Anderen lebenslang das „hinterher zu tragen“, was geschehen ist. Nachtragend hat mit „unverzeihlich“ zu tun. „Das hätte nie passieren dürfen!“ Hier hilft das nüchterne Gebet: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“ ( Matthäus 6, 12)

Drittens: „Seid gastfrei untereinander ohne Murren.“ Gilt das nur für die christliche Gemeinschaft? So klingt es. Aber ich verstehe es anders. Ich möchte Dekan Rudolf Rengstorf aus seiner Predigt zitieren: „Hier geht es um Menschen, die wir nicht kennen, die fremd sind in unserem Ort, weil sie hier als Ausländer hergekommen oder aufgewachsen sind. Ihnen Raum zu geben und Chancen, hier heimisch zu werden, ist mühsam, erfordert viel Phantasie und Einfühlungsvermögen. Hinzu kommt: Das alles gibt es nicht zum Nulltarif. Die Beschaffung von Wohnungen für größere Familien, Sprachunterricht, zusätzliches Training an Arbeitsplätzen, Integration in Kindergärten und Schulen. Das kostet Steuergelder. Da kommt man schnell ins Murren und Protestieren mit dem Tenor:: Das Boot ist voll! Grenzen bei uns und in den Nachbarländern dicht machen!
Nein, wir unterstützen in unseren Gemeinden alle Bemühungen, den Fremden ein neues Zuhause und Bürgerrechte zu geben. Wir tun das, weil die Fremden in der Bibel durchgehend Achtung genießen bis dahin, dass Jesus unseren Umgang mit Fremden zum Maßstab dafür gemacht hat, wie wir mit ihm umgehen.“ (Rudolf Rengstorff, Predigt zu 1. Petrus 4, 7-11; im Internet zu finden unter: evangelisch.de)

Viertens: „Und dienet einander, ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat…“ Das heißt, es geht nicht darum, sich ein Talent, über das man nicht verfügt, aus den Fingern zu saugen. Niemand kann alles. Aber jeder kann etwas. Und das ist gut so und – das genügt auch.

Und woran erkenne ich die Gabe, die ich empfangen habe? Woran erkenne ich meine „Be-Gabung“? Ganz einfach: Indem mir etwas leicht fällt, indem mir etwas Spaß macht. Ansonsten quäle ich mich ganz umsonst. Und das meint Paulus nicht, wenn er präzisiert: „… als die guten Haushalter der mancherlei Gnade Gottes“ Das heißt, es geht darum, mit den eigenen Begabungen pfleglich umzugehen, eben „Haus zu halten“.

„Haus halten“ hat damit zu tun, Begrenzungen zu akzeptieren. Und im Rahmen von Begrenzungen Prioritäten zu setzen. „Alles auf einmal“ geht nicht. Es überfordert mich. Und führt dazu, dass ich gar nichts tue.

Etwas vereinfacht könnte man sagen: Es geht um Projektarbeit. Welches Projekt nehme ich mir heute vor? Und – ganz wichtig: Schließe es dann auch ab. Beides ist die Voraussetzung dafür, am Ende eines Tages für diesen Tag Gott zu danken und mich wohlig in die Arme Gottes fallen lassen zu können.“ Viele Schlafprobleme haben damit zu tun, dass Unabgeschlossenes in unserer Seele geistert und uns keine Ruhe finden lässt.

Ein Letztes: „Wer Gott liebt, der liebt auch seinen Bruder!“ Das ist die Überschrift über den heutigen Sonntag. Zum guten Haushalten gehört Fürsorge. Fürsorge für alles, was mir anvertraut ist. Fürsorge für mich und für das Lebendige, das mich umgibt. Die Fähigkeit zu dieser Fürsorge gründet für uns Christen in unserem Glauben an Gott. So heißt es am Ende unseres Predigttextes: „Wenn jemand redet, rede er’s als Gottes Wort; wenn jemand dient, tue er’s aus der Kraft, die Gott gewährt, damit in allen Dingen Gott gepriesen werde durch Jesus Christus. Ihm sei Ehre und Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.

Gott die Ehre geben bedeutet für mich: Dem Fremden, dem Unbekannten, dem, was mir nicht bewusst ist die Ehre zu geben. Und „Ehre geben“ heißt: Meinem Unbewussten eine Unterkunft, ein Zuhause, eine Bleibe bei mir zu geben. Es gehört zum Kern der jüdisch-christlichen Religion, den Fremden zu ehren.

Der Fremde ist der „Nächste“ – ihn zu lieben wie sich selbst ist neben der Gottesliebe das höchste christliche Gebot. Das bedeutet, die Sicherheit verleihenden „Güter“ loszulassen. „Verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben,“ antwortet Jesus auf die Frage des reichen Jünglings: „Was soll ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe?“

Diese Antwort machte den Frager „betrübt“ „und (er) ging traurig davon, denn er hatte viele Güter“.

So ist das.

„Gott die Ehre geben“ fühlt sich gar nicht berauschend an.

Es ist ein nüchternes und manchmal sehr ernüchterndes Geschehen. Gefühle der Trauer gehören unweigerlich dazu. Gott die Ehre geben bedeutet auch, von Vertrautem Abschied zu nehmen.

Nur so können neue, fremde Gedanken und Erkenntnisse in unsere Seele hinein kommen.

Wer es jedoch wagt, durch diese Ernüchterungen hindurch zu gehen, wird reichlich belohnt.

Er beginnt, die wirkliche Wirklichkeit – jenseits seiner Illusionen – sehen zu lernen.

Dazu eine Geschichte:

Eines Nachts stolperte ein Betrunkener über eine Brücke und stieß mit seinem Freund zusammen. Die beiden lehnten sich über das Geländer und schwatzten eine Weile.

„Was ist das da unten?“ fragte plötzlich der Betrunkene.

„Das ist der Mond“, sagte der Freund.

Der Betrunkene blickte noch einmal hin, schüttelte ungläubig den Kopf und sagte: „Okay, okay! Aber wie zum Teufel bin ich hier hinaufgekommen?“ Anthony de Mello

Wenn jemand redet, rede er es als Gottes Wort, sagt Paulus. Gottes Wort aber ist das Wort der Liebe zu allem Lebendigen.

Und Rumi sagt: „Schweigen ist die Sprache Gottes, alles andere ist schlechte Übersetzung.“

In diesem Sinne: Ich habe genug geredet. Lassen wir jetzt in der Stille Gott selbst zu Wort kommen, AMEN.

Predigt über 1. Petrus 4, 7 – 11 am 18. Sonntag nach Trinitatis (29.09.2024) Weiterlesen »

Predigt über 3. Moses 19, 1-3. 13- 18. 33-34 am 13. Sonntag nach Trinitatis 2024

Liebe Gemeinde,

unser heutiger Predigttext ist ein Abschnitt aus dem sogenannten „Heiligkeitsgesetz“. Es findet sich im 3. Buch Mose (Leviticus), Kapitel 17-26. In ihm geht es um die Beziehung zwischen der Heiligkeit Jahwes und der Heiligung Israels. Letztere – die Heiligung Israels – stellt das Hauptmotiv dafür da, bestimmte Gesetze zu befolgen.

Dahinter steht die grundlegende Frage: „Was soll ich tun?“ Oder: „Wie soll ich leben?“

Diese Frage entspricht nicht unserem Zeitgeist. Zeitgeist konform ist die Frage:

„Wie will ich leben?“

Unser Zeitgeist meint, es gäbe ein selbstbestimmtes Ich.

Er nennt es „Freiheit“!

Ein Ich, das sich von nichts und niemandem etwas vorschreiben lässt.

Für dieses Ich ist Religion nichts weiter als Ausdruck von Unmündigkeit und selbst gewählter Abhängigkeit.

Der freie Mensch braucht keine Religion.

Er braucht Religion gerade so wenig, wie die freie Marktwirtschaft keine Regularien von außen braucht: Sie reguliert sich selbst.

Ich halte diese Art von Freiheit für eine Illusion unseres Zeitgeistes. In Wirklichkeit sind wir Menschen doch ziemlich abhängig und ziemlich ausgeliefert: und zwar nicht nur vom Klima.

Zunächst einmal sind wir uns selbst ausgeliefert: unseren Ideen oder Anschauungen von dem, was wir für das Leben halten.

Und es ist ein großer Unterschied zwischen dem, wofür ich etwas oder jemanden halte und dem, wie „er“, „sie“ oder „es“ wirklich ist.

Immanuel Kant hat dies als das „Ding an sich“ bezeichnet.

Und hinzugefügt: Es sei unerkennbar. Wir können uns der Wirklichkeit bestenfalls annähern.

Dazu passt eine wunderbare chassidische Geschichte:

Die Schüler des Baalschem hörten von einem Mann als von einem Weisen reden. Einige unter ihnen verlangte es, ihn aufzusuchen und seine Lehre zu erfahren. Der Meister gab ihnen die Erlaubnis; sie aber fragten weiter: „Und woran sollen wir erkennen, ob er ein wahrer Zaddik ist?“ „Erbittet von ihm“, antwortete der Baalschem, „einen Rat, wie ihr es anzufangen habt, damit die unheiligen Gedanken euch nicht mehr beim Beten und Lernen stören. Gibt er euch einen Rat, so wisst ihr, dass er der Nichtigen einer ist. Denn das ist der Dienst des Menschen in der Welt bis zur Todesstunde, Mal um Mal mit dem Fremden zu ringen und es Mal um Mal einzuheben in die Eigenheit der göttlichen Namen.“ (M. Buber 1949, S. 151).

Ein weiser Mensch weiß um die Grenzen seiner Erkenntnismöglichkeiten. Und weil er das weiß, bleibt er „auf dem Teppich“, bleibt er „geerdet“.

Auch dies entspricht nicht unserem Zeitgeist: Er meint allwissend zu sein. Und weil er das meint, lässt er sich auch von niemandem etwas sagen.

„Von dir und deinem Gott werde ich mir gerade sagen lassen, was ich tun soll!“

Und genau damit beginnt unser heutiger Predigttext:

Und der Herr redete mit Mose und sprach: Rede mit der ganzen Gemeinde der Israeliten und sprich zu ihnen:„Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der Herr, euer Gott“.

So lautet der göttliche Appell: „Ihr sollt heilig sein!“

Darum geht es. Dies ist Euer Job, Eure Aufgabe als Menschen.

Ihr sollt heilig sein!

Von der Struktur her entspricht das dem sogenannten „Dekalog“, den 10 Geboten, die Sie alle kennen. Auch Sie beginnen ja nicht mit einer Handlungsanweisung, sondern mit einem Statement: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.“ (Exodus 20, 2) Und in der Beziehung zu mir wirst du … und dann folgen die „Zehn Worte“ die wir fälschlich als „Zehn Gebote“ bezeichnen. Es sind in Wahrheit Worte für ein gesundes, gelingendes Leben.

Und darum geht es: Dem Leben dienende Sprache, dem Leben dienende Gesetze für eine dem Leben dienende Gemeinschaft zu finden. Dazu gehört auch eine dem Leben dienende Erziehung.

Sie lässt den Anderen sein. Sie sagt ihm nicht, was er zu tun und zu lassen hat. Sie erteilt ihm keine Ratschläge, die bekanntlich auch „Schläge“ sind.

„Gibt er euch einen Rat, so wisst ihr, dass er der Nichtigen einer ist.“

Dem Leben dienende Erziehung lässt frei.

Und sie weiß darum, dass jedes Lebewesen einen guten Rahmen benötigt, innerhalb dessen es wachsen kann.

Den Anderen frei lassen heißt gerade nicht, ihn seiner Gier, seiner Hemmungslosigkeit, seiner Destruktivität selbst zu überlassen.

Die Freiheit, die ich meine, hat nichts mit dem schwer erträglichen Slogan: „Freie Fahrt für freie Bürger!“ zu tun. Auch nichts mit dem arroganten: „Man gönnt sich ja sonst nichts!“

Frei-lassen hat damit zu tun, einen Rahmen zur Verfügung zu stellen, innerhalb dessen die Seele wachsen, sich entwickeln kann. Einen Rahmen, der stark genug ist, den uns Menschen innewohnenden destruktiven Impulsen Einhalt gebietet. Und der großzügig genug, um gesundes Wachstum zu fördern.

Ein guter Rahmen ermöglichst Wachstum, indem er Destruktivität hemmt. Dieser Rahmen ist insofern ein „heiliger“ Rahmen, als er auf Ganzheit ausgerichtet ist. Eine Ganzheit, die zu einem Leben „aus einem Guss“ (Martin Buber) führt.

Ein solcher guter Rahmen – bei weitem nicht der einzige – findet sich im Alten Testament in den berühmten „Zehn Geboten“, die wie gesagt eigentlich „Zehn Worte“ heißen. Eine Variante davon ist das Heiligkeitsgesetz, aus dem der heutige Predigttext stammt:

13 Du sollst deinen Nächsten nicht bedrücken noch berauben. Es soll des Tagelöhners Lohn nicht bei dir bleiben bis zum Morgen. 14 Du sollst dem Tauben nicht fluchen und sollst vor den Blinden kein Hindernis legen, denn du sollst dich vor deinem Gott fürchten; ich bin der HERR. 15 Du sollst nicht unrecht handeln im Gericht: Du sollst den Geringen nicht vorziehen, aber auch den Großen nicht begünstigen, sondern du sollst deinen Nächsten recht richten. 16 Du sollst nicht als Verleumder umhergehen unter deinem Volk. Du sollst auch nicht auftreten gegen deines Nächsten Leben; ich bin der HERR. 17 Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen, sondern du sollst deinen Nächsten zurechtweisen, damit du nicht seinetwegen Schuld auf dich lädst. 18 Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren gegen die Kinder deines Volks. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der HERR. 

Vor einem grauen Haupt sollst du aufstehen und die Alten ehren und sollst dich fürchten vor deinem Gott; ich bin der HERR. 33 Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. 34 Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der HERR, euer Gott.

Das also ist der Kompass für denjenigen, der aus der Heiligkeit Gottes heraus leben möchte. Das wird schon daran deutlich, dass diese „Du-sollst-Gebote“ immer wieder unterbrochen werden von: Ich bin der HERR, euer Gott!

Die Gebot wollen in der Beziehung zu Gott und aus ihr heraus gelesen und verstanden werden, entsprechend der Überschrift: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig!“

Dieses „In-Beziehung-zu-Gott-leben“ ist nicht sehr modern.

Und es ist vergiftet. Vergiftet durch ein Bild von Gott, das Gott mit Moral verwechselt. Mit schwarzer Pädagogik. Über Jahrhunderte hinweg wurde und wird Gott als verlängerter Arm einer autoritären Erziehung missbraucht.

Dass unsere jungen Menschen diesen Gott und die dahinter stehende Haltung ablehnen, ist verständlich und gut. So einen Gott braucht niemand!

Ganz davon abgesehen, dass er ohnehin eine Fiktion, ein Hirngespinst ist.

Wenn der aktuelle Bundeskanzler es ablehnt, bei seinem Amtseid den Zusatz „so wahr mir Gott helfe“ hinzuzufügen, so vermute ich, dass er genau dieses Bild eines autoritären persönlichen Gottes verinnerlicht hat und von ihm sich abwendet.

Was wir brauchen, ist, das Erleben eines Gottes, der uns frei lässt, indem er unsere Grenzen schützt. Der streng gegenüber unserer Destruktivität ist und liebevoll zu unseren Fehlern und Irrtümern.

Dies wäre so entlastend.

Es würde die eigene Verantwortung relativieren. In Bezug setzen. Und uns dadurch vor einem Gefühl des Überfordert-Seins schützen.

Ich allein kann nichts ausrichten. Aber ich muss auch nichts ausrichten.

Ich kann nur in Beziehung etwas bewirken. In Beziehung zu Gott und daraus fließend in Beziehung zu meinem Mitmenschen, zu meinem Nächsten.

„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“

Aktuell, in unserer von Spaltungen bedrohten Gesellschaft, heißt das:

Der Andere ist genauso ein Mensch wie du. Selbst wenn er noch so gegenteiliger Meinung ist wie du, vergiss nicht: Er hat genauso Gefühle wie du, er hat Wünsche, er hat Sehnsüchte, er blickt auf dieselbe Welt wie du – auch wenn er sie aus einer völlig anderen Perspektive sieht, wie du.

Es ist so verführerisch, „mit gleicher Münze zurückzuzahlen.“ Sich zu rächen für Erlittenes. Den Anderen zu diskreditieren, kurz zu „dissen“.

Das kannst du natürlich machen. Nur: Dann machst du dich abhängig vom Anderen, du re-agierst. Und damit ist es vorbei mit deiner Freiheit.

Gott aber, der dein Leben heiligt, hat dich dazu erschaffen, dass du in deiner Freiheit agierst. Dafür hat er dir seine Gebote gegeben – sie stärken dein seelisches Immunsystem und machen dich weniger anfällig dafür, von den gängigen gesellschaftlichen Spaltungen angesteckt zu werden.

Zum Abschluss möchte ich noch einmal eine chassidische Geschichte zu Wort kommen lassen. Sie stammt von Rabbi Mendel von Kossow und handelt davon, wie wichtig es ist, bei aller eigenen echten oder vermeintlichen Rechtschaffenheit die Menschlichkeit nicht zu vergessen.

Rabbi Mendel sagte: „Wenn du Deinen Nächsten einen Fehler begehen siehst, dann beschuldige ihn nicht, denk dir: ‚Nach welchen Ausreden würde ich suchen, um mich zu rechtfertigen?'“ Diese Rechtfertigung sollst du auch für ihn suchen und dich bemühen, ihn zu entschuldigen. Und so ist die Schrift zu verstehen: ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.'“

Oh – wie schön ist dieser jüdische Humor. Auch er ist heilig! AMEN.

Predigt über 3. Moses 19, 1-3. 13- 18. 33-34 am 13. Sonntag nach Trinitatis 2024 Weiterlesen »

Predigt am Israelsonntag 2024 über eine chassidische Geschichte

Am Tag der Zerstörung“

Liebe Gemeinde,

unser heutiger Sonntag heißt Israelsonntag. Gedacht als Erinnerungssonntag. Er steht zeitlich in Zusammenhang mit dem jüdischen Festjahr, und zwar dem 9. Aw. Aw ist in dem von Israel übernommenen babylonischen Kalender der 5. Monat im Jahr. (Er liegt zwischen Juli und August nach unserer Zählung.) Am 9. Aw erinnert sich die jüdische Gemeinde traditionell der Zerstörung des „ersten Tempels“ von Jerusalem 586 v.Chr., der Zerstörung des „zweiten Tempels“ 70 n.Chr., der blutigen Niederschlagung des Bar-Kochba-Aufstandes 135 n.Chr. und der Vertreibung der Juden aus Spanien 1492. Erst der Holocaust hat in unseren Tagen einen eigenen Gedenktag erfordert.-

Das sind alles keine schönen Erinnerungen, an denen wir heute in Solidarität mit unseren jüdischen Brüdern und Schwestern teilhaben. Hinzu kommen unsere eigenen Erinnerungen an Leid, das wir Anderen zugefügt haben und Leid, das wir selbst zu ertragen hatten. Und das alles gilt nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch und besonders für die Gegenwart: Es gibt keine Gegenwart ohne Leid in dieser Welt – ohne Leid, das wir zufügen – sei es Anderen, sei es uns selbst; – und ohne Leid das wir zu ertragen haben, das uns zugefügt wird.

Und wie geht die jüdische Gemeinde mit solch leidvollen Erinnerungen um?

Nun … – sie erzählen einander Geschichten. Dahinter steht die Idee, dass von Geschichten etwas Heilsames ausgehen kann. Vorausgesetzt, wir lassen uns mit Herz und Seele auf sie ein. Ansonsten bleibt es bei einer „erbaulichen“ Geschichte. Wellness ohne Tiefgang.

Ich möchte heute über eine Geschichte predigen, die gerne am 9.Aw erzählt wird. Martin Buber hat sie in seinen „Chassidischen Erzählungen“ gesammelt.

Sie lautet:

Am Tag der Zerstörung

Man fragte Rabbi Pinchas: ‚Warum soll, wie uns überliefert ist, der Messias am Jahrestag der Zerstörung des Tempels geboren werden?’

Das Korn’, sprach er, ‚das in die Erde gesät ist, muss zerfallen, damit die neue Ähre sprieße. Die kraft kann nicht auferstehen, wenn sie nicht in die große Verborgenheit eingeht. Gestalt ausziehen, Gestalt antun, das geschieht im Augenblick des reinen Nichts. In der Schale des Vergessens wächst die Macht des Gedächtnisses. Das ist die Macht der Erlösung. Am Tag der Zerstörung, da liegt die Macht auf dem Grunde und wächst. Darum sitzen wir an diesem Tag am Boden, darum gehen wir an diesem Tag auf die Gräber, darum wird an diesem Tag der Messias geboren.“

Man fragte Rabbi Pinchas so fängt die Geschichte an.

Es ist unüblich, dass „man“ fragt. Üblicherweise weiß „man“; was zu tun und zu lassen ist. „Man“ kennt den neusten Trend, „man“ weiß, was gerade angesagt ist. Wer keine Fragen stellt, will auch keine Antworten. Wird „man“ konfrontiert mit der Frage nach tieferem Sinn, wird „man“ gereizt. „Das macht man halt so“, ist die Nicht-Antwort. Man funktioniert ungedacht-routiniert, im Schwarm. Nur nicht auffallen! Nur nicht persönlich, nur nicht wesentlich werden!

Wenn unsere Geschichte mit „man fragte“ beginnt, ist das schon sehr ungewöhnlich. Wahrscheinlich hat es damit zu tun, dass von der Geburt des Messias erzählt wird.

Man ist immer auf der Suche nach einem „Messias“ – nach Einem, den man bewundern kann, einem Star. Auch hier geht es keinesfalls um Persönliches. Man schwimmt auf der Welle mit. Hauptsache, es gibt jemand, der die Welle in Gang bringt. Wer der Trendsetter ist, ist dem „Man“ völlig egal. Hauptsache er garantiert Gefühle von „Dazugehören“, „Dabeisein“, „mitschwimmen“ … und darin „hype“ sein. Von daher ist es völlig unverständlich, wenn die Geburt dieses Messias mit Zerstörung verbunden wird. Das versteht „man“ nicht. Und so kommt es zu der Frage:

Warum soll, wie uns überliefert ist, der Messias am Jahrestag der Zerstörung des Tempels geboren werden?

Natürlich drückt sich in der Frage des Man seine gelernte Art zu denken aus, wie „man eben denkt“: in Kausalität (warum), in Raum (Tempel) und in Zeit (am Jahrestag). Kausalität, Raum und Zeit sind durch „Zerteilungen“ (Spaltungen) entstanden. Diese sind Ausdruck keimend-differenzierenden Denkens: Das anfängliche „Ein und Alles“, in dem es „drunter und drüber“ (tohu wa bohu) geht, wird unterschieden in vorher und nachher, in innen und außen, in Ursache und Wirkung. So entsteht Ordnung. Ordnung, die davon lebt, dass das eine mit dem anderen nicht vermischt wird. Der Täter ist nicht das Opfer, innen ist nicht außen, vorher ist nicht nachher, rechts ist nicht links. In diese – auf den ersten Blick – scheinbar klare Ordnung hinein passt kein Denken, dem zufolge der Messias am Jahrestag der Zerstörung des Tempels geboren werden soll. Geburt des Messias ist Heil, ist Erlösung, ist Freude pur. Zerstörung des Tempels ist Zerstörung der Identität, ist Strafe, ist Trauer, ist Zusammenbruch. Beides „in eins“ zu denken gefährdet die mühsam errungene stabilisierende Ordnung, die „man braucht, um zu (über)leben“. Die vermeintliche Rettung ist das „Warum?“ zu verstehen. Wenn man weiß, warum, ist die vermeintliche Sicherheit wieder hergestellt. Also wird: „Warum?“ gefragt.

Ein weiterer Hinter-Grund für die „Warum?“-Frage ist eine gewisse Beunruhigung des „Man“. Was beunruhigt ist die „Überlieferung“. „Überlieferung“ ist Tradition – sie wird als Verbündeter des Man erwartet und gewertet: „Weil man das schon immer so gemacht hat…“ ist die Vermählung von Tradition und Man (Brauchtum). Das Man denkt und fühlt mit jeder Faser konservativ. Es kann mühelos und ohne einen Hauch von Beunruhigung alles Neue ignorieren, aus der schlichten Begründung heraus, dem Neuen fehle die Tradition. Oder auch: „Das passt nicht zu uns!“ Das Alte hingegen, das Überkommene, das Bewährte, „das, was schon immer so gewesen ist“, kann und soll nicht einfach weggewischt werden; das käme einer Revolution gleich und Revolutionen sind dem Man fremd. So fragt das Man: „Was soll diese Tradition, die die Zerstörung des Tempels mit der Geburt des Messias zusammen fügt?“)

Und der Rabbi antwortet:

„’Das Korn’, sprach er. ‚das in die Erde gesät wird, muss zerfallen, damit die neue Ähre sprießt.’“

Mit dieser Antwort hat man nicht gerechnet, kann man nicht gerechnet haben. Der Antwortende scheint in Gedanken nicht da zu sein. Hat er die Frage überhaupt gehört? Was hat „das Korn, das in die Erde fällt…“ mit der Zerstörung des Tempels zu tun? Und was hat Beides mit der Geburt des Messias zu tun?

Gute Antworten verbünden sich nicht mit den Fragen. Gute Antworten werden selbst zu Samenkörnern, tragen Wachstumsmöglichkeiten in sich. Gute Antworten machen satt, indem sie selbst „ungesättigt“ sind. Der Lehrer, der „Zaddik“, „tut nichts statt deiner, was du schon selber zu tun erstarkt bist;“ sagt Martin Buber. „Er nimmt deiner Seele keinen Kampf ab, den sie selber bestehen muss, um ihr besonderes Werk in der Welt zu vollbringen.“ Dies gelte auch und gerade „für die Beziehung zu Gott: Der Zaddik (Lehrer) hat seinen Chassisidim (Schüler) den unmittelbaren Zugang zu Gott zu erleichtern, nicht zu ersetzen.“1

(In Klammer: Es wäre günstig, wenn sich jede Pfarrerin und jeder Pfarrer am Beginn eines Gottesdienstes diesen Satz vor Augen führt! Er bewahrt nicht nur vor Überheblichkeit sondern auch vor unnötigem Druck! Und da solche Sätze gefährlich sind, wende ich ihn jetzt auf mich an. „Lothar, nimm dich nicht so wichtig!“)

Doch zurück zu unserer Geschichte: Rabbi Pinchas entkleidet die Frage ihrer kausalen Konkretheit und führt sie weiter – hinein in die dunkle Tiefe des Lebendigen selbst:

Das Korn muss zerfallen, damit die neue Ähre sprießt. Oder, anders gewendet: Die Kraft kann nicht auferstehen, wenn sie nicht in die große Verborgenheit hinein geht.“

Die heilsam-berührende Kraft hängt daran, wie weit sie das in der menschlichen Seele Verborgene erreicht. Hierfür muss sie in des Menschen Seele „hinein-gehen.“ Dieses „Hineingehen“ ist ein Hinabsteigen: „hinabgestiegen in das Reich des Todes.“ Das Reich des Todes ist das Reich der Dunkelheit des Nicht-Wissens. Nicht-Wissen, was meine Predigt-Gedanken bei Ihnen auslösen. Nicht-Wissen, woher diese Gedanken kommen. „Es geschieht“ – „es geschehen lassen““: das ist es, was uns Menschen mit unserem überdimensionierten Gehirn solche Mühe bereitet.

Wirklich Neues, das in sich die Potenz zur Fruchtbarkeit trägt, entsteht aus der Dunkelheit. Es bleibt dem hellen Licht des Verstandes verborgen. Diese Verborgenheit will ertragen werden. Sie wird so ertragen, dass ich mich selbst davon abhalte, das bekannte „Licht des Verstandes“ einzuschalten. Nur im Dunkeln kann das „Leben der Dunkelheit“ wahrnehmend erkannt werden. Der Mystiker Dionysios Pseudareopagita hat das Bild des „Strahles der Finsternis“ geprägt. Dieser Strahl leuchtet, indem die blendenden Suchscheinwerfer unserer Rationalität ausgeschaltet worden sind. Dies ist unser Beitrag auf dem Weg zur Erlösung. Er besteht in einem Nicht-Tun: In einem Vermeiden, den naheliegenden Verstand zu gebrauchen. Dagegen prostestiert der Verstand aufs Schärfste. Er erlebt dies als seine „Tötung“. Und er rächt sich mit energischer Abwertung. Was lernt ihr bei Euren Meistern? fragt ein Gegner der chassidischen Bewegung. „Nichts“ ist die lächelnde Antwort.

Und so fährt Rabbi Pinchas fort:

Gestalt ausziehn, Gestalt antun, das geschieht im Augenblick des reinen Nichts.

Das Weizenkorn zerfällt im dunklen Schoß der Mutter Erde. Solange es dazu nicht bereit ist, findet kein Wachstum, keine Entwicklung statt. Die Bereitschaft zum Zerfall, die Bereitschaft, sich von Gott für Gott zerstören zu lassen – dies ist wohl der schwierigste Schritt auf dem dunklen Weg des Wachsens in Gott hinein. Des Wachsens zum eigenen authentischen Selbst . „Reines Nichts“ macht Angst, panische Angst. Die Alten nennen es den „horror vacui“ – das Erschrecken des Erlebens, dass „Nichts“ ist.

Dieser Schritt – weil so schwierig – ist besonders anfällig für Selbst-Betrug. Dann wird ein Phönix aus der Asche „gezaubert“, an die Stelle zerstörerischer Verwandlung tritt die Statik von „Ausziehen“ und „Anziehen“, von Verschwinden und Dasein, von Tod und Auferstehung. Wenn am Karfreitag schon klar ist, dass übermorgen Ostersonntag ist, werden die Gefühle der Ungewissheit vermieden. An die Stelle eines je und je von Neuem zu durch-leidenden Prozesses tritt ein erstarrtes „Kippbild“. So wird der „Augenblick des reinen Nichts“ vermieden. So wird auch vermieden, wozu der Weg des lösenden Vergessens führt:

In der Schale des Vergessens wächst die Macht des Gedächtnisses.

Die Macht des Gedächtnisses entsteht in der Kraft des Sich-Erinnerns. Es ist das Nicht-Erinnerte, das scheinbar Nicht-Erinnerbare, das quält. Was nicht er-innert werden kann, kann nicht in die Person „hinein-genommen“ werden. Damit kann es nicht verdaut werden. Stattdessen blockiert und quält es gedächtnis- und gedankenlos. Eine nur scheinbare Befreiung ist das „Hinaus-Stoßen“, das im selben ein „Hinein-Stoßen“ in den „Anderen“ ist. So wird der Aus-Wurf zum Vor-Wurf an den Anderen.

Es geht um ein Wachsen der Erinnerung, des Gedächtnisses, der Sprache des Gedenkens, um es schließlich „gut sein lassen zu können“. (Beides stimmt: „gut sein lassen können“ und „gut sein lassen können“.) Die „Schale des Vergessens“ ist das „Containment“, innerhalb dessen der echte Los-Lösungsprozess sich vollzieht. Der bekannte Spruch: „Kaum ist Gras über etwas Schlimmes gewachsen, schon kommt ein Kamel und frisst es weg“ – ist das Gegenteil dessen, was hier gemeint ist. In der Schale des Vergessens wird nichts mehr zugedeckt; von daher bedarf es auch keines „zudeckenden“ Grases.

Im Gedächtnis – und nur darin – geschieht jene äußerst schmerzhafte „Ver-Wandlung“. Es ist die Vermeidung eben dieses Schmerzes, die vielen Menschen den Weg in die Freiheit blockiert. Die Macht des Gedächtnisses ist die Macht, das erlebte Leid, den erlebten Schmerz, „wieder“ zu sich zurückzunehmen. Und zwar so, dass anerkannt wird: Dies war mein Weg, gerade so und nicht anders. Indem ich damit einverstanden werde, indem ich aus tiefstem Herzen zu diesem meinen Weg ja zu sagen gelernt habe, kann ich endlich die quälend-blockierenden „Spaltungen“ in Täter und Opfer gut sein lassen. Endlich muss ich keine Schuldigen mehr suchen und auch keine Rache mehr üben für das mir Zugefügte. Ich muss auch nicht mehr beleidigt sein und mich zurück ziehen. Und schließlich muss ich mich nicht mehr schuldig fühlen für das Leid, was ich Anderen zufügte. Für dieses Geschehen gibt es ein traditionelles Wort, über das leicht zu predigen, das schwer zu leben ist: Das Wort heißt „Vergebung“!

„Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldiger!“

Auf dem Weg dieser doppelten Vergebung werde ich frei: Frei vor Gott. Frei für Gott.

Endlich, endlich kommt meine Seele nach Hause. Das Haus meiner Seele aber ist Gott selbst. In seinem Schoß ruhend lächelt sie ihrem Leben entgegen:

Die Seele ist auf ihren eigenen Grund gekommen:

Das ist die Macht der Erlösung.

Am Tag der Zerstörung, da liegt die Macht auf dem Grunde und wächst.

Darum sitzen wir an diesem Tag am Boden, darum gehen wir an diesem Tag auf die Gräber, darum wird an diesem Tag der Messias geboren. AMEN.

1Erzählungen der Chassidim, Zürich, S. 21.

Predigt am Israelsonntag 2024 über eine chassidische Geschichte Weiterlesen »

Predigt über Epheser 5, 8-14 am 8. Sonntag nach Trinitatis 2024

Liebe Gemeinde,

“ 8 … einst wart ihr Finsternis, jetzt aber ⟨seid ihr⟩ Licht im Herrn. Wandelt als Kinder des Lichts 9 – denn die Frucht des Lichts ⟨besteht⟩ in lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit –, 10 indem ihr prüft, was dem Herrn wohlgefällig ist.
11 Und habt nichts gemein mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis, sondern stellt sie vielmehr bloß!
12 Denn was heimlich von ihnen geschieht, ist selbst zu sagen schändlich.
13 Alles aber, was bloßgestellt wird, das wird durchs Licht offenbar;
14 denn alles, was offenbar wird, ist Licht. Deshalb heißt es: »Wache auf, der du schläfst, und stehe auf von den Toten!, und der Christus wird dir aufleuchten!“

Wie geht es Ihnen, wenn jemand so mit Ihnen spricht? Es sind die Gedanken unseres heutigen Predigttextes. Meine erste Reaktion darauf war:

Um Himmels willen. So lichtvoll fühle ich mich nicht!

Ja, bei genauerem Hinsehen/ Hinspüren merke ich: Mir machen diese Sätze eher Angst. Als Kind des Lichtes werde ich ja auf einmal sichtbar. Licht leuchtet.

Und wenn ich sichtbar bin, bin ich angreifbar, bin ich verletzbar.

Wenn ich sichtbar bin, stehe ich da. Einfach so.

Will ich das? Kann ich das?

Licht kann etwas Gnadenloses haben: jeder Flecken wird sichtbar, jede Falte, jedes graue Haar, jeder Pickel …

„Bei Licht besehen“, sagt man …

Was ist, wenn „bei Lichte besehen“ ich weit weniger gütig gelebt habe, als ich mir das einbildete?

Was ist, wenn „bei Licht besehen“ nicht nur meine Liebe leuchtet, sondern auch und gerade meine Enttäuschungen, mein Zorn, ja mein Hass?

Um Himmels willen, Paulus, was erwartest du da von mir, von uns?

Wo bleibt deine Barmherzigkeit, wo ist deine Milde, wo ist dein gütiges Lächeln angesichts von Fehlern, von Verfehlungen?

Wo bleibt deine Menschlichkeit?

Du lädst zu lichtvollem Leben ein, heißt es in fast jeder Predigt, die ich im Internet zu unserer Textstelle gefunden habe.

Ich tue mich schwer damit, in deinem Brief Einladendes zu finden. Ich erlebe ihn als fordernd – als mich in meinem Mensch-sein überfordernd!

Wenige Verse nach unserem Predigttext heißt es: „Und sauft euch nicht voll Wein, was zu Ausschweifung führt, sondern lasst euch vom Geist erfüllen.“

Ja, Paulus, du hast ja so recht!

Aber sonst hast du leider nichts, aber auch rein gar nichts.

Einem Alkoholiker zu sagen, er soll aufhören mit seiner Sauferei ist völlig sinnlos.

Einem notorischen Betrüger zu sagen, er soll aufhören zu betrügen, ist wirkungslos.

Der Punkt ist: Veränderung geschieht erst dann und erst in dem Moment, wo jemand

die Kraft hat, sich einzugestehen, wo er gerade steht. Was wirklich mit ihm los ist. Dies ist die größte Hürde.

Warum?

Warum fällt uns Menschen Veränderung bloß so schwer?

Ich weiß es auch nicht.

Ich vermute, es hat nicht mit Wissen zu tun, sondern mit Gefühlen.

Jeder Alkoholiker weiß, dass er sich mit maßlosem Alkoholkonsum nichts Gutes tut. Aber dieses Wissen allein hilft nicht. Es trägt nicht bei für eine wirkliche Veränderung.

Es bedarf einer anderen Kraft. Und diese Kraft muss von innen heraus, sie muss in dem Betroffenen selbst sein.

Er muss zu dem Punkt kommen zu sagen: „Ich habe die Schnauze so was von voll mit mit meiner Sauferei, oder Betrügerei, oder mit den Pornovideos und und und…“ „Ich will so nicht weiter leben!“

Es ist ein verbreiteter Irrtum zu meinen, irgend jemand „außerhalb“ des Betroffenen könne ihn dazu bewegen, sich zu ändern… Je mehr ich versuche, den Anderen zu verändern, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, mit ihm abhängig zu werden. Man nennt das dann „co-abhängig“.

Der Co-Abhängige „hängt“ an dem Abhängigen dran, versucht ihn dazu zu bewegen, sein Verhalten, seine Sucht aufzugeben.

Wozu alle beide nicht fähig sind, das ist: loszulassen, sich zu trennen.

Deshalb wirken Abhängigkeitsbeziehungen oftmals wie zementiert.

Alles erscheint besser, als sich zu trennen.

„Ich liebe ihn oder sie doch!“ sagt die/der Co-Abhängige.

„Nein – tust du nicht!“

Lieben beginnt nämlich damit, den Anderen sein zu lassen. Und das heißt, meine Erwartungen und Wünsche an ihn los zu lassen.

Einander lieben und einander brauchen schließen sich aus.

„Ohne dich kann ich nicht leben!“ ist kein Liebesgeständnis.

Es ist ein Abhängigkeitsgeständnis.

In der Tiefe weigere ich mich, meine Illusionen loszulassen.

Was der/die Andere doch für ein toller Mensch wäre, wenn er/sie nur nicht das und das machen würde …

Das mag sein. Aber die nüchterne Wirklichkeit lautet:

Es gibt ihn/sie nicht anders.

Entweder ich ertrage dich, so wie du bist – oder eben nicht.

Das setzt voraus, dass ich nicht länger in das Bild, das ich mir vom Anderen gemacht habe, verliebt bin.

„Lebt als Kinder des Lichts!“

Als Kind des Lichts habe ich zu sehen gelernt, wie „es“ wirklich ist – und nicht, wie ich „es“ mir wünsche, dass „es“ wäre.

Als Kind des Lichts habe ich akzeptiert, dass Licht und Schatten sich gegenseitig bedingen. „Wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten.“

Licht und Schatten gehören zusammen.

Gerade so wie Leben und Sterben zusammen gehören.

„On the sunny side of the street“ ist schön.

Der kühlende Schatten unter einem alten Baum ist auch schön.

Es kommt darauf an, wie es sich gerade anfühlt.

Es gibt keine Rezepte für ein gelingendes Leben.

Aber es gibt die Idee eines ganzheitlichen Lebens, in dem die scheinbaren Widersprüche, die zu diesem unseren Leben auf diesem Planeten nun mal dazu gehören, ausgehalten werden.

Indem ich dies erkenne, anerkenne und ertrage, werde ich keine „Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis“ haben. Es geht schlicht und einfach nicht mehr.

Hier ist es wesentlich zu unterscheiden: Die Finsternis ist nicht der Schatten des Lichts. Die Finsternis, von der Paulus hier spricht, ist vor aller Ordnung. Diese Finsternis kennt weder Licht noch Schatten. Es ist die „Urfinsternis“, die in Genesis 1 als „tohu wa bohu“ – als „drunter und drüber“ bezeichnet wird. Mit der Erschaffung des Lichtes ist auch der Schatten oder die Dunkelheit erschaffen: mit der Erschaffung des Tages auch die Nacht. Diese ist nur die andere Seite des Tages, so wie das Unbewusste die andere Seite des Bewussten ist.

Finsternis hingegen ist Chaos, das sich gegen jede Ordnung sträubt.

Finsternis ist Verwirrung, die verwirren möchte. Die sich gegen Ent-Wirrung sträubt.

Dunkelheit hingegen ist Noch-nicht-Wissen, das sich nach Helligkeit sehnt.

Zwischen Finsternis und Dunkelheit unterscheiden zu lernen bedeutet „aufwachen“. Der „Aufgewachte“ sieht und erlebt den direkten Zusammenhang zwischen Licht und Schatten, Leben und Tod, schlafen und wach sein, Yin und Yang. Dieses Aufwachen ist gleichbedeutend mit Erleuchtung. „Wach auf, du schläfst, und steh auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten.“ heißt es am Ende unseres Predigttextes. Paulus zitiert hier aus dem Alten Testament (Jesaja 60, 1) wo es heißt:

„Mach dich auf, werde licht; denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des Herrn geht auf über dir!“ Die Herrlichkeit des Herrn aber ist der „Glanz“ Gottes. Er findet sich in „allen“ Dingen. Glanz entsteht, wenn es gelingt einheitlich zu sehen. Einheitlich sehen bedeutet, mit beiden Augen das EINE Bild zu sehen. So entsteht Tiefe. Solange ich nur mit einem Auge sehe, kann ich keine Tiefe sehen. Es fehlt die dritte Dimension.

Die dritte Dimension ist das „Dazwischen“. Das Zwischen dem Guten und dem Bösen, Rechten und dem Linken, dem Richtigen und dem Falschen.

Im „Dazwischen“ erlebe ich Brücken.

Es sind Brücken „over troubled water“.

Brücken, die meine aufgewühlten Emotionen überbrücken, die mir ermöglichen, meine heftigen Gefühle zu erleben, ohne von ihnen mitgerissen zu werden.

Es sind Brücken, die mir ermöglichen, tolerant und akzeptierend zu meinem Nächsten zu sein, indem ich „seine andere Seite“ mitdenke, mit berücksichtige.

Es sind Brücken der Empathie und der Einfühlung in das mir Fremde.

Jemand der wirklich „aufgewacht“ ist, jemand, der eine Ahnung von der „Herrlichkeit des Herrn“ hat, jemand, der vom Glanz Gottes berührt wurde -: Er hat unsere vertraute Welt mit ihren vertrauten Bewertungen von gut und schlecht, annehmbar und unannehmbar, akzeptabel und inakzeptabel verlassen.

Dies ist die Welt der Mystik.

Der Mystiker weiß um die Unerkennbarkeit Gottes bzw. der Wahrheit, er weiß darum, dass Gott im Dunkeln wohnt. Und er weiß, dass Erkenntnis Gottes ein unverfügbares Geschenk ist, das sich weder machen noch festhalten lässt.

Und er weiß, dass jeder Mensch sein ganz eigenes Schicksal zu (er)tragen hat, seinen ganz eigenen Weg zu gehen hat.

Damit erübrigt sich die Idee des Missionierens.

Missionieren heißt in der Tiefe: Sei doch so wie ich; glaube so, wie ich glaube; lebe so, wie ich lebe.

Dahinter steht die Sehnsucht nach Verschmelzung mit dem Anderen.

Je näher mir jemand steht, desto schwerer fällt es mir logischerweise, ihn „sein zu lassen“. Ihn sein zu lassen heißt stets auch: ihn gehen zu lassen.

Ihn nicht länger mit meinen Wünschen und Erwartungen zu verfolgen.

„Saul, Saul, was verfolgst du mich?“ fragt der Auferstandene den Paulus. Das ist der Beginn seines berühmten Damaskus-Erlebnisses – mit dem wir uns in der letzten Bibelstunde beschäftigt haben. Es ist die Bekehrung, die „Umkehr“ des Paulus, die damit endete, dass aus dem „Saulus“ der „Paulus“ wurde. Zu dieser Umkehr gehörte auch, dass Paulus mit Blindheit geschlagen war. Das ist ein Zeichen für wirkliche tiefgreifende Veränderung.

Echte Veränderung geht notwendig einher mit Gefühlen der Katastrophe.

Wirklich Neues ist unbekannt, unvertraut. Das macht Angst. Und was mir Angst macht, das mag ich nicht. Ich möchte in meiner vertrauten Komfortzone bleiben.

Wer es aber wagt, diese Gefühle des Neuen, des Katastrophalen zu durchleben, dem geht ein Licht auf, oder es fällt ihm etwas „wie Schuppen von den Augen.“ (So wird in der Apostelgeschichte die „Bekehrung“ des Paulus beschrieben.)

Und auch dies lässt sich nicht festhalten. Umkehr oder Bekehrung ist kein einmaliger Akt. Ganz einfach deshalb, weil wir Menschen keine Maschinen sind, die Schalter haben. Schalter, die man bloß umlegen müsste, und dann ist alles anders. Die Briefe des Paulus zeigen auch, wo Paulus „ganz der Alte“ geblieben ist: Der alte Verfolger, der sehr hart und empört sich über seine Mit-Menschen äußern kann. Insbesondere dann, wenn sie offenkundig nicht so leben, wie er sich das vorstellt.

Ich vermute, das kennen wir alle auch.

Und daneben steht:

„Lebt als Kinder des Lichts!“

Traut Euch!

Werdet deutlich!

Werdet spürbar in Eurem Streben nach Wahrheit, nach Gerechtigkeit, nach Güte.

Nicht als Appell.

Wohl aber als Ermutigung zu einem Leben in Freiheit und Freude, in dem der Glanz Gottes seine Kinder des Lichtes umhüllt.

Und wenn Sie sich jetzt denken, ja, schon, klingt schon gut, aber so geht Leben doch nicht. Und überhaupt, wo kämen wir denn da hin? Wo kämen wir hin, wenn wir wirklich als Kinder des Lichts leben würden?

Ein Gedicht von Kurt Marti gibt Antwort:

„Wo kämen wir hin,

wenn jeder sagte,

wo kämen wir hin

und keiner ginge,

um zu sehen,

wohin wir kämen,

wenn wir gingen. AMEN.

Predigt über Epheser 5, 8-14 am 8. Sonntag nach Trinitatis 2024 Weiterlesen »

Predigt über 1. Samuel 24, 1-20 am 4. Sonntag nach Trinitatis 2024

Der Historiker und Journalist Rutger Bregman hat unter dem Titel

„Im Grunde gut“ eine „neue Geschichte der Menschheit“ geschrieben. Es ist eine Art Gegenentwurf zu Hararis Bestseller „Eine kurze Geschichte der Menschheit“, in der er mit vielen Beispielen veranschaulicht, welche eine Spur der Verwüstung das Lebewesen „Mensch“ – seit es auf der Bühne der Erde aufgetaucht ist – nach sich gezogen hat.

Bregman stellt die westeuropäische, durch Augustins Erbsündenlehre maßgeblich beeinflusste autorisierte Denktradition, derzufolge der Mensch böse sei – und zwar „von Mutterleibe an“, in Frage. Er weist darauf hin, dass wirklich Bösartiges in der menschlichen Geschichte immer nur von sehr wenigen bösartigen Menschen ausging. Das Problem sei, dass sie Meister der Manipulation, der Verführung sogenannter „gutgläubiger“ Menschen sind.

Ein Beispiel aus Bregmans Buch: Der Roman „Herr der Fliegen“ ist ein Weltbestseller geworden. Er handelt von der Grausamkeit von Jugendlichen, die auf einer einsamen Insel gestrandet sind. Dazu , so Bregman, gibt es eine wahre Geschichte. In der wahren Geschichte stranden ebenso Jugendliche auf einer Insel, und sind sich selbst überlassen. Und es gelingt ihnen für zwei Jahre so gemeinsam zu leben und zu überleben, dass kein Mord geschieht. Im Gegenteil: Sie helfen zusammen, bauen Getreide und Früchte an. Wenn es Streitigkeiten gibt, werden die Betroffenen von einander getrennt, sie müssen eine Zeit lang in großer räumlicher Distanz verbringen, bis sich die Wogen geglättet haben. Dies, so Bregman, sei die wahre Geschichte vom „Herrn der Fliegen“.

In unserem heutigen Predigttext geht es um Versöhnung. Das Wort kommt nicht von „Sohn“ – sondern von Sühne. Es bedeutet so was wie: „Es gut sein lassen“, „loszulassen“, erleben zu können: „Es ist vorbei. Der/die Andere schuldet mir nichts mehr“. Mit dem schönen Nebeneffekt: „Ich bin frei!“ Sätze wie: „Das hätte nicht passieren dürfen!“, „Wie konnte der/die Andere mir das antun?! Auch: „Was war/bin ich doch für ein unmöglicher Mensch!“ haben nur einen Zweck: An dem Geschehenen festzuhalten.

Versöhnung: Die etymologische Herkunft des Wortes „Sühne“ ist unklar. Über den Gedanken des „Sühnopfers“ gibt es eine Verbindung zu Sterben und Tod. Dahinter steht eine tiefe Wahrheit: Indem ich aufhöre, den/die Andere(n) mit meinem Hass und mit meinen Rachegelüsten zu verfolgen, füttere ich diese Emotionen nicht länger; und wenn ich aufhöre sie zu füttern, werden sie allmählich verhungern. Wie elend sich das anfühlt können Sie beim Heiligen Johannes vom Kreuz nachlesen. Es sind die Gefühle der (drei) dunklen Nächte der Seele.

Versöhnung ist – anders als Vergebung – ein Geschehen, das nur in Beziehung mit einem Anderen, einer Anderen möglich ist. Um Versöhnung erleben zu können, benötige ich ein Du. Wenn der/die Andere nicht dazu bereit ist, ist Versöhnung unmöglich.

Ganz anders ist es bei der Vergebung: Die Bitte im Vaterunser: „Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ kann ich jederzeit verwirklichen, ohne dass ich meine Schuldiger dazu benötige. Vergeben geschieht aus mir heraus!

In unserer Geschichte geht es um Saul, dem ersten König des Volkes Israel und um David, von Beruf Schafhirte und Harfenspieler, Saul repräsentiert Macht und Brutalität. David repräsentiert Intelligenz und Besonnenheit. Und in unserer Geschichte die Kraft, seine eigenen aggressiven Impulse zu hemmen. Ihnen nicht nachzugeben.

Unser heutiger Predigttext ist ein Ausschnitt aus den Geschichten von Saul und David. David – zunächst von Saul protegiert – war dem König zu mächtig geworden. Er war beliebt beim Volk und damit gefährlich für den Erhalt der Macht von Saul geworden. So versucht Saul, David zu töten. Aber immer wieder muss Saul gegen die Philister kämpfen und verunmöglichen eine wirkungsvolle Verfolgung und Beseitigung von David. David war auch nicht untätig geblieben: Er hatte Männer um sich gesammelt, eine Art Privatarmee. Diese zog durch die Lande und verdingte sich, wo sie gebraucht wurde. (Eine moderne Form dieser „Privatarmee“ ist die russische Gruppe „Wagner“.)

Unser Predigttext beginnt mit der zufälligen Begegnung von Saul und David in der Oase En Gedi.

1 Und David zog von dort hinauf und blieb in den Bergfesten bei En-Gedi. 2 Als nun Saul zurückkam von der Verfolgung der Philister, wurde ihm gesagt: Siehe, David ist in der Wüste En-Gedi. 3 Und Saul nahm dreitausend auserlesene Männer aus ganz Israel und zog hin, David samt seinen Männern zu suchen bei den Steinbockfelsen. 4 Und als er kam zu den Schafhürden am Wege, war dort eine Höhle, und Saul ging hinein, um seine Füße zu decken[1]. David aber und seine Männer saßen hinten in der Höhle. 5 Da sprachen die Männer Davids zu ihm: Siehe, das ist der Tag, von dem der HERR zu dir gesagt hat: Siehe, ich will deinen Feind in deine Hand geben, dass du mit ihm tust, was dir gefällt. Und David stand auf und schnitt leise einen Zipfel vom Rock Sauls. 6 Aber danach schlug ihm sein Herz, dass er den Zipfel vom Rock Sauls abgeschnitten hatte, 7 und er sprach zu seinen Männern: Das lasse der HERR ferne von mir sein, dass ich das tun sollte und meine Hand legen an meinen Herrn, den Gesalbten des HERRN; denn er ist der Gesalbte des HERRN. 8 Und David wies seine Männer mit diesen Worten von sich und ließ sie sich nicht an Saul vergreifen. Als aber Saul sich aufmachte aus der Höhle und seines Weges ging, 9 machte sich danach auch David auf und ging aus der Höhle und rief Saul nach und sprach: Mein Herr und König! Saul sah sich um. Und David neigte sein Antlitz zur Erde und fiel nieder.  10 Und David sprach zu Saul: Warum hörst du auf das Reden der Menschen, die da sagen: David sucht dein Unglück? 11 Siehe, heute haben deine Augen gesehen, dass dich der HERR heute in meine Hand gegeben hat in der Höhle, und man hat mir gesagt, dass ich dich töten sollte. Aber ich habe dich verschont; denn ich dachte: Ich will meine Hand nicht an meinen Herrn legen; denn er ist der Gesalbte des HERRN. 12 Mein Vater, sieh doch hier den Zipfel deines Rocks in meiner Hand! Dass ich den Zipfel von deinem Rock schnitt und dich nicht tötete, daran erkenne und sieh, dass nichts Böses in meiner Hand ist und kein Vergehen. Ich habe mich nicht an dir versündigt; aber du jagst mir nach, um mir das Leben zu nehmen. 13 Der HERR wird Richter sein zwischen mir und dir und mich an dir rächen, aber meine Hand soll nicht gegen dich sein; 14 wie man sagt nach dem alten Sprichwort: Von Frevlern kommt Frevel; aber meine Hand soll nicht gegen dich sein. 15 Wem zieht der König von Israel nach? Wem jagst du nach? Einem toten Hund, einem einzelnen Floh! 16 Der HERR sei Richter und richte zwischen mir und dir und sehe darein und führe meine Sache, dass er mir Recht schaffe und mich rette aus deiner Hand! 17 Als nun David diese Worte zu Saul geredet hatte, sprach Saul: Ist das nicht deine Stimme, mein Sohn David? Und Saul erhob seine Stimme und weinte 18 und sprach zu David: Du bist gerechter als ich, du hast mir Gutes erwiesen; ich aber habe dir Böses erwiesen. 19 Und du hast mir heute gezeigt, wie du Gutes an mir getan hast, als mich der HERR in deine Hand gegeben hatte und du mich doch nicht getötet hast. 20 Wo ist jemand, der seinen Feind findet und lässt ihn im Guten seinen Weg gehen? Der HERR vergelte dir Gutes für das, was du heute an mir getan hast! 21 Nun siehe, ich weiß, dass du König werden wirst und das Königtum über Israel in deiner Hand Bestand haben wird. 22 So schwöre mir nun bei dem HERRN, dass du mein Geschlecht nach mir nicht ausrotten und meinen Namen nicht austilgen wirst aus meines Vaters Hause. 23 Und David schwor es Saul. Da zog Saul heim. David aber mit seinen Männern zog hinauf auf die Bergfeste.

Lied 495, 4-6

Ihr Lieben,

zwei Punkte möchte ich herausgreifen:

Erstens: Dass David keinen Mord begeht, dass er über die Kraft verfügt, sich zu hemmen, dies verdankt er seiner Beziehung zu Gott. Das lasse der HERR ferne von mir sein, dass ich das tun sollte und meine Hand legen an meinen Herrn, den Gesalbten des HERRN; denn er ist der Gesalbte des HERRN. Oder, etwas nüchterner ausgedrückt: Die letzte Instanz für David ist nicht seine „gottlose“ Selbst-Gerechtigkeit sondern Gottes Gerechtigkeit.

„Gott sitzt im Regimente“ hat Paul Gerhardt in dem Lied „Befiehl du deine Wege“ gedichtet.

„Auf, auf, gib deinem Schmerze und Sorgen gute Nacht,

lass fahren was das Herze betrübt und traurig macht;

bist du doch nicht Regente, der alles führen soll,

Gott sitzt im Regimente und führet alles wohl.“

Diese Gedanken nicht nur denken sondern erleben zu können, ist meines Erachtens ein sehr wirksamer Schutz gegen depressive Verstimmungen. Die einzige Nebenwirkung dieser Art des Schutzes sind jene Gefühle, die damit hadern, dass ich meinen vermeintlich „gerechten“ Zorn ins Leere laufen lasse. Die mir einflüstern: „Das darfst du dir nicht bieten lassen!“ Diese Gefühle bei mir zu halten, ihnen kein Futter geben: darin sehe ich meine alltägliche Aufgabe als Mensch und als Christ. Das heißt anders herum, dass ich meinen Missmut, mein Gereizt-Sein so weit ich kann, bei mir halte, es ertrage. Es ist übrigens nichts anderes als das „Murren“ des hungrigen Volkes der Israeliten in der Wüste.

Zweitens: Versöhnung geschieht im Augenblick, Versöhnung ist ein Geschehen der Gegenwart. Damit hängt zusammen, dass es keinen dauerhaften Frieden auf dieser Welt gibt und auch nicht geben kann. Das Bestmögliche sind Augenblicke der Versöhnung, der Befriedung. Wir haben eine siebzigjährige Friedenszeit erlebt, deren Fortdauer aktuell in großer Gefahr ist.

In unserer Geschichte gelingt es David, Saul mit seinen friedlichen Absichten zu erreichen. Saul ist berührt davon. Durch dieses Berührt-Sein kann Saul kurzzeitig über den Tellerrand seines Hasses hinaus schauen. David sagt, wem jagst du eigentlich nach? Einem einzelnen Floh? Einem toten Hund? Damit meint er: Du jagst Hirngespinsten nach. Die Wirklichkeit ist: Ich tue dir nichts. Ich erkenne dich, deine Position als meinen von Gott erwählten König an. Es ist Sauls Paranoia, die ihn dazu geführt hat, David zu ermorden. Indem er diese erkennt, kann er von seinem Hass auf David ablassen.

Die eigene Paranoia, die eigenen paranoiden Gefühle als „meine eigenen“ zu erkennen, setzt allerdings die Bereitschaft und Fähigkeit voraus, sich selbst über die Schulter zu schauen. Erst dann wird es möglich, den Balken dort zu sehen, wo er wirklich ist: im eigenen Auge. Erst und nur indem ich meine Projektionen als Projektionen durchschaue, kann ich sie zu mir zurücknehmen. Und muss meine Mitmenschen nicht länger damit behelligen.

Liebe Gemeinde,

zu lernen, die eigenen destruktiven Impulse zu hemmen, sehe ich als die einzige Chance für unser Überleben als Lebewesen, die die Bezeichnung „Mensch“ verdienen. Wir leben in einer Zeit, in der Hemmungslosigkeit mit Mut, Übergriffigkeit mit Stärke verwechselt wird. Ja – wir alle sind „hemmungslos“ auf die Welt gekommen, als Babys sind wir heftigsten Emotionen ausgeliefert gewesen. Und wenn wir Glück hatten, durften wir Eltern erleben, die unsere „ungehaltenen“ Gefühle ausgehalten haben, uns getröstet haben, und uns materiell wie emotional genährt haben. So hat sich in unserer Seele sehr allmählich eine Art Schutzmantel entwickelt, der uns vor destruktiven Impulsen – und zwar sowohl diejenigen, die von außen kommen, als auch die, die von mir selber kommen – schützt. Wenn wir Pech hatten, und (zu)viel von den ungehaltenen destruktiven Emotionen unserer Eltern und Erzieher abbekommen haben, dann ist es um so dringender zu lernen, wie ich mir so einen „Schutzmantel“ selber nähen kann. Dazu gehört auch, den Mut aufzubringen, mir Hilfe zu holen.

In einer Geschichte, deren Autor ich nicht kenne, wird dieser Schutz als „Sieb“ bezeichnet. Die Geschichte geht so:

Die drei Siebe

Zum weisen Sokrates kam einer gelaufen und sagte: „Höre Sokrates, das muss ich dir erzählen!“

„Halte ein!“ – unterbrach ihn der Weise, „Hast du das, was du mir sagen willst, durch die drei Siebe gesiebt?“

„Drei Siebe?“, frage der andere voller Verwunderung. „Welche drei Siebe?“

„Ja guter Freund! Lass sehen, ob das, was du mir sagen willst, durch die drei Siebe hindurchgeht: Das erste ist die Wahrheit. Hast du alles, was du mir erzählen willst, geprüft, ob es wahr ist?“

„Nein, ich hörte es erzählen und…“

“ So, so! Aber sicher hast du es im zweiten Sieb geprüft. Es ist das Sieb der Güte. Ist das, was du mir erzählen willst gut?“

Zögernd sagte der andere: „Nein, im Gegenteil…“

„Hm…“, unterbracht ihn der Weise, „So lass uns auch das dritte Sieb noch anwenden. Ist es notwendig, dass du mir das erzählst?“

„Notwendig nun gerade nicht…“

„Also“ sagte lächelnd der Weise, „wenn es weder wahr noch gut noch notwendig ist, so lass es begraben sein und belaste dich und mich nicht damit.“

(Gelesen in: Jung im Kopf: Erstaunliche Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden von Martin Korte)

Ich wünsche Ihnen und mir, dass wir lernen, in unserem alltäglichen Miteinander von diesen drei Sieben Gebrauch zu machen. Ein wichtiges Hilfsmittel ist dabei der Gedanke: Nicht ich bin der Regente – sondern „Gott sitzt im Regimente!“

Oder mit Theresa von Avila: „Gott allein genügt!“ AMEN.

Predigt über 1. Samuel 24, 1-20 am 4. Sonntag nach Trinitatis 2024 Weiterlesen »

Predigt über Epheser 2, 17 – 22 (2. Sonntag nach Trinitatis 2024)

„Komm, wer immer du bist,

Wanderer, Götzenanbeter, den Abschied Liebender.

Es spielt keine Rolle.

Dies ist keine Karawane der Verzweiflung.

Komm, auch wenn du deinen Schwur tausendfach gebrochen hast.

Komm, komm, noch einmal: KOMM!“

Dies ist die Grabinschrift des großen islamischen Mystikers Rumi.

„Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will Euch erquicken!“

Dies ist der Wochenspruch für die vor uns liegende Woche, er findet sich im Matthäusevangelium.

Beide Male geht es um eine Einladung.

„Komm!“

Es ist eine Einladung ohne Vorbedingungen, ohne Drohung, ohne Ausschluss.

Rumi schließt niemand aus: „Wer auch immer du bist!“

Ebenso Jesus: „Kommt her zu mir, alle, …“

Diese Einladung umrahmt unseren heutigen Gottesdienst.

Und natürlich freue ich mich, dass Ihr alle gekommen seid.

Und natürlich gibt es jene, die nicht gekommen sind. Warum auch immer.

Davon handelt das heutige Evangelium, das „Gleichnis vom großen Gastmahl“: Nicht Gott schließt die Menschen aus. Es ist genau anders herum. Die Menschen schließen Gott aus. „Einer nach dem Anderen fing an sich zu entschuldigen…“ Und wie reagiert Gott als Gastgeber? Na ja: nicht gerade souverän. Er wird zornig und sagt beleidigt: Dann halt nicht! So kommen die Armen, körperlich Beeinträchtigten in den Genuss des Gastmahles. Das finde ich schwierig: Sie sind also bloß die zweite Wahl. Lückenbüßer!Ist das echte Integration?

Sie kennen das. Ich könnte mich jetzt darüber ausbreiten, wie wenig Menschen heutzutage noch in die Kirche, zum Gottesdienst kommen. Wie viele aus der Kirche ausgetreten sind. Und dass das der Grund ist, dass die Petruskirche sich nicht mehr rechnet…

Und was bringt das?

Es bringt eine gewisse Entlastung. Es ist die Entlastung, die ich bekomme, wenn ich mich empöre.

Es ist nicht die Leichtigkeit, die mir geschenkt wird, wenn ich mich auf das, was ist, einlasse.

Und was ist?

Dass wir jetzt hier gemeinsam Gottesdienst feiern dürfen.

Sich einlassen ist stets auch ein Loslassen. Loslassen von all dem, was mich auch noch beschäftigt.

Und jetzt lassen wir uns auf einen alten Text ein, den heutigen Predigttext.

Es ist ein Abschnitt aus dem Epheserbrief des Paulus, Kapitel 2, 17 – 22. Ich lese ihn erst einmal vor:

17 Und er ist gekommen und hat im Evangelium Frieden verkündigt euch, die ihr fern wart, und Frieden denen, die nahe waren. 18Denn durch ihn haben wir alle beide in einem Geist den Zugang zum Vater.

19 So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen, 20erbaut auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist, 21auf welchem der ganze Bau ineinandergefügt wächst zu einem heiligen Tempel in dem Herrn. 22Durch ihn werdet auch ihr mit erbaut zu einer Wohnung Gottes im Geist.

Ihr Lieben,

„und er ist gekommen und hat im Evangelium Frieden verkündigt euch, die ihr fern wart, und Frieden denen, die nahe waren.“

Mit anderen Worten: Es wird dir nicht vorgerechnet, was du getan hast, wo du gewesen bist, bevor du dich als Christ bekannt hast.

Deine Vergangenheit war so, wie sie war. Sie ist nicht mehr zu verändern. Aber – und: Du wirst darauf nicht fest geschrieben. Was zählt, ist nicht wer du warst. Was zählt ist, wer du bist. Hier und jetzt.

Komm, wer auch immer du bist, komm …!

Ein kleiner historischer Exkurs zum Verständnis des Textes:

Durch die Ausbreitung der Botschaft Jesu war das Problem entstanden, was eigentlich mit denjenigen Menschen ist, die Jesus als den Christus bekennen und nicht jüdischen Glaubens sind. Sind das „Gläubige zweiter Klasse“? Paulus ist an dieser Stelle ganz klar. Nein, sind sie nicht. Und es ist auch nicht nötig, dass sie sich beschneiden lassen. Die Taufe genügt.

Die Beschneidung ist nichts, und das Unbeschnittensein ist nichts“, sagt Paulus im ersten Korintherbrief. „Sondern das Halten der Gebote.“ (1. Korinther 7, 19)

Im Halten der Gebote Gottes wird jener Friede verwirklicht, der höher ist als unsere Vernunft. Im Halten der Gebote Gottes „sitzt Gott im Regimente“, wie es in dem Lied „Befiehl du deine Wege“ (EKG 361, 7) von Paul Gerhardt heißt:

Auf, auf, gib deinem Schmerze und Sorgen gute Nacht,

lass fahren was das Herz betrübt und traurig macht;

bist du doch nicht Regente, der alles führen soll,

Gott sitzt im Regimente und führet alles wohl.

In Klammer: Diese Strophe immer wieder zu meditieren könnte ein sehr wirksames Antidepressivum sein! Besonders der Vers: „Bist du doch nicht Regente … !“

Und zu diesem Gott, den Paulus den „Vater“ nennt, haben wir jetzt alle gleichermaßen Zugang, sagt Paulus.

„Komm, wer immer du bist,

Wanderer, Götzenanbeter, den Abschied Liebender.

Es spielt keine Rolle.“

Der Zugang zum Vater geschieht durch EINEN Geist, sagt Paulus.

Diese Gedanken durchweht ein Geist der Freiheit und der Gleichberechtigung.

Wir alle sind nicht länger „Fremde“. Wir sind „Gottes Hausgenossen“.

Das macht uns aus. Das ist unsere Identität.

Wir wohnen im Haus Gottes!

Das ist das einzige, was zählt. Nicht unsere sogenannte „Konfessionalität“. Auf dieser Ebene gibt es kein evangelisch oder katholisch. Auch kein islamisch oder buddhistisch. Oder jüdisch.

Auf dieser Ebene geht es um unser Mensch-Sein vor Gott.

Das in jedem Augenblick erlebbar ist.

Es genügt, auf den eigenen Atem zu lauschen.

Und es genügt, sich bewusst zu machen, auf welchem Boden ich stehe. Was ist die Grundlage meines Denkens?

„Ihr seid aufgebaut auf der Grundlage der Apostel und Propheten … mit Jesus Christus als Eckstein.“

Es ist eben jener Christus Jesus, der getötet worden ist. Es ist eben jener Eckstein, den die „Bauleute verworfen haben“ (Lukas 20, 17b). Das Abgelehnt-Werden gehört zu dieser Art Grundstein wesentlich dazu. Das Nicht-Erwünscht-Sein. Nicht wenige Propheten und Mystiker, auch Wissenschaftler können ein Lied davon singen. Der Heilige Johannes vom Kreuz saß zwei Jahre im Gefängnis, Meister Eckhart entkam dem Kirchenbann nur dadurch, dass er vorher starb. Und Paulus selbst starb in Rom den Märtyrertod. Martin Luther King wurde ermordet, Nelson Mandela wurde eingesperrt, Galileo Galilei musste widerrufen, um der Todesstrafe zu entgehen. Diese Reihe lässt sich beliebig verlängern. Die Wahrheit bzw. Wirklichkeit ist nicht beliebt bei uns Menschen. In einer einer chassidischen Geschichte heißt es:

„Der Baalschem sprach: ‚Was bedeutet das, was die Leute sagen: Die Wahrheit geht über die ganze Welt? Es bedeutet, dass sie von Ort zu Ort verstoßen wird und weiterwandern muss.'“

Also – noch einmal: „Ihr seid aufgebaut auf der Grundlage der Apostel und Propheten … mit Jesus Christus als Eckstein.“ Ihr seid aufgebaut – und Ihr bleibt aufgebaut – da können noch so viele Kirchen geschlossen werden. Ihr seid nicht aufgebaut auf dem evangelisch-lutherischen Landeskirchenamt, auch nicht auf dem römischen Papsttum. Ihr seid aufgebaut auf dem Eckstein Christus Jesus, in der Gemeinschaft der Heiligen. Und als solche seid Ihr „nicht mehr Fremdlinge“ sondern ihr seid „Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen!“

Das erscheint mir als der wirksamste Trost!

Mein lieber Kollege, Herr Pfarrer Müller, hat das letzte Woche so schön gepredigt. Er hat von der Katastrophe und von der Zuversicht gesprochen. Und er war sich nicht sicher, ob unsere Zuversicht als Christen ein wirklicher Trost oder eher eine Vertröstung ist.

Ja, die Petruskirche wird entwidmet werden. Ich weiß nicht, wie es dann weiter geht. Wem oder was sie dann gewidmet wird. Fest steht: Sie ist dann nicht mehr dem Erleben Gottes in der ökumenischen Gemeinschaft gewidmet.

Das finde ich sehr traurig. Und für manchen von uns – vermute ich – ist es auch sehr ärgerlich.

Beidem ist Raum zu geben.

Vertröstung ist, wenn ich versuche, mir und/oder Anderen einzureden: „Ist doch nicht so schlimm!“ „Wird schon wieder!“

Doch – es ist schlimm.

Und – es ist, was es ist.

Wir erleben exemplarisch an und mit der Petruskirche, dass etwas zu ende geht. Etwas, was gut war und gut ist. Ich bin so gerne bei Euch, weil hier ein lebendiger Geist weht.

Und nun wird sie geschlossen. Entwidmet. Das ist gleichsam die Gegenbewegung dazu, was Paulus am Ende unseres Textes schreibt: In Christus Jesus als Eckstein „wächst der ganze Bau zu einem heiligen Tempel im Herrn.“ Hier wächst kein „heiliger Tempel“ – er wird vielmehr „entwidmet“. „Die Petruskirche war mit 42 Jahre Heimat“, hat mir jemand geschrieben. In ihrer Entwidmung geht jetzt Heimat verloren. Da ist nichts schön zu reden.

Aber – der letzte Satz von Paulus hat noch einen zweiten Teil:

„Ihr werdet mit aufgebaut zu einer Behausung Gottes im Geist.“ Gemeint ist natürlich der Heilige Geist. Die „Behausung Gottes im Heiligen Geist“ ist überall auf dieser Welt möglich. Sie ist immer da. Sie kann gar nicht verschwinden. Wir müssen sie bloß sehen.

Der Historiker und Journalist Rutger Bregman hat unter dem Titel

„Im Grunde gut“ eine „neue Geschichte der Menschheit“ geschrieben. Er stellt die westeuropäische, durch Augustins Erbsündenlehre maßgeblich beeinflusste Denktradition, derzufolge der Mensch böse sei – und zwar von Mutterleibe an, in Frage. Er weist darauf hin, dass wirklich Bösartiges in der menschlichen Geschichte immer nur von sehr wenigen bösartigen Menschen ausging. Das Problem ist, dass sie Meister der Manipulation, der Verführung der „gutgläubigen“ Menschen gewesen sind. Es ist dieselbe Verführung, die die Israeliten in der Wüste dazu brachte, ihr ganzes Geschmeide herzugeben und davon ein „goldenes Kalb“ machen zu lassen.

Es ist die Verführung, den Gott des Lebens durch einen toten Gott, durch einen Götzen zu ersetzen.

Und was verführt uns Menschen immer wieder dazu, uns dem Unlebendigen zuzuwenden?

Ich denke, zunächst mal sind es Sehnsüchte nach einem starken Führer. Wenn ich mich ihm anschließe, dann verleiht mir das ein Gefühl der Sicherheit.

Und dann kommen noch zwei wesentliche Gefühle dazu:

Das eine ist Angst – das andere ist Hass.

Es ist die Angst vor dem Lebendigen und der Hass auf Lebendiges. Es ist die Angst vor dem unverfügbaren Gott, dessen Geist „weht, wo er will, und du hörst ein Sausen, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht.“ (Johannes 3, 8)

Es ist die Angst vor dem Kontrollverlust. Leben lässt sich nicht kontrollieren. Jeder, der mit Kindern lebt oder gelebt hat, weiß das.

An einen lebendigen Gott zu glauben heißt, an einen unverfügbaren Gott zu glauben. Der sich meinen Denk-Traditionen und Denk-Schemata entzieht. Der sich nicht in Formen pressen lässt, der sich nicht an Regeln und Erwartungen hält.

Es ist ein freier Gott.

Und ein freier Gott ist ein undogmatischer Gott.

Sich ihm hinzugeben würde genügen.

Sich ihm hinzugeben hieße: „Es gut sein zu lassen!“

Hieße zu akzeptieren: Nicht ich bin der Regent meines Lebens (und des Lebens der Anderen. Sondern: Gott sitzt im Regimente.

Oder, mit Theresa von Avila: „Solo dios basta“. „Gott allein genügt.“

Oder auf bayrisch: „Mehr sog i ned!“ AMEN!

Predigt über Epheser 2, 17 – 22 (2. Sonntag nach Trinitatis 2024) Weiterlesen »

Predigt über Hesekiel 37, 1 – 14 an Pfingsten 2024

(Die Predigt wurde auf dem Hintergrund der bevorstehenden „Entweihung“ der Petruskirche gehalten.)

Ihr Lieben!

Pfingsten gilt als Geburtstag der Kirche.

Und Pfingsten ist das Fest der Ausgießung des Heiligen Geistes.

Pfingsten ist also einerseits ein Geburtstagsfest, bei dem wir singen können:

„Wie schön, dass du geboren bist, wir hätten dich sonst sehr vermisst!“

Pfingsten ist andererseits ein Abschiedsfest:

Die Ausgießung des Heiligen Geistes ist die Folge der Rückkehr Jesu zu seinem Vater. Für seine ersten Jünger bedeutete diese Rückkehr ein Verlassen-Werden. Ein Zurück-Gelassen-Werden. Weil dieses Geschehen des Verlassen-Werdens mit sehr schmerzhaften Gefühlen verknüpft ist, sagt Jesus: Aber ich lasse „Euch nicht verwaist zurück“. Der Trost, den Jesus ankündigt, ist der Trost des Heiligen Geistes. Es ist der „Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht sieht noch ihn kennt.“ (Johannes 14,17)

So nah sind Abschied und Neuanfang zusammen.

Dies gilt für Leben überhaupt. Ohne Abschied gibt es keinen Neubeginn. Neues kann es nur geben, wenn Altes verabschiedet worden ist. Viel Leid, viel Qual von uns Menschen hat mit der Unfähigkeit zu tun, loszulassen, und ja zu sagen zu dem, was gerade ist. Dass es so eben nicht weiter geht.

Hautnah erleben wir dieses Geschehen mit unserer Petruskirche.

Auch von ihr heißt es demnächst, Abschied zu nehmen.

Und auch hier gilt: „Ich lasse Euch nicht verwaist“ zurück.

Der Geist der Petruskirche, der Heilige Geist, ist unzerstörbar.Und er wirkt, wo und wann er will.

Die Kirche, die Gemeinschaft, die auf diesen Geist gründet, ist unzerstörbar. Sie lässt sich nicht „entweihen“ oder gar schließen. Sie ist jederzeit und für jeden offen.

Pfingsten ist auch der Geburtstag der Kirche, habe ich gesagt. Geburtstag feiern heißt auch, anerkennen, dass wieder ein Jahr gelebten Lebens vorbei ist. Der Depressive sieht an seinem Geburtstag nur, dass „schon wieder ein Jahr vergangen ist“. Was er nicht erleben kann, das ist die Freude und die Dankbarkeit für das, was er in diesem Jahr alles erleben „durfte“. Deshalb sagt Meister Eckhardt: „Wäre das Wort ›Danke‹ das einzige Gebet, das du je sprichst, so würde es genügen.“

Dies gilt auch für hier:

Danke, liebe Petruskirche, was wir in und mit dir erleben durften!

Freude und Dankbarkeit lässt sich freilich nicht auf Knopfdruck „machen“. Es ist ein Geschehen, das – Gott sei Dank – unserer Manie des „Nichts ist unmöglich“ entzogen ist. Dankbarkeit, Freude, Freundschaft, Friede, Liebe all‘ dies sind Ausdrücke für ein Geschehen, das sich von uns Menschen nicht machen lässt. Alles, was wir tun können, – und das ist nicht wenig – ist, ein Klima, ein Milieu, eine „Haltung“ zu finden, innerhalb derer Freude Dankbarkeit und Liebe sich entfalten, aufblühen können.

Zu dieser Haltung gehört wesentlich ein Gefühl der Gelassenheit.

Meister Eckhardt war neben vielem Anderen der Erfinder dieses Wortes und er meinte damit: „Losgelassen-Sein“ im Sinne von: „an nichts festhalten“. Was er damit nicht meinte, ist ein fatalistisches „Laisser faire“.

Auf diesem Hintergrund möchte ich mich jetzt mit Ihnen dem heutigen Predigttext zuwenden, einem Abschnitt aus dem 37. Kapitel des Buches Hesekiel (in der Übertragung Martin Bubers, die dem Hebräischen am Nächsten kommt.)

Hesekiel 37, 1-14

1 Über mir war SEINE Hand, im Geistbraus entführte mich ER, ließ mich nieder inmitten der Ebne, die war voller Gebeine. 2 Er trieb mich rings, rings an ihnen vorbei, da, ihrer waren sehr viele hin über die Fläche der Ebne, und da, sehr verdorrt waren sie. 3 Er aber sprach zu mir: Menschensohn, werden diese Gebeine leben? Ich sprach: Mein Herr, DU, du selber weißt. 4 Er aber sprach zu mir: Künde über diese Gebeine, sprich zu ihnen: Ihr verdorrten Gebeine, höret SEINE Rede! 5 so hat mein Herr, ER, gesprochen zu diesen Gebeinen: Da, Geistbraus lasse ich kommen in euch, und ihr lebt. 6 Ich gebe über euch Sehnen, ich lasse Fleisch euch überziehn, ich überspanne euch mit Haut, Geistbraus gebe ich in euch, und ihr lebt und erkennt, daß ICH es bin. 7 Ich kündete, wie mir war geboten. Als ich gekündet hatte, geschah ein Rauschen, und da, ein Schüttern, die Gebeine rückten zusammen, Gebein zu seinem Gebein. 8 Ich sah, da waren über ihnen Sehnen, Fleisch überzog sie, Haut überspannte sie obendrauf, doch kein Geistbraus war in ihnen. 9 Er aber sprach zu mir: Künde auf den Geistbraus zu, künde, Menschensohn, sprich zum Geistbraus: So hat mein Herr, ER, gesprochen: Von den vier Brausewinden, Geistbraus, komm, wehe diese Erwürgten an, daß sie leben! 10 Ich kündete, wie er mir geboten hatte. Der Geistbraus kam in sie ein, sie lebten. Sie standen auf ihren Füßen, ein sehr sehr großes Heer. 11 Er aber sprach zu mir: Menschensohn, diese Gebeine, die sind alles Haus Jissrael. Da sprechen sie: Verdorrt sind unsre Gebeine, geschwunden unsere Hoffnung, losgeschnitten sind wir! 12 Darum künde, sprich zu ihnen: So hat mein Herr, ER, gesprochen: Da, ich öffne eure Gräber, ich ziehe euch aus euren Gräbern, mein Volk, ich lasse euch kommen zu dem Boden Jissraels. 13 Dann werdet ihr erkennen, daß ICH es bin. Wann ich öffne eure Gräber, wann ich euch ziehe aus euren Gräbern, mein Volk, 14 gebe in euch meinen Geistbraus, daß ihr lebet, lasse euch nieder auf eurem Boden, dann werdet ihr erkennen, daß ICH es bin, ders redet, ders tut. SEIN Erlauten ists.“

Liebe Gemeinde,

welch‘ eine Vision, die der Prophet Hesekiel hier vor uns ausbreitet!

Hesekiel, hebräisch Jecheskel, heißt: Gott stärkt mich; Gott gibt mir Kraft; auch: Gott ist mein Halt. Er war Exilsprophet und erlebte sowohl die 1. Vertreibung der Juden aus ihrer palästinischen Heimat 597 v. Chr. durch die babylonische Weltmacht als auch die sich anschließende 2. Vertreibung. Diese ging mit der Zerstörung des Zentralheiligtums in Jerusalem im Jahre 587 v. Chr. einher.

Man könnte auch sagen: Hesekiel war ein schwer traumatisierter Mann – er hat die Zerstörung all dessen, was ihm, was seinen Eltern (er stammt aus einem alten Priestergeschlecht), was seinen Landsleuten heilig ist, erlebt. Und – als wäre das alles noch nicht genug: Dann wurde er auch noch aus seiner eigenen Heimat vertrieben.

Auf diesem Hintergrund verstehe ich die Vision des Propheten auch als Versuch einer einer „Selbst-Heilung“. Ich meine das nicht in dem Sinne, als könne man sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Ich meine das so:

Knochen = עֲצָמוֹת azamot bedeutet im Hebräischen auch: Das „Wesen“ eines Menschen, sein „wesentliches Selbst“, oder auch: das „eigene Eigene“ (Bollas). Meister Eckhardt spricht von der „Selbigkeit“ des Menschen. Wir würden heute vielleicht von seiner „Identität“ sprechen, und meinen damit, das, was den Menschen wesentlich ausmacht. Das „Wesen“ des Menschen.

„Homo“ – das lateinische Wort für Mensch – besagt, so Meister Eckhardt, dass ihm ein „vernunftbegabtes Sein“ mitgegeben ist. „Ein solchermaßen vernunftbegabter Mensch ist der, der sich selbst mit der Vernunft begreift und in sich selbst losgelöst (wörtlich: ‚abgeschieden‘) ist von allen Dingen und in sich selbst gekehrt, je mehr er alle Dinge klar mit seiner Vernunft in sich selbst erkennt, ohne Hinwendung nach außen, um so mehr ist er ein ‚Mensch'“ (Deutsche Werke Band I, S. 176; Predigt 15 über Lukas 19, 12). Das heißt im Umkehrschluss: Je weniger ein Mensch zu Selbsterkenntnis bereit und/oder fähig ist, desto weniger wird er seiner Bestimmung als Mensch gerecht. Oder mit den Worten von Theresa von Avila: „… so hoch die Seele auch stehen mag – nie wird etwas anderes die Selbsterkenntnis ersetzen können, ob man dies will oder nicht“ (Innere Burg, S. 30)

In der Vision des Hesekiels ist das „vernunftbegabte Sein des Menschen“ der Atem Gottes. Luther übersetzt mit „Odem“, was an „Adam erinnert. All dies sind Versuche, das hebräische Wort „Ruach“ einzudeutschen. Ruach kann auch ganz einfach „Wind“ oder „Sturm“ meinen. Bezogen auf Lebewesen beschreibt es ihre die Lebenskraft. Sie ist in innigster Weise verbunden mit dem „Geist Gottes“. Von daher ist eine verbreitete Auslegung der Vision Hesekiels vom „Toten-Acker“, dass es sich um „geistlich Tote“, um „spirituell Gestorbene“ handelt. Hierüber zu streiten, um welche Tote es jetzt geht, um „wirklich Tote“ oder „nur“ um „geistlich Tote“ ist eine Ablenkung vom Wesentlichen.

Das Wesentliche ist: Mensch-Sein bedeutet, nicht nur in Beziehung mit Gottes Geist zu leben, sondern aus seinem Geist heraus zu leben. Wer aus Gottes Geist lebt, der lebt wirklich – und wenn er auch sterben müsste.

Der Heilige Johannes vom Kreuz nennt Gottes Geist „ilama de amor“, die „Liebesflamme“. Er beschreibt ihn als die personifizierte Liebe Gottes, die den Menschen in seinem Wesenskern, in seiner „Selbigkeit“ berührt, um ihn immer mehr dem Gott, der die Liebe ist, gleichzugestalten. Um zu veranschaulichen, wie er das meint, verwendet Johannes das Bild vom Feuer: Gott gleicht einem „verzehrenden Feuer“, das die Seele des Menschen „läutert“, in dem alles verbrennt, was nicht seinem Wesen entspricht. Dies erlebt der Mensch als Schmerzen im Dienste seiner Erleuchtung hin zu Gott. Indem der Mensch dies an sich geschehen lässt, wird er immer tiefer erleuchtet und entflammt, bis er mit der Liebe Gottes gleichgestaltet ist. Den Weg selbst beschreibt Johannes als „Dunkle Nacht“ und veranschaulicht die Gefühle der dunklen Nacht mit dem Bild des noch feuchten Holzscheids, das mit Zischen und Krachen versucht, sich gegen seine Entflammung zu wehren.

Liebe Gemeinde,

Gott ist ein guter Therapeut. Therapeut heißt wörtlich: „Begleitender Diener im Kampf“. Der Kampf, um den es geht, ist der Kampf der sich ausbreitenden Liebe gegen die Mächte des Hasses. Das Futter des Hasses sind die Gefühle des Verlassen-Werdens. Jedes Baby kennt und durchleidet diese Gefühle. Selbst wenn es noch so liebevolle Eltern hat: Es erlebt immer wieder, allein zu sein. Angewendet auf die „Entweihung“ der Petruskirche: Ich bitte Sie und Euch, sich nicht von (naheliegenden) Gefühlen der Empörung leiten zu lassen. Sie eignen sich nur dazu, Schuldige zu finden, und bei ihnen den eigenen Hass und die eigene Enttäuschung unterzubringen.

Noch einmal: Der Geist Gottes braucht keine Räume. Der Geist der entflammenden Liebe lebt – und er ist unzerstörbar. Kirchen kann man entweihen, Lebewesen kann man töten – den Geist Gottes nicht. Drei Mal heißt es in unserem Text:

„Und Ihr werdet erkennen, dass ICH es bin“.

Aus dieser Erkenntnis heraus leben bedeutet, aus der Liebe Gottes heraus zu leben. Dieser Liebe ist es egal, wer du bist, welcher Religion du angehörst, ob du Atheist bist. Diese Liebe lässt sich von Kirchenentweihungen ebenso wenig beeindrucken, wie von den prunkvollsten Kirchenbauten.

„Die Liebe gleicht einem Hund“, sagt Rumi. „Sie packt dich am Genick und schleppt

dich zappelnd zu Gott.“

Und auf seinem Grab steht:

„Komm, wer immer du bist,

Wanderer, Götzenanbeter, den Abschied Liebender.

Es spielt keine Rolle.

Dies ist keine Karawane der Verzweiflung.

Komm, auch wenn du deinen Schwur tausendfach gebrochen hast.

Komm, komm, noch einmal: KOMM!“ AMEN.

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Karfreitag 2024: Von Gott verlassen?

Liebe Gemeinde,

bei der Vorbereitung auf den heutigen Karfreitagsgottesdienst fühlte ich Widerwillen. Es ist derselbe Widerwille, mit dem ich mir die Nachrichten im Fernsehen anschaue, mit dem ich Zeitung lese, mit dem ich bei vielen meiner Patienten konfrontiert werde. Es ist der Widerwille dagegen, Qual, Leid, Folter aber auch Lüge, Betrug, Täuschung an mich heran zu lassen, zu akzeptieren, dass Menschen, dass wir Menschen dank unserer Intelligenz zu unfassbarer Zerstörung in der Lage sind. Im Kleinen, wie im Großen.

Es ist auch der Widerwille dagegen, anzuerkennen, dass der Mensch, dessen Predigten mich so tief berühren, dessen Gebete ich nachspreche, den ich als „Sohn Gottes“ bekenne – dass derselbe Mensch als Gotteslästerer zusammen mit zwei Verbrechern hingerichtet worden ist.

Was war sein Verbrechen? Dass er sich selbst als „König der Juden“, als der verheißene Messias ausgab? Vielleicht. Konkreter und naheliegender ist jedoch, dass er sich mit dem damaligen gesellschaftlichen Mainstream anlegte. Er warf die Händler aus dem Tempel: Das war ein Frontalangriff auf die damalige Zusammenarbeit von Wirtschaft und Synagoge. Er predigte Liebe anstelle von Macht. Das geht gar nicht. Wenn der Papst sagt, die Ukraine solle die weiße Flagge der Kapitulation hissen, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden, gibt es einen Aufschrei der westlichen Welt. Damit würde dem Imperator und Kriegsverbrecher Putin in die Hände gespielt, heißt es. Der nicht aufhören würde, ehemalige Sowjetstaaten zurück zu erobern. Wahrscheinlich ist das so.

Daraus folgt: Macht muss mit Gegen-Macht bekämpft werden. Und: Ohnmacht ist unter allen Umständen zu vermeiden.

Nicht so bei und für Jesus, dem Prediger der Liebe. Er steht auf der anderen Seite der Macht: Er steht auf der Seite der Ohnmacht. Des Ohne-Macht-Seins.

Das kann die Seite der Verzweiflung, der Kapitulation sein.

Muss aber nicht.

Es kann auch die Seite aufkeimender Liebe sein.

„Liebe wächst wie Weizen, und ihr Halm ist grün.“

Wir haben vorhin die Kreuzigung Jesu in der Fassung gehört, wie sie Johannes uns überliefert hat. Im Vergleich zu der Fassung des Matthäus – sie ist der heutige Predigttext – ist die Darstellung des Johannes ruhiger, auch milder. Nicht so hart und grausam wie bei Matthäus. Zum Beispiel endet bei Matthäus das Leben Jesu mit einem Schrei der Gottverlassenheit. Bei Johannes sind die letzten Worte Jesu ein „es ist vollbracht!“

Wenn ich ehrlich bin, würde ich lieber über die Johanneische Version predigen. Es fällt mir schwer, Gottverlassenheit zu predigen.

Gefühlt ist Gottverlassenheit nichts anderes als Horror.

Der Horror im Angesicht des Nichts.

Sollte alles, was ich glaubte, nichts sein?

Ich glaubte:

Endlich Einer

Denn mit Jesus war EINER da, der sagte:

Selig sind die Armen!

Und nicht: Wer Geld hat, ist glücklich.

Endlich EINER, der sagte: Liebe deine Feinde!

Und nicht: Nieder mit dem Gegner!

Endlich EINER, der sagte:

Erste werden Letzte sein!

Und nicht: Es bleibt alles beim Alten!

Endlich EINER, der sagte:

Wer sein Leben einsetzt und verliert,

der wird es gewinnen!

Und nicht: Seid schön vorsichtig!

Endlich EINER, der sagte:

Ihr seid das Salz!

Und nicht: Ihr seid die Creme.

Endlich EINER, der starb,

wie ER lebte.

(Nikolaikirche, Leipzig)

Ich werde jetzt nicht über den Text (Matthäus 27, 33 – 54) im einzelnen mit seinen vielen Anspielungen predigen. Auch auf die sublimen antisemitischen Gedanken, gipfelnd in der Verbindung des Namens von Judas als der „Jude“, der Jesus verrät, gehe ich nicht weiter ein.

Stattdessen möchte mit Ihnen über den Karfreitag als „mentales Geschehen“ nachdenken. Das mentale Geschehen des Karfreitags ist das Erleben des Verlassen-Werdens. Es ist das Erleben, dass sich das „radikal Gute“, die „nährende und wärmende Liebe“, dass sich Gott in der Gestalt seines Sohnes aus dieser unserer/meiner Welt zurückzieht. Karfreitag ist die Abwesenheit Gottes. Übrig bleibt der „von allen guten Geistern“ verlassene Mensch.

Karfreitag ist der jüngste Anschlag in Moskau, ist Stalingrad, ist Auschwitz, ist Gaza Streifen, ist Ukraine.

Karfreitag ist, von der Mutter zur Adoption freigegeben zu werden. Ist, von desinteressierten überforderten, weil selbst traumatisierten Eltern im Kinderheim „abgegeben“ zu werden.

Karfreitag ist der sexuelle Missbrauch von Menschen, die in Abhängigkeitsverhältnissen stehen.

Karfreitag ist narzisstischer Missbrauch von Kindern und Jugendlichen.

Karfreitag ist die Qual der Tiere, die eingepfercht in einem Tiertransporter ihrer Schlachtung entgegen fahren. Karfreitag ist die Qual der Hühner, deren Lebenssinn darin besteht, auf engstem Raum möglichst viel Eier zu legen. Karfreitag ist die Qual der Kühe, deren Euter so groß gezüchtet wird, dass sie nicht mehr laufen können.

Karfreitag ist die Qual der hochgezüchteten Pflanzen. Die in Käfigen, genannt Gewächshäuser, möglichst hohen Ertrag bringen sollen.

Kurzum: Karfreitag ist der Triumph der Mächtigen über die Ohnmächtigen, der Triumph der Bestimmer über die Bestimmten. Karfreitag ist die Rücksichtslosigkeit und Ignoranz derer, die Gewalt ausüben, gegenüber denen, die sich nicht wehren können oder wollen.

Karfreitag ist das Wegbrechen von Menschlichkeit, von Einfühlung, von Liebe.

Karfreitag ist der Triumph kalten Hasses, legiert mit Neid und Gier.

Wie kann es dazu kommen?

Gibt es Elemente, die dieses Geschehen, diese Entwicklung verständlich machen?

Ja – die gibt es!

Es ist nämlich so, dass wir Menschen allesamt Abhängigkeit erlebt haben. Zunächst einmal verbringen wir neun Monate in einem Behältnis, genannt Mutterleib, das uns Leben schenkt. Das uns aber auch vergiften kann, wenn seine Besitzerin Drogen nimmt. Oder uns töten kann, wenn sie uns wieder los werden will. Das wird dann Abtreibung genannt. Dem sind wir als Fötus wehr- und machtlos ausgeliefert.

Mutterleib heißt im Arabischen, „Rachim“. Das bedeutet auch „Erbarmen“, oder „Barmherzigkeit“. Dieses „Erbarmen“ erleben zu dürfen, ist nicht selbstverständlich. Es ist eine Gnade, ein Geschenk, einen Mutterleib zu erleben, in dem wir wachsen und am Ende unseres Wachstums das Licht der Welt erblicken dürfen.

Am Beginn unseres extrauterinen Lebens sind wir dann immer noch radikal abhängig von einer „Kraft“ oder „Macht“, die uns am Leben erhält, die uns füttert, sich unserer auch mental annimmt, die für unsere Sauberkeit sorgt. Und – falls wir Glück haben -: Die uns lieb hat.

Und wir, die wir hier zusammen sind:

Wir haben bei allem Leid etwas „Gutes“ und „Fürsorgliches“ im weitesten Sinne gebraucht und es auch bekommen – sonst gäbe es uns nämlich gar nicht!

Und wir haben alle Verlassen-Werden, Alleine-Sein erlebt. Auch die Brust, die mich nährt, die mich liebt: Sie verschwindet wieder. Die Hand, die mich zärtlich streichelt, ist irgendwann wieder weg. Je jünger ich bin, je weniger ich größere Zusammenhänge erkennen kann, desto ausgelieferter erlebe ich mich in diesem Verlassen-Werden. Ich werde immer ängstlicher, immer misstrauischer – bis ich überzeugt davon bin: Ich bin umzingelt von bösen Mächten die nur eines im Sinn haben: Mich zu zerstören. (Das ist der Stoff, aus dem unsere Albträume und die guten Thriller sind.)

Es gibt keine Erinnerung mehr an das Gute, das ich erlebt habe. Da, wo das Gute gewesen ist, ist jetzt das Böse. Im Märchen heißt das: Die „gute Mutter“ ist gestorben, an ihre Stelle ist die böse Stiefmutter getreten, die mich demütigt, die mich quält. Das Gute scheint nur gut zu sein, in Wirklichkeit aber ist es böse geworden. Wie konnte ich mich nur so täuschen: Die Frau, von der ich die leckeren Schokoladen-Lebkuchen bekam, ist in Wirklichkeit eine böse Hexe. Sie füttert mich nur, weil sie mich verzehren will… (Sie kennen Hänsel und Gretel.)

Freut sich Gott – das schlechthin Gute – in Wirklichkeit an meiner Ohnmacht, an meiner Hilflosigkeit, an meinem Ausgeliefert-Sein?

Ich dachte, ich wäre sein Ein-und-Alles. Von ihm eigenhändig erschaffen. Ich dachte, er verlässt mich nie. Ich dachte, ich habe die Macht, ihn bei mir zu halten. Ich dachte, ich habe alle Macht.

Und jetzt muss ich feststellen: Ich habe überhaupt keine Macht; hilflos ausgeliefert bin ich meinen Feinden, die sich an meiner Qual erfreuen und mich elendiglich verrecken lassen.

Anstatt von guten Kräften umgeben zu sein, bin ich von Hexen und Dämonen umgeben, die auf meinen Untergang aus sind.

Wo bist du, Gott?

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Liebe Gemeinde,

ich habe versucht, Ihnen einen Einblick in das mentale Erleben des Karfreitags zu geben. Die Quellen dieses Erlebens führen zurück in unsere Baby-Zeit.

Lange Zeit dachte man, Babys spüren nichts. Sie haben noch keine Empfindungen. So wurden sie noch in den Fünfzigern des letzten Jahrhunderts ohne Narkose operiert.

Es war Melanie Klein, die das Seelenleben des Kleinkindes erforscht hat. Sie hatte durch einfühlende Beobachtung erforscht, wie Seele, wie seelisches Leben entsteht.

Sie wurde und wird bekämpft. Es gibt einen großen Widerstand dagegen, sich in dieses ganz frühe Leben und Erleben von uns Menschenkindern einzufühlen. Es ist im übrigen derselbe Widerstand, der sich aufbaut, sich in das Leben und Erleben von Tieren und Pflanzen einzufühlen. Dass sie beseeltes Leben sind – so wie Sie und ich!

„Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“, hat Albert Schweitzer einmal gesagt. Entscheidend ist der Gedanke, ich bin inmitten von Leben. Von Leben, das genauso leben will, wie ich. Dessen Würde genauso unantastbar ist, wie meine eigene.

In dieser Haltung will ich versuchen, den heutigen Karfreitag zu erleben.

Diese Haltung führt heraus aus den verzweifelten Gefühlen meiner Einsamkeit, meiner Gottverlassenheit.

In dieser Haltung verwandelt sich mein Karfreitag in einen Kraftfreitag. (Dieses Wort verdanke ich der Autokorrektur meines Textprogrammes.)

Diese Haltung aber kann ich mir nicht selber erarbeiten. Ich kann sie mir nur schenken lassen. Es ist die Haltung, die die eigene Begrenztheit und Vergänglichkeit anerkannt hat. Die Menschen, die schreien, „Kreuzige ihn!“ – das sind dieselben, die schreien: „Hosianna dem König Davids!“

Karfreitag ist das Kippen der Allmachts-Illusion in die Ohnmachts-Illusion. Es ist der Zusammenbruch der manischen Gefühle und das Überflutet-Werden von depressiven Gefühlen.

Aber und: Es gibt ein „Dazwischen“. In den Ritzen zwischen den Felsen von Allmacht und Ohnmacht lebt jene Liebe auf, die längst erstorben schien:

„Liebe wächst wie Weizen, und ihr Halm ist grün.“ AMEN

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Predigt über 1. Mose 22, 1-19 am Sonnntag Judica 2024

Liebe Gemeinde,

„Schaffe mir Recht, Gott!“ ist die Überschrift des heutigen Gottesdienstes am Sonntag Judica.

„Dann haben Sie Recht – und sonst nichts!“ hat meine Supervisorin gesagt, wenn ich wieder einmal um mein „Recht-Haben“ gegenüber Patienten oder Kollegen gekämpft habe. Und, bei genauerer Betrachtung: Wie soll das denn gehen: „Recht zu haben“?

Recht ist kein Besitz.

Man kann – schwer genug – Recht sprechen.

Man kann sich im Recht fühlen.

Aber Recht haben?

Wer überzeugt davon ist, Recht zu haben, ist ein Rechthaber.

Mit solchen Menschen in ein kreatives Gespräch zu kommen, ist unmöglich.

Es fühlt sich an, als würde man gegen eine Wand reden.

Klassische Antworten des Rechthabers sind:

„Das habe ich mir schon gedacht!“

Oder „Ja, ja, ich weiß schon …“

Recht haben und versuchen, den Anderen zu verstehen schließen sich nämlich aus.

Verstehen bedeutet Beweglichkeit, bedeutet im Gespräch den eigenen Stand-Punkt verlassen, sich selbst in Frage stellen zu lassen, sich selbst in Frage zu stellen. Versuchen, aus der Sichtweise, der Perspektive des Anderen heraus zu erleben.

Da entstehen dann Sätze wie: „Ach – so siehst du das also… „

Die Haltung dazu ist Neugierde: „Ich bin neugierig, wie du das siehst…“

Wem es wichtig ist, Recht zu haben, der wird auf andere Meinungen, Sichtweisen als seine eigene nicht besonders neugierig sein. Er kann die Perspektive, aus der heraus er auf das „Leben“ blickt, nicht wechseln. Seine Perspektive ist erstarrt. Sie ist die einzig denkbare. Das Recht-Haben-Wollen oder auch -Müssen verhindert die Möglichkeit des Perspektivenwechsels, verhindert die Bereitschaft, sich in die Sichtweise meines Mitmenschen – der ja immer der „Andere“ ist – einzufühlen.

Sich-einfühlen bedeutet, Nähe zum Anderen, mir Fremden zuzulassen.

Für den Rechthaber ist Einfühlung in den Anderen, Sich-vom-Anderen-Erreichen-Lassen und versuchen, den Anderen zu erreichen, Ausdruck von Schwäche.

Stärke hingegen ist für ihn, „sein Ding durchzuziehen“, zu wissen, wo es lang geht, alles im Griff zu haben. An der Stelle der Einfühlung steht die Bewertung des Anderen. Natürlich auf dem Hintergrund der eigenen Perspektive.

In bestimmten Denk-Kreisen wird dies als Männlichkeit propagiert.

Ich bin anderer Meinung: Ich halte dies für verdrehte, pervertierte Männlichkeit.

Die Rechthaber gibt es überall: In der Wirtschaft, in der Politik, in den Kirchen.

„Unfehlbar“ sind sie – oder glauben jedenfalls, es zu sein.

Für die Rechthaber sind meine Predigtgedanken höherer Blödsinn. Wenn ich frei bleiben will, muss ich mich damit abfinden, sie nicht erreichen zu können.-

In dem heute zu predigenden Text ist es der Satan, der als „Rechthaber“ Gott herausfordert. Er „versucht“ ihn – heißt es – mit dem Satz: Kein Mensch auf dieser Welt dient dir bedingungslos. Nicht einmal dein Lieblings-Mensch Abraham: Du musst ihn nur dazu auffordern, dass er sein Liebstes hergibt – und du wirst sehen: Er wird dir den Gehorsam verweigern.

Das Liebste aber, das Abraham gemeinsam mit seiner Frau hatte, war beider Sohn Isaak. Der Name Isaak bedeutet: „Zu absurd, um noch daran zu glauben“, oder „zu lächerlich, um darauf zu bauen“ oder: „Es ist einfach zum Lachen“. Sein Name hat mit seiner Entstehung zu tun: Sara, die Frau Abrahams und Mutter Isaaks, lacht Gott aus, als er ihr sagt, sie wird schwanger werden und einen Sohn gebären. Sie meint, sie wäre zu alt, hätte schon lange ihre Tage nicht mehr. Es sei also unmöglich, einen Sohn zu bekommen.

Und weil sie Gott auslachte, muss sie so lange schweigen, bis sie Isaak auf die Welt bringt. (Das wäre ein eigenes Thema: Das Schweigen der Sara.)

Und diesen lang ersehnten, schon aufgegebenen und dann doch auf die Welt kommenden Isaak soll Abraham jetzt – auf Gottes Befehl hin – opfern!

„Gott versuchte Abraham“ – so geht die Geschichte im 1. Buch Mose an.

Keine Ahnung warum: Das bleibt offen. Eine jüdischen Sage führt an dieser Stelle wie gesagt den Satan ein: Er ist die personifizierte Versuchung. Mit diesem Kunstgriff wird Gott „geschont“. Nicht Gott, sondern Satan versucht. Aber natürlich ist Satan auch eine Seite von Gottes Schöpfung, weil es ein „außerhalb Gottes“ nicht gibt. Und so heißt es: „Gott versuchte Abraham“.

Satan heißt wörtlich: Der (Ver-)Hinderer.

Satan verführt dazu, die Einfühlung in den Anderen, in das Fremde aufzugeben.

Satan ist die Personifizierung der Kraft, die Einfühlung in den Anderen, Verständnis, Rücksichtnahme, Nachgiebigkeit verhindern möchte.

Satan sagt: „Gib den Menschen genug zum Essen und einen starken Führer“ – mehr wollen die gar nicht.

Satan macht aktuell im sogenannten Populismus und seinen Repräsentanten Karriere. Und natürlich ist Satan ein Feind demokratischen Denkens und Handelns, ist dieses doch auf der Freude an Vielfalt und Buntheit aufgebaut.

In der genialen Geschichte „Der Großinquisitor“, die Dostojewski in seinem Roman „Die Brüder Karamasow“ einflicht, wird Jesus wegen Ketzerei von der Inquisition in Spanien hinter Gittern gebracht. Die Rahmenhandlung: Er war noch einmal auf die Erde gekommen, und zwar in Spanien, als die Inquisition auf ihrem Höhepunkt war. Jesus hatte noch einmal seine Predigt von Liebe und Barmherzigkeit gehalten, hatte noch einmal ein dem Tode geweihtes Mädchen mit den Worten: „Talita kumi – steh auf und geht“ geheilt. Und eben dieser Jesus wird von den Schergen der Inquisition abgeführt und in den Kerker gebracht.

In dunkler Nacht besucht ihn der Großinquisitor im Gefängnis und hält einen langen Monolog. Er hält Jesus vor, dass sein größter Fehler darin bestanden hätte, die Verführungen des Satans abgelehnt zu haben. Aber die Kirche habe diesen Fehler inzwischen ausgebügelt:

„Wir sind nicht mit dir verbündet, sondern mit ihm (nämlich dem Satan) – das ist unser ganzes Geheimnis.“ Der Grund für dieses Bündnis sei die Sehnsucht des Menschen, jemand zu haben, „vor dem er sich beugen kann, wem er sein Gewissen übergeben kann.“ Auf dem Boden dieser Sehnsucht wurden und werden die politischen wie religiösen Diktaturen errichtet. (In Klammern: Vor kurzem sagte mir jemand, der in der DDR aufwuchs: „Ich habe auch mit geschrien, dass wir das Volk sind. Weil ich nicht kapiert habe, wie anstrengend es ist, in Freiheit zu leben, wo dir keiner sagt, was falsch und was richtig ist und was du machen sollst. Ich kann Ihnen nur sagen: Ich wünsche mir die gute, alte DDR zurück!“)

Doch zurück zu unserer Geschichte von der Opferung Isaaks:

Satan will Gott beweisen, dass niemand auf der Welt sich ihm bedingungslos hingibt. „Nimm ihm sein Liebstes weg, und er wird dir nicht mehr folgen!“

Und so versucht Satan mit teuflischer Raffinesse, die Opferung Isaaks viermal zu verhindern:

Zum ersten wendet er sich in der Gestalt eines alten Mannes, gebeugt und demütig an Abraham und sagt: „Du einfältiger Idiot. Niemals würde Gott von dir verlangen, dass du deinen Sohn opferst, den er dir selbst nach vielen Jahren geschenkt hat!“ Aber Abraham fällt nicht darauf ein, er schreit den Satan an, worauf dieser sich verzieht.

Jetzt versucht er Isaak zu verführen und erscheint ihm in Gestalt eines schönen Jünglings und sagt: „Dein Vater ist alt und dement. Er will dich heute seinem Gott opfern. Höre nicht auf ihn. Lass deine teure Seele und deine schöne Gestalt doch nicht von der Erde verschwinden.“ Isaak aber erzählt diese Begegnung seinem Vater, worauf dieser ihn davor warnt, auf den Teufel herein zu fallen. Und wiederum schreit er den Teufel an, er soll abhauen. Als der Teufel merkt, dass er gegen die Beziehung der beiden, gegen die Vater-Sohn-Beziehung nicht ankommt, verwandelt er sich in einen reißenden Strom und legt sich den Beiden in den Weg. Beinahe wären sie ertrunken, da fällt Abraham ein, dass auch dies des Teufels Werk ist und er sagt laut: „Gott schelte dich, du Satan, geh fort von uns, denn nach dem Befehl des Herrn sind wir unterwegs.“ Während der Satan in der ersten und zweiten Versuchung Beziehungen angegriffen hatte: nämlich die Beziehung Abrahams zu Gott und die Beziehung Isaaks zu seinem Vater, versucht er es jetzt mit dem Schicksal. Der reißende Strom steht für mich für die Vergänglichkeit, der unser aller Leben unterworfen ist. Wer diese nicht anerkennen kann, flieht in die Illusion eines Paradieses – und damit direkt in die Arme des Teufels. Es ist die Erkenntnis, dass unser Leben sich in der Realität abspielt, und zu dieser Realität gehören Krankheit, Sterben, eben Vergänglichkeit dazu: Die Anerkenntnis dieses „fact of life“ ist es, die den Satan vertreibt: „Und Satan erschrak vor der Stimme Abrahams und ging davon und der Ort war wieder festes Land geworden.“ Mit anderen Worten: Abraham und Isaak standen wieder auf dem festen Boden der Tatsachen!

Als schließlich Abraham mit seinem Sohn an der Stätte „Moria“ ankommen – „Moria“ ist übrigens in seiner Wortbedeutung mit „unterweisen“ oder „lehren“ verwandt – bereitet Abraham alles dafür vor, um seinen Sohn zu opfern. Als er gerade dabei ist, mit einem kurzen Schnitt ihm die Halsschlagader durchzuschneiden, ertönt eine himmlische Stimme und sagt: „Lege deine Hand nicht an den Knaben und tue ihm nichts, denn nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen.“ Und Abraham sah einen Widder, der sich mit seinen Hörnern im Gestrüpp verhängt hatte und opferte ihn an der Stelle seines Sohnes. Dies war das vierte Werk des Satans gewesen: Er hatte den Widder gefangen und ihn im Gestrüpp verhängt, da er verhindern wollte, dass Abraham den Widder sah und ihn opferte an der Stelle seines Sohnes. Der Widder tritt also an die Stelle des Körpers von Isaak! Es ist unser menschlicher Körper, der auf dem Weg zu Gott „hinzugeben“ ist. Von ihm gilt es Schritt für Schritt loszulassen.

So weit die Geschichte.

Was lernen wir daraus?

Ich lerne daraus: Wie schwer es ist, sich nicht verführen zu lassen. Alles – der gesunde Menschenverstand, die eigene Empfindung, die eigene Liebe protestieren dagegen, das eigene Kind zu opfern. Kind steht für das eigene neue Leben! Lang ersehnt! Und jetzt soll ich es wieder hergeben? Wir sind doch stolz auf unsere wohl geratenen Kinder, freuen uns daran, wenn sie ihren Weg gehen – und jetzt sollen wir sie opfern? Bloß um irgendeines Beweises willen, dass wir Gott radikal ergeben und treu sind? Und überhaupt: Was ist das für ein Gott, der sich mit dem Teufel einlässt? Der seine Geschöpfe versucht?

Nun – wenn man so konkret, ja konkretistisch denkt, ergibt die Geschichte keinen Sinn. Sie wird zu Non-Sens. (Dies gilt übrigens für ganz viele Stellen der Bibel: Wenn man sie konkret versteht, ist ihr Sinn zerstört.)

Und was lernen wir aus der Geschichte „im übertragenen Sinne“?

Es geht um die Bedeutung des „Opferns“. Opfern im Sinne von Sich-Hingeben, Sich-Überlassen. Jeder von uns – gleich ob Mann oder Frau – trägt einen Widerwillen in sich, Fremdes, Neues, Unbekanntes „näher an sich heran zu lassen“. Opfer heißt im Hebräischen „Korban“. Es bedeutet wörtlich: „sich nähern“, oder „näherbringen“. Und es wird prinzipiell verwendet in der Beziehung zwischen Mensch und Gott. Es geht also um die Idee, wie sich der Mensch Gott und wie sich Gott dem Menschen nähern kann. In der Mystik ist das die „Einswerdung mit Gott“. In vielen Bildern wurde diese Einswerdung beschrieben. Um nur zwei zu nennen: Im Bild des Wassers gleicht der Mensch einem Tropfen im Meer Gottes; im Bild des Feuers: Der Mensch gleicht einem Holzscheit, das zischend und prasselnd alle Feuchtigkeit verliert, bis es sich glühend ganz Gott hingegeben hat.

Allgemeiner ausgedrückt: Es geht um die Hingabefähigkeit von uns Menschen. Wer sich hingibt, hat aufgehört „gegen etwas zu sein“. Er hat aufgehört zu kämpfen.

Wer sich hingibt, versucht, aus der Liebe heraus zu leben.

Seine Haltung zum Leben lautet: „Es ist, was es ist.“ Diese Haltung hat nichts mit Gleichgültigkeit oder laissez-faire zu tun. Sie hat viel mit Bewusstheit des eigenen Lebensstils zu tun. Ich versuche dann, bewusst zu leben; so wie es für mich stimmt, und wie ich es, vor meinem Gewissen und meinem Gott verantworten kann. Aber ich habe aufgehört, missionarisch wirken zu wollen und andere davon zu überzeugen, dass sie doch genauso leben sollen, wie ich. Oder dass Sie jetzt meine Predigt in ihren Lebensalltag umsetzen sollen.

Und ich muss nicht mehr Recht haben.

Sich-hingeben: auch an die eigene Vergänglichkeit. An das Müde-Werden des Körpers, an das Müde-Werden der Seele. Es gut sein zu lassen gehört auch dazu. Nicht länger hadern oder sich empören.

Dazu gibt es ein schönes Gedicht von Theodor Fontane:

Es heißt: „Überlass es der Zeit“

Erscheint dir etwas unerhört,

bist du tiefsten Herzens empört,

Bäume nicht auf, versuch’s nicht mit Streit,

Berühr es nicht, überlass es der Zeit.

Am ersten Tag wirst du feige dich schelten,

am zweiten lässt du dein Schweigen schon gelten,

am dritten hast du’s überwunden,

alles ist wichtig nur auf Stunden,

Ärger ist Zehrer und Lebensvergifter,

Zeit ist Balsam und Friedensstifter.

Aus dieser Haltung heraus zu Leben bedeutet, die eigene Lust am Leben zu stärken. Und dem teuflischen Triumph am Infragestellen und am Zerstören Einhalt zu gebieten. Dies geht nur in und mit der Kraft der Liebe. Diese Kraft ist kein Besitz. Oder, mit den Worten des islamischen Mystikers Rumi:

„Die Liebe ist wie ein Hund. Sie packt dich am Genick und schleppt dich – auch wenn du noch so zappelst – zu Gott.“

Gebe Gott, dass wir den Mut und die Kraft aufbringen, uns von diesem göttlichen Hund packen zu lassen, AMEN.

Predigt über 1. Mose 22, 1-19 am Sonnntag Judica 2024 Weiterlesen »

Predigt über 2. Korinther 4, 6 – 10 am letzten Sonntag nach Epiphanias 2024

Liebe Gemeinde,

„der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein – oder er wird nicht sein…“ – dieser berühmte Ausspruch von Karl Rahner passt in besonderer Weise für die Texte des heutigen Gottesdienstes.

Schon der Wochenspruch des Propheten Jesaja: „Über dir geht auf der Herr und seine Herrlichkeit erstrahlt über dir“ ist nicht auf den ersten Blick zu verstehen. In der Übersetzung von Martin Buber lautet er: „Sein Ehrenschein ist über dir erstrahlt.“ Das dahinter stehende hebräische Wort lautet „kabod“ und ist schwer zu übersetzen, weil es so viele Bedeutungen haben kann. Die Grundbedeutung hat mit „schwer sein“, „gewichtig sein“ zu tun. Und so kann es sowohl „Bürde“ bedeuten als auch „Herrlichkeit“ im Sinne von „Ansehen“, „Pracht“. Aber eben nicht der schnelle, vergängliche „schöne Schein“ – sondern ein Leuchten „aus sich, von innen heraus“. Und unmittelbar davor heißt es: „Erhebe dich, werde licht!“ Dieses Wort kennen wir als Kanon: „Mache dich auf und werde licht“ – „licht“ klein geschrieben, als Adjektiv, im Sinne von „werde hell“.

Sodann hörten wir den jetzt zu predigenden Abschnitt aus dem 2. Korintherbrief.

Er beginnt mit einer Präzisierung Gottes: Der „Gott, der da sprach: Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten“, „der hat einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben, dass die Erleuchtung entstünde zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi.“ (V. 6b) Die Elberfelder Bibel übersetzt direkter, originalgetreuer: „Der Gott ist es, der in unseren Herzen aufgeleuchtet ist zum Lichtglanz der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Jesus Christi“. Also: Gott: Jener Gott selbst, der das Licht erschaffen hat – er ist es, der in unseren Herzen aufleuchtet, wenn und indem wir seine Herrlichkeit (kawod, siehe oben) im Angesicht seines Sohnes, im Angesicht Jesu Christi erkennen.“

Was bedeutet das?

Zuallererst:

Wir sind nicht Licht (Licht jetzt groß geschrieben, als Substantiv.)

Das ist die verführerische Botschaft des Satans im Paradies: „Ich seid selber Licht, Ihr seid selber Gott!“ So ist es gut, wenn Paulus sofort relativiert: „Wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen“ und er fügt hinzu: „Auf dass die überschwängliche Kraft von Gott sei und nicht von uns.“ (V. 7) Das ist die Falle, in die wir Menschenkinder auf unserem irdenen Entwicklungsweg unweigerlich hineintappen: zu meinen, wir selber seien Gott. Zu meinen: Wir brauchen keinen Gott.

Der vielfache beklagte Mitgliederschwund der Kirchen hat meines Erachtens genau hier seine Wurzel: Gottesdienst ist etwas für Alte, für Omas und Opas – aber kräftige aufgeklärte, moderne Menschen brauchen keinen Gott! Vor kurzem las ich eine wohlmeinende Rezension über das große mystische Werk des Heiligen Johannes vom Kreuz, „Aufstieg auf den Berg Karmel“: „Das Buch kann ich sehr empfehlen. Ich habe es meiner Oma zu Weihnachten geschenkt und ihr damit eine große Freude gemacht. Sie liebt Bücher von Heiligen und so…“

„Duzi, duzi, … Oma“ kann man dazu nur sagen. Du bist ja eine Liebe – aber halt ein wenig gagagaga … Da sind so Heiligen-Bücher genau das Richtige…

Unsere irdenen Denk-Gefäße, innerhalb derer wir den Erkenntnis-Schatz haben, weigern sich, diesen Schatz aufzunehmen und zu behalten. Sie wollen nicht nur „Container“ für einen Schatz sein – sie wollen selbst Schatz sein. Von daher werten sie ab, verspotten und verhöhnen. Das Angesicht Jesu Christi, in dem der Glanz Gottes aufleuchtet, ist auch das Angesicht des Gekreuzigten und Verhöhnten: „Steige doch herab vom Kreuz, wenn du wirklich der bist, der zu sein, du vorgibst: Der Sohn Gottes!“ So höhnen die Spötter.

Paulus sagt: „Lasst Euch davon nicht beirren. Genau zu diesem Zweck hat Gott uns seine Kraft in irdenen Gefäßen geschenkt, auf dass wir nie vergessen, dass unsere tragfähigen Erkenntnisse nicht von uns selber sind.“

Albert Einstein hat einmal gesagt: „Ich konnte meine Erkenntnisse bezüglich der Relativitätstheorie nur denken, indem ich mir vorstellte, in den Fußstapfen Gottes zu laufen.“ Ich denke, genau dies meint Paulus an dieser Stelle. Und er fügt hinzu: „Wir sind bedrängt von allen Seiten, aber wir ängstigen uns nicht.“ (V. 8a)

Dem kann ich leider nicht zustimmen. Doch: Ich ängstige mich täglich. Ich habe Angst davor, die neuesten Nachrichten über den Ukraine-Krieg zu hören, über Israels Kampf gegen die Hamas. Ich habe Angst zu erfahren, wie schnell sich unsere Erde erwärmt und welche Naturkatastrophen uns in 2024 bevorstehen. Ich habe Angst in Anbetracht der drei bevorstehenden Landtagswahlen, wie stark die AFD werden wird und damit die Aushöhlung unserer Demokratie fortschreitet.

Ich habe Angst davor, dass Donald Trump noch einmal amerikanischer Präsident werden wird. Ich habe Angst davor, dass Amerika dann die NATO verlässt. Usw. und so fort. …

Wobei Paulus im nächsten Satz sich selbst relativiert: „Uns ist bange, aber wir verzagen nicht. Wir leiden Verfolgung, aber wir werden nicht verlassen. Wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um.“ Und – Höhepunkt dieser Aufzählung: „Wir tragen allezeit das Sterben Jesu an unserem Leibe, auf dass auch das Leben Jesu an unserem Leibe offenbar werde.“ (V.8b-10)

Da gehe ich mit: „Mir ist bange“. Und was hilft mir da der Gedanke: Ich trage das Sterben Jesu an meinem Leib? Auf dass auch das Leben Jesu an meinem Leibe offenbar werde. … Das verstehe ich nicht. Ich trage meine Hose an meinem Leib, mein Hemd, heute und jetzt gerade meinen schwarzen Talar. Aber das Sterben Jesu auf dass das Leben Jesu offenbar werde. Was meint Paulus damit?

Wie kann das gehen?

„Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein – oder er wird nicht sein.“

Mystiker sein bedeutet zuallererst: Da weiter zu denken, wo ich etwas nicht verstehe. Weiterzudenken und sich von den Gefühlen der Ablehnung, die sagen: „Das ist Blödsinn der höheren Art!“ sich nicht durcheinander bringen zu lassen. Natürlich ist der Satz symbolisch gemeint. Mystiker sein heißt, das Denken im Konkreten zu verlassen. Der Heilige Johannes vom Kreuz hat das die „Dunkle Nacht der Sinne“ genannt. Auf sie kann ich mich einlassen, wenn ich weiter denke, ohne mir etwas vorstellen zu können. Wenn ich das Leben Jesu an meinem Leibe trage, dann versuche ich aus der Liebe heraus zu leben. Und zwar so, dass ich meinen Hass, meine „hässlichen“ Gefühle nicht unterdrücke. Dass ich sie anerkenne als meine eigenen, zu mir gehörigen. Dann ist Schluss mit meiner Sehnsucht nach Harmonie. Und meinem Selbstbild, ein guter Mensch zu sein…. Das ist die Bedeutung des Sündenbekenntnisses am Beginn eines Gottesdienstes. Es geht um die Anerkennung meiner eigenen, hässlichen Seiten. Erst wenn dies möglich wird, muss ich meine Mitmenschen nicht mehr als Projektionsflächen für meine eigenen vermeintlich unannehmbaren Empfindungen verwenden. Es bedarf einer dunklen Nacht, um mich selbst kennen und verstehen zu lernen. Unser Verstand funktioniert nur in der Sonne vermeintlichen Verstehens. Sie belichtet ihn. Der Mystiker verlässt diese Verstandes-Sonne und begibt sich freiwillig in die dunkle Nacht. Damit aber verlässt er sich nicht länger auf seine Sinne, auch nicht auf seinen Verstand. Nicht einmal auf Gott, denn auch er ist in dunkler Nacht verschwunden. Was bleibt dann?

Nichts mehr.

Schweigen ist die Sprache Gottes, sagt Rumi.

In dieser dunklen Nacht erkenne ich mein Nicht-Wissen an.

Ich weiß nicht, wie es mit unserer Demokratie weiter geht.

Ich weiß nicht, ob die militärischen Konflikte zu einem III. Weltkrieg führen.

Ich weiß nicht, ob die christliche Kirche, ob unsere protestantische Kirche noch eine Zukunft vor sich hat. Das Leben Jesu am Leibe tragen heißt für mich: Ich weiß nicht, wie es weiter geht, ich weiß nicht wohin mich mein Weg führt.

Der Christ der Zukunft wird eine Mystiker sein …

Er geht seinen Weg, den er nicht findet, weil er ihn nicht kennt.

Es ist ein wegloser Weg.

Am letzten Montag traf hier sich hier im Gemeindehaus ein kleiner Kreis von Christen zum Thema Kirchenaustritte. Zum ersten Mal sind die Mitglieder der beiden christlichen Religionen in Deutschland in der Minderheit – d.h. unter 50 Prozent. Es hieß: So weit ist es schon gekommen. Zum Schluss müssen wir noch erleben, dass in Deutschland am Freitag der Muezzin zum Gebet ruft.

Das scheint unannehmbar zu sein. Die zugehörige Emotion ist eine Mischung aus ärgerlicher Empörung und Angst.

Gegenfrage: Ja und? Was wäre denn daran so schlimm? Nur weil es nicht in unsere Kultur passt? Dass wir überfremdet werden?

Ich kann mich noch erinnern, als in Pullach im Jahr 1960 das Predigerseminar der VELKD gebaut worden ist. Da hieß es: Das ist ja unmöglich. So eine Backsteinbau passt überhaupt nicht nach Bayern. Und schon gar nicht in unser schönes Pullach.

Wer bestimmt eigentlich, wohin was passt?

Angst macht eng – Liebe macht weit.

Ich brauche für mein gelebtes Christ-Sein doch kein Kreuz! Und warum sollte mich der Islam in meinem Glauben verunsichern. Rumi, ein bekannter und bedeutender Mystiker, – ich zitiere ihn gerne – war Muslim. Er hat wunderschöne berührende Texte geschrieben. Mein Glaube ist doch nicht an eine Konfession gebunden.

Mein gelebtes Christ-Sein kommt aus mir heraus, aus meiner inneren Verbindung mit etwas unbedingten, schlechthinnigen Gutem. Ich nenne dies Jesus Christus. Und ich bin weit davon entfernt, jemanden des Unglaubens zu bezichtigen, der es „Mohammed“ oder „Allah“ nennt. Oder „Jahwe.“ Ich habe auch keine Einwände, wenn wir uns überlegen, wie wir christlichen Glauben, wie wir Gottesdienste „attraktiver“ machen können. Aber das ist nicht das Zentrum. Das Zentrum ist meine, unsere Authentizität. Dass wir nicht ins Schwafeln kommen, wenn wir gefragt werden, glaubst du an Gott?

Ja, ich glaube an Gott. Ich glaube, dass er sich in Jesus Christus als liebevoller und uns zugewandter Gott gezeigt hat. Ich glaube, dass es meine lebenslange Aufgabe als Mensch und Christ ist, diese Gott, seine Freundlichkeit, seine Güte, seine Barmherzigkeit immer tiefer zu verinnerlichen. Der Prozess der Verinnerlichung setzt voraus, dass ich die Kraft in mir finde, Gott nicht als etwas Konkretes zu denken. Gott als Vater, als Sohn, als Heiliger Geist sind Krücken für mein Denken und Erkennen. Gott an sich ist (jedenfalls für mich) unerkennbar.

Aber ich kann jeden Tag versuchen, mein Leben als liebevolles Zuwenden zu dem, was gerade ist, zu leben. Dazu benötige ich die Kraft des liebevollen Zuwendens an das, was ist. Mit ihr kann ich mich verbünden. Und ich kann mir Mühe geben, mich von der scheinbaren Erleichterung, die ich mir durch ausgrenzen, abspalten und kommunizieren verschaffe, nicht verführen zu lassen. Und wenn ich dann merke, dass etwas in mir sagt: Bist du blöd? Du lässt dich überfremden, verlierst deine eigene Identität, das darfst du dir nicht bieten lassen … dann erlebst du, was es heißt, das Sterben Jesu am Leib zu tragen … auf dass sein Leben an deinem Leib offenbar werde, AMEN.

Predigt über 2. Korinther 4, 6 – 10 am letzten Sonntag nach Epiphanias 2024 Weiterlesen »

Predigt über 1. Johannes 2, 12-14 am 22.Sonntag nach Trinitatis 2023

„Liebe Kindlein!“

So spricht der Verfasser des Johannesbriefes immer wieder seine Leser an.

„Liebe Kindlein, ich schreibe Euch, dass Euch die Sünden vergeben sind um seines Namens will“ Damit beginnt unser heutiger Predigttext am 22. Sonntag nach Trinitatis, in dessen Mittelpunkt das Nachdenken über „Vergebung“ steht. Er steht im 1. Johannesbrief (2, 12 – 14)

„Bei dir ist Vergebung, dass man dich fürchte…“ (Ps. 130, 4) Dieses Psalmzitat gab unserem heutigen Gottesdienst sein Thema.

Vergebung und Fürchten? Passt das zusammen?

Gemeint ist: Das Erleben von Vergebung führt zu Respekt vor dem Anderen, führt zu Dankbarkeit. Es führt dazu, dass ich mich erleichtert fühle. „Was bin ich froh, dass du jetzt nicht sauer bist!“ „Ich weiß schon, ich habe was verbockt, einen Termin vergessen, dich gekränkt, wie auch immer … und ich bin freudig überrascht, wie du damit umgehst. Ich danke dir für deine Weite, für dein Verständnis …“

Vergebung ist ein Geschehen, das kann man nicht machen. Das hat es mit den anderen wesentlichen Geschehnissen gemeinsam, die diese Welt schön und lebenswert machen.

Friede, Liebe, Dankbarkeit, Freude – all dies ist unserem „Machen-Können“ entzogen. Alles, was wir „machen“ können, alles, was wir dazu beitragen können, ist: Es zulassen, uns dafür zu öffnen.

Und dankbar zu ein. „Hätte der Mensch nicht mehr mit Gott zu schaffen, als dass er dankbar ist, es wäre genug.“ (Meister Eckhart, Predigt 34)

Der Gegenspieler dieses Geschehens ist die Angst davor, „sich etwas zu vergeben.“ Sich etwas vergeben bedeutet: Das darf ich unter gar keinen Umständen zulassen. Damit würde ich ja mein Gesicht verlieren.

Diese Gedanken vollziehen sich zunächst einmal in einem selbst.

Sie sind reflexhaft.

Sie sind Ausdruck eines Abwehr-Reflexes.

Es stemmt sich etwas dagegen, wehrt sich „mit Händen und Füßen“.

„Das darfst du unter gar keinen Umständen zulassen!“ sagt eine Stimme, die nicht vergeben kann – und die auch gar keine Vergebung will.

Weil sie keine braucht.

„Ich danke dir Gott, dass ich nicht bin wie die anderen Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch dieser Zöllner“, betet der Pharisäer (Lukas 18,11).

Er braucht keine Vergebung der Sünden. Er kann damit auch gar nichts anfangen.

Muss er natürlich auch nicht.

Vergebung ist was für die Sünder, sagt er. Gott sei Dank gehöre ich nicht zu ihnen!

Es ist nur so – und das ist ein Naturgesetz: dass es kein Licht gibt ohne Schatten gibt; genauso wenig gibt es den Tag ohne die Nacht, gibt es das Gute ohne das Böse…

Indem wir unseren eigenen Schatten exkommunizieren, verunmöglichen wir es unserem Licht zu leuchten! Die Folge davon ist, dass sich unsere Welt eintrübt. Dass ein Nebel unsere Seelenlandschaft überzieht – der verhindert, dass das Licht unserer Seelen-Sonne leuchtet. Sie ist fahl geworden, irgendwie halblebig: nicht Fisch, nicht Fleisch.

Und es gibt noch eine tragische Folge davon, wenn wir unseren eigenen Schatten exkommunizieren: Er verschwindet nämlich nicht einfach. Stattdessen überschattet er das Leben der Anderen. In die Vorannahmen und Vorurteile über die „Anderen“ haben sich unsere eigenen Schattenseiten verkrochen.

Unser heutiger Predigttext ist ein wunderbares Beispiel für die Abwehr der Schattenseiten unseres Auf-der-Welt-Seins. Ich lese Ihnen jetzt zur Gänze vor:

„12 Liebe Kindlein, ich schreibe euch; denn die Sünden sind euch vergeben durch seinen Namen.

13 Ich schreibe euch Vätern; denn ihr kennt den, der von Anfang ist. Ich schreibe euch Jünglingen; denn ihr habt den Bösewicht überwunden.

14 Ich habe euch Kindern geschrieben; denn ihr kennet den Vater. Ich habe euch Vätern geschrieben; denn ihr kennt den, der von Anfang ist. Ich habe euch Jünglingen geschrieben; denn ihr seid stark, und das Wort Gottes bleibt bei euch, und ihr habt den Bösewicht überwunden.“ (1. Joh. 2,12-14)

Ende gut – alles gut!

Also gehen wir beruhigt nach Hause.

Dann hätten wir uns einmal mehr bestätigt, dass wir auf der richtigen Seite des Lebens, „on the sunny side of the street“ sind.

Und wo bleiben die Schattenseiten? Die tauchen in den beiden Versen auf, die unseren Predigttext umrahmen.

Zum Beispiel im Vers davor (11): „Wer aber seinen Bruder hasst, ist in der Finsternis und wandelt in der Finsternis und weiß nicht wohin er geht, weil die Finsternis seine Augen verblendet hat.“

Oder – noch deutlicher – Vers 15-16: „Liebt nicht die Welt noch was in der Welt ist! Wenn jemand die Welt liebt, ist die Liebe des Vaters nicht in ihm: denn alles, was in der Welt ist, die Begierde des Fleisches und die Begierde der Augen und der Hochmut des Lebens, ist nicht vom Vater, sondern ist von der Welt.“

Schüchterne Gegenfrage: Ich dachte immer, der Vater ist es, der diese Welt geschaffen hat. Und zwar mit allem, was darinnen ist. Jetzt heißt es auf einmal, wer die (vom Vater geschaffene) Welt liebt, der ist aus der Liebe des Vaters herausgefallen.

Liebe Gemeinde!

Wenn ich Gottesdienst halte, ist das erste Gebet, das mir wichtig ist, das aus meinem Herzen kommt: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ Es ist das Sündenbekenntnis. Es gibt die Meinung: Das ist typisch protestantisch. Du wirst zunächst einmal als Sünder angesprochen und nicht als Getaufter, als einer, dem durch die Taufe die Sünden vergeben worden sind.

Ich meine: Vergebung kann ich nur erleben, wenn ich auch den Mut habe, mich als Sünder zu erleben. Solange ich überzeugt davon bin, dass ich schon alles richtig mache, solange ich keine Sünde bei mir finde – solange kann ich mit Vergebung nicht viel anfangen. Oder anders: Solange bleibt mein Sündenbekenntnis hohl. So wie das des Pharisäers.

Und es gilt auch anders herum: Vergebung kann ich nur dann erleben, wenn ich mich als gerechtfertigt, oder moderner ausgedrückt, wenn ich mich im Großen und Ganzen als „in Ordnung“, als einen Menschen erlebe, der schon recht ist, so wie er ist. Ich kann mich meinen Schattenseiten nur dann zuwenden, wenn ich einen Ort in mir finde, der mir Sicherheit gibt. Dieser Ort ist meine gesunde Selbstliebe die untrennbar ist von meiner gesunden Gottesliebe.

 

Weder der „ewige Sünder“ noch der der durch die Taufe „Sündenfreie“ kann Vergebung erleben.

Es geht um das „Zugleich“: „Zugleich Sünder zugleich gerechtfertigt“.

Um dieses Zugleich hat Martin Luther bis zur Mitte seines Lebens gerungen.

Es zu „erreichen“ bedeutet, Widersprüchliches, Ambivalentes auszuhalten. Auszuhalten, dass es das „eine Perfekte“ oder „Eindeutige“ in dieser unserer Welt nicht gibt.

Oder – anders ausgedrückt: Dass auf und in dieser unserer Welt zu leben heißt: Abschied zu nehmen vom Paradies und von der Sehnsucht nach dem Paradies..

In der großartigen Dichtung von John Milton, „Paradise lost“ (Das verlorene Paradies) ist es Satan, der den Weg in die Realität, in die Wirklichkeit – so wie sie halt ist – nicht gehen kann. Gut und böse, hell und dunkel, leicht und schwer, heiter und traurig usw. Die Wirklichkeit ist immer etwas Vermischtes. Und das ist gut so!

Unser Predigttext rät dazu, die Ambivalenz zu vermeiden, indem alles Unerwünschte exkommuniziert wird. Dies ist in totalitären Systemen üblich. Womit man nichts zu tun haben will, wird ausgeschieden. Man nennt es das Reich des Bösen, der Finsternis oder des Satans. Übrig bleibt ein vermeintliches Reich des Guten, der Rechtgläubigen usw. Wie grausam und voller Hass dieses Reich ist, bekommen wir aktuell im Iran und in Afghanistan mit. Und natürlich in allen Sekten, die es auf dieser Welt gibt. (In Klammern: Ich empfehle das Buch „Unorthodox“ von Deborah Feldman. Es handelt vom Aufwachsen in einer chassidischen Sekte.)

Es ist eine tragische Ironie, dass die vermeintliche Ausscheidung oder Ausrottung des Satans seine Herrschaft stärkt.

Und es ist die Fähigkeit zur Integration der verschiedensten auch widersprüchlichen Kräfte, die uns Menschen stark macht und uns vor dem Sog destruktiver Triebe schützt. Integration ist eine Fähigkeit, die verbindet, die verschiedene sogar widersprüchliche Seiten wahrnehmen kann ohne sie ausscheiden zu müssen.

Politisch ausgedrückt ist die Fähigkeit zur Integration die Fähigkeit zur Demokratie.

Eine starke Quelle für diese Fähigkeit aber ist die Kraft der Vergebung. Der Vergebung von beiden Seiten:

Meinem Nächsten zu vergeben und mir selbst vergeben zu lassen.

Das vorhin gehörte Gleichnis vom Schalkssknecht lässt sich leider dazu verwenden, als würde der, der nicht dankbar ist, der das Geschenk Gottes nicht annehmen kann, von Gott bestraft werden.

Dem ist nicht so.

In Wirklichkeit bestraft er sich sich selbst. Die Wirklichkeit ist, dass er gar keine Vergebung erleben konnte. Oder, anders ausgedrückt, dass er sich auf „Vergebung“ nicht einlassen konnte.

Das Erleben von Vergebung tut nämlich weh. Und vor der Freude darüber steht der Schmerz. Der Schmerz des Erlebens der eigenen Härte, Kälte, der eigenen Hartherzigkeit.

Um diesen Weg gehen zu können, um sich darauf einlassen zu können, bedarf es einer Liebe, die wir wiederum uns nur schenken lassen können.

Gott sei mir Sünder gnädig heißt auch: Schenke mir das Licht der Liebe, das ich benötige, um meine Schattenseiten zu beleuchten.

Ehrliche und radikale Selbsterkenntnis ist nur möglich im Licht der Liebe. (Im Hebräischen ist Liebe und Erkennen derselbe Wortstamm.)

In diesem Licht wird mein Blick weicher, mein Herz wärmer, mein Auftreten zugewandter.

In diesem Licht kann ich auch barmherzig auf unseren Predigttext blicken.

In diesem Licht sehe ich den anderen Satz aus dem ersten Johannesbrief, der so wahr ist:

„Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott in ihm.“ (1. Joh. 4,16) AMEN.

Predigt über 1. Johannes 2, 12-14 am 22.Sonntag nach Trinitatis 2023 Weiterlesen »

Predigt über Exodus 20, 1 – 17 am 18. Sonntag nach Trinitatis 2023

Predigt über Exodus 20, 1 – 17 am 18. Sonntag nach Trinitatis 2023

Liebe Gemeinde,

Dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, auch seinen Bruder liebt.“ Mit diesem Gedanken aus dem ersten Johannesbrief begann unser Gottesdienst. Dann haben wir von Jesus selbst die Mitte seiner eigenen Predigt gehört: „Du sollst Gott, deinen Herren, lieben von ganzen Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt …“ und: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“.

Und Jesus gibt uns dazu noch eine Handlungsanweisung:

„Verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm, folge mir nach!“ (Markus 9, 21b) Dies sagte er zu „einem“, nachdem er „ihn lieb gewonnen“ hatte. Und die Reaktion des Unbekannten war: „Er wurde betrübt über das Wort und ging traurig davon; denn er hatte viele Güter.“ (ebd. Vers 21).

Ich kann mich sofort mit dem Unbekannten identifizieren. Nehme ich die Aufforderung Jesu wörtlich und beziehe sie auf mich, heißt das: Ich muss mein Haus in Pullach und mein für meine Altersvorsorge Erspartes verkaufen und den Erlös an Bedürftige spenden. Dann folge ich Jesus nach.

Wenn das so ist, denke ich mir, dann werde ich dir nicht nachfolgen. Und – ja – dann habe ich halt keinen Schatz im Himmel. Das ist dann halt so! Und ich bin auch nicht an erster Stelle betrübt, sondern ich bin zunächst einmal ärgerlich. Was wird da von mir verlangt? Nein – das kann ich nicht und das will ich auch nicht!

Aber: Ist es wirklich so gemeint? Angenommen, ich würde es doch tun – würde ich damit wirklich Gott, den Herren, von ganzem Herzen lieben … und meinen Nächsten wie mich selbst? Ich bin mir da nicht so sicher. Ich möchte das mal so stehen lassen – um mich in Ruhe unserem heutigen Predigttext zuwenden zu können. Und vielleicht ergibt sich daraus ja sogar eine Antwort …

Liebe Gemeinde,

den Predigttext für den heutigen Sonntag kennen Sie alle: Es sind die Zehn Gebote, der sogenannte Dekalog. „Dekalog“ ist griechisch und heißt wörtlich: „Zehn Worte“. Und genau so werden die „Zehn Gebote“ in der jüdischen Tradition auch genannt (vgl. Exodus 34, 28: „Und er (Mose) schrieb auf die Tafeln des Bundes, die zehn Worte.“)

F. Weinreb schreibt: Die zehn Worte haben nicht so sehr den Charakter, dass man etwas tun muss – „es sind vielmehr Hinweise auf den rechten Weg, den man in der Überzeugung, dass das auch gut ist, gerne gehen will. Wenn man jemand sagt, er solle eine Jacke anziehen, weil draußen ein schneidend kalter Wind weht, dann ist das nicht so sehr ein Gebot als vielmehr ein Hinweis im Interesse des Betreffenden.“ (S. 751-752)

Was noch nicht bedeutet, dass der Andere diesen Hinweis ernst nimmt und ihn auch verwirklicht. Wir leben in einer Zeit, in der ein „Das sehe ich gar nicht ein!“ Hochkonjunktur hat. Nur so ist zu verstehen, dass die Trotz- und Mit-mir-nicht-Parteien erheblichen Zulauf genießen. Hört man sich ihre Botschaften genauer an, merkt man, dass es selten um Sachargumente geht. Stattdessen gibt es Emotionen: vor allem Wut und Empörung. Der Duktus ist: „Wir lassen uns doch unsere Freiheit nicht nehmen!“

Diese Reaktion ist im übrigen nicht neu. Als Moses mit den 10 Worten vom Sinai herab kam, fand er sein Volk tanzend um das „goldene Kalb“ vor. Auch er konnte seine Gefühle nicht halten. Vor Wut entbrannt, warf er „die Tafeln aus der Hand und zerbrach sie unten am Berge“ (2. Mose 32, 19). Und davor konnte Gott selbst seinen Zorn nicht halten: „Und der Herr sprach zu Mose: Ich habe dies Volk gesehen. Und siehe, es ist ein halsstarriges Volk. Und nun lass mich, dass mein Zorn über sie entbrenne und sie verzehre.“ (ebd. V. 10a). Wir können darauf lernen:

Erstens: Wir Menschen sind hoch aggressive Lebewesen.

Zweitens: Es gibt eine naheliegende destruktive Bewegung: Enttäuschung führt zu Zorn, Zorn für führt zu Hass, Hass führt zu Vernichtung.

Die Zehn Worte sind eine Art Brandmauer gegen diese Destruktion.

Die nur dann und solange hält, wie sich Menschen von ihnen erreichen lassen.

Das Wort „Gebot“ gehört im übrigen zum Stamm „bieten“. Dies geht wiederum auf die indogermanische Wurzel „*bheudh-“ zurück und bedeutet: „erwachen, bemerken, geistig rege sein,aufmerksam machen, warnen, gebieten“ (vgl. Duden, Herkunftswörterbuch Band 7, S. 81) Auch in „Buddha“, der „Erwachte“, ist es enthalten. Erwacht aber bedeutet für mich nichts anderes, als die Wirklichkeit mit beiden Augen zu sehen. So kann ein „ein-heitlicher“ Blick entsteht. Dies geht nur in einer permanenten Feinabstimmung zwischen dem linken und dem rechten Auge.

Die Zehn Gebote sind für mich „Zehn Worte“ für einen ganzheitlichen Blick auf mich selbst, auf meine Mitmenschen, auf die ganze Welt. Aus diesem Blick heraus folgt von selbst die Lebenshaltung des Erwachten.

Jesus hat diese Haltung zusammengefasst und komprimiert in seinem sogenannten Doppelgebot der Liebe: „„Du sollst Gott deinen Herren, lieben von ganzen Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt …“ und: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“.

Und Augustinus hat gesagt: Liebe – und mach, was du willst!“ (Ama, et fac quod vis!)

Und Meister Eckhart hat auf die Frage, was das Wichtigste ist im Leben sei, geantwortet:

„Die wichtigste Zeit ist stets der Augenblick.
Der wichtigste Mensch ist stets der, der dir gegenüber ist.
Und das notwendigste Werk ist zu lieben.“

In den Zehn Worten geht es um die Verwirklichung des erlebten Glaubens an einen befreienden Gott. In der Überlieferung wird darauf hingewiesen, dass den zehn Schöpfungsworten zu Beginn der 5 Bücher Mose die „Zehn Worte“, die Gott seinem Volk inmitten der Wüste gibt, gegenüberstehen.

Die Schöpfungsworte beginnen mit dem 2. hebräischen Buchstaben, dem Beth. „Bereschit bara …“ (Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.)

Die „Zehn Worte“ beginnen mit dem Alef, dem ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets. Mathematisch ausgedrückt handelt es sich um die Bewegung von der Zwei zur Eins. Psychodynamisch geht es um das Aufgeben von Ambivalenzen und Spaltungen hin zu einer neuen, integrativen Einheit; zu etwas Ganzheitlichem. Die „Zehn Worte“ sagen nicht direkt aus, wie diese Einheit zu denken ist. Sie sagen vor allem aus: Worauf zu verzichten ist, was zu unterlassen ist auf dem Weg des Erlebens von Ganzheit. Darin gründet ihre überwiegend negative Formulierung: Acht Worte sind negativ formuliert. Nur zwei Worte sind bejahend: „Gedenke des Sabbattages“ und „ehre deinen Vater und deine Mutter“.

Das Fundament dieses Lebens ist ein Leben aus der Liebe heraus. Einer Liebe, die vor uns da war und nach uns da sein wird. Es ist eine Liebe, die befreit. So ist zu verstehen, dass der erste Satz der 10 Worte lautet: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft herausgeführt habe.“ (Exodus 20, 2) „Ägypten“ heißt im Hebräischen „mizrajim“ was wörtlich bedeutet: „Das Leiden an der Zweiheit“ (Weinreb). Die Bibel, das Alte Testament, bezeichnet dieses „Leiden an der Zwei“ als „Sklaverei“. Es versklavt unser Denken.

Wie ist das zu verstehen? Zunächst einmal funktioniert menschliches Denken in Zweiheit – also digital. Indem ich „das Eine“ denke, wird implizit „das Andere“ mit gedacht. Wenn ich „rechts“ sage, schließe ich ein, dass es auch „links“ gibt. Wenn ich „gut“ sage, schließe ich ein, dass es auch „schlecht“ gibt. Wenn ich falsch sage, schließe ich ein, dass es ein richtig gibt. Das „Leiden an der Zwei“ ist ein „Leiden an der Bewertung“. Und wir bewerten unentwegt. Und wir werden unentwegt bewertet.

Es sind die Mystiker, die „hinter“ dieses Geschehen geblickt, gedacht haben.

„Es gibt einen Ort, jenseits von falsch und richtig. Dort treffen wir uns.“ (Rumi) Die 10 Worte sind nichts anderes als Markierungen in diesem Land – jenseits von falsch und richtig. Und sie beginnen spannender Weise nicht mit einem „du sollst…“ sondern mit: „Ich bin!“ „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägyptenland (dem Land der Sklaverei) herausgeführt hat.“

Im Land jenseits von falsch und richtig steht nicht das Machen im Mittelpunkt – sondern das Sein. Aus ihm heraus folgt kein mechanisch-unbewusstes Machen. Aus ihm heraus folgt bewusstes Handeln. Wenn ich weiß, wer ich bin, weiß ich auch, was ich auf dieser Welt zu tun habe.

Die zehn Worte sagen: „Ich bin der, der dich aus dem Land, in dem du versklavt worden bist, herausgeführt hat. Du bist jetzt frei. Und jetzt sage ich dir, worin sich deine Freiheit realisiert: Als Befreiter wirst du nicht länger „fremde Götter neben mir haben“; „du wirst dir keine Bilder machen“, „du wirst den Namen Gottes nicht missbrauchen“, „du wirst den Sabbat heiligen“, „du wirst deinen Vater und deine Mutter ehren“, „du wirst nicht töten“, „du wirst nicht ehebrechen“, „du wirst nicht stehlen“, „du wirst kein falsch Zeugnis reden“, „du wirst nicht begehren, deines Nächsten Haus“.

„Der Ort jenseits von falsch und richtig“ ist da, wo nichts ist. Er ist nicht zu finden, weil er nicht ist. Das Alte Testament veranschaulicht dieses „Nichts“ als „Wüste“ – den Ort der „Leere“ oder den Ort des „Nichts“. Ein anderer Mystiker, der Heilige Johannes vom Kreuz, beschreibt diesen Ort so: „Hier gibt es keinen Weg mehr, denn für den Gerechten gibt es kein Gesetz. Er ist sich selber Gesetz.“ Der „Pfad“ dort hin, so Johannes vom Kreuz, ist „nichts, nichts, nichts, nichts.“

Wilfred Bion, der Mystiker unter den Psychoanalytikern, sagt: Die Haltung des Therapeuten in einer Therapiestunde ist: „Ohne Erinnerung, ohne Wunsch und ohne Verstehen.“ (without memory, without desire, without understanding) Oder, poetischer ausgedrückt: Psychoanalyse bedeutet (für mich), sich gemeinsam mit dem Patienten Stunde um Stunde in die Wüste zu begeben.

Damit verbinde ich Jesu Satz: „Verkaufe alles und gib es den Armen!“

Heißt: Lass all das los, woran du dich klammerst, womit du dein Leben füllst, woran du dein Herz hängst. In diesem Loslassen geschieht deine Befreiung. Für Johannes ist dieses Loslassen der „Pfad der Vollkommenheit“. Und er meint mit „Vollkommenheit“ die „Gleichgestaltung“ oder das „Einswerden“ mit Gott.

(Bion nennt das „becoming O“.)

Ein persönliches Bekenntnis am Schluss:

Ich bin der tiefen Überzeugung, dass uns Menschen eine gottlose Gesellschaft überfordert. Der Atheist Gregor Gysi hat kürzlich gesagt: „Ich glaube zwar nicht an Gott, aber ich möchte auch keine gottlose Gesellschaft.“ Ich auch nicht. In ihr sind wir nämlich unseren destruktiven Trieben und unseren narzisstischen Attitüden schutzlos ausgeliefert. Sie sind es, die uns versklaven und am Ende zerstören. Was wir brauchen ist die starke Verbindung mit einem barmherzigen und freundlichen Gott, der uns unsere „Fehler“ vergibt. Nur diese Verbindung kann uns vor uns selbst, vor unserer Destruktivität retten. Ob dieser „“Gott“ Allah, Jahwe, Christus oder Om heißt, ist demgegenüber zweitrangig.

Wir brauchen einen Gott, der uns lehrt, gütig zu werden: Im Umgang mit uns selbst und mit allen Lebewesen, die uns anvertraut sind. Dazu helfe uns jener Gott, der sich in seinem Sohn als die schlechthinnige Liebe offenbart hat. Der Weg zu ihm aber ist ein Weg des Loslassens von allem.

Oder, wie Johannes sagt: Der Pfad des Nichts. AMEN.

Predigt über Exodus 20, 1 – 17 am 18. Sonntag nach Trinitatis 2023 Weiterlesen »

Predigt über Lukas 17, 11-19 am 14. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Gemeinde,

was haben die folgenden Sätze gemeinsam?

„Jetzt hab‘ ich mir soviel Mühe für die Vorbereitung des Gottesdienstes gegeben. Und jetzt sind nur so Wenige gekommen Menschen.“

Oder: „Jetzt bin ich stundenlang in der Küche gestanden, um so was Leckeres zu kochen – und jetzt sagst du, dass du keinen Hunger hast … „

Oder, als Reaktion auf einen Therapieabbruch: „Ich hab mich in Ihnen getäuscht. Ich dachte, Sie wollten ernsthaft an sich (therapeutisch) arbeiten …“

Oder: „Ich habe doch immer so gesund gelebt. Und jetzt bekomme ich die Diagnose Krebs. Das glaube ich nicht!“

Oder – aus unserem Predigttext -: „Sind nicht die zehn rein geworden. Wo sind aber die neun? Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrt, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde?“

Der Inhalt dieser Sätze ist sehr unterschiedlich.

Und doch gibt es eine Verbindung, eine Klammer.

Es geht um ein Gefühl. Umgangssprachlich heißt dieses Gefühl: „Frust“.

Zu deutsch: „Enttäuschung“.

In allen Sätzen spricht jemand, der enttäuscht ist.

Enttäuschung gibt es, weil es Erwartungen gibt. Das Gefühl der Enttäuschung entsteht, wenn eine Erwartung nicht eintrifft. Wenn ich mir eingestehen muss: Ich habe mich in dem, was ich erwartete getäuscht.

Enttäuschung ist ein schmerzhaftes Gefühl, ein Gefühl, das so gar keinen Spaß macht,

Und: Enttäuschungen gehören zum Leben dazu. Sowohl für kleine als auch für große Menschen.

„Ich war mir so sicher, dass ich hier der Prinz/die Prinzessin bin. Und jetzt wird mir ein Geschwister vor die Nase gesetzt. Was soll denn das?“

Und weil Enttäuschungen sehr unangenehme Gefühle mit sich bringen, tun wir Menschen – egal ob klein oder groß – viel dafür, sie nicht spüren zu müssen.

Deshalb ziehen wir Menschen es vor, in Täuschungen oder auch Illusionen zu bleiben.

Wir wollten doch allesamt nicht wahrhaben, dass Putin zu solch einem brutalen Krieg im Stande ist. Dabei hat sein Engagement in Syrien genau das gezeigt. Dabei hat er gestz- und völkerrechtswidrig 2014 die Krim besetzt und annektiert.

Oder: Noch immer gibt es Menschen, gerade auch unter Politikern, die nicht wahrhaben wollen, dass es einen von uns Menschen gemachten Klimawandel gibt, der ein hohes zerstörerisches Potential hat. (Erstmals hat der Club of Rome in einer Studie aus dem Jahr 1975 darauf hingewiesen.)

Auf der anderen Seite ist es wohl so, dass wir Menschen zum Leben, zum Überleben, Illusionen brauchen. Die Bereitschaft, diese Illusionen aufzugeben, erfordert sehr viel Kraft,. Es ist ein Weg in die Nüchternheit, in die Anerkennung der nüchternen Wirklichkeit. Die Populisten aller Zeiten verführen damit, dass es gut ist, sich der Wirklichkeit nicht zu stellen. Dass es gut ist, sich den eigenen Illusionen hinzugeben, die eigene Lust zu leben. Die Realisten werden gerne als „Untergangspropheten“ oder „Moralapostel“ abgewertet und abgelehnt. Sie sind die „Miesmacher“.

„Es gibt keinen menschengemachten Klimawandel – wir nennen es Wetter“ ist z.B. so ein populistischer Satz. Ein Satz, der im Angesicht verheerender Waldbrände und Überschwemmungen etwas Zynisches hat.

Liebe Gemeinde,

ich habe heute über eine Geschichte aus dem Lukasevangelium zu predigen, die davon handelt, dass auch einem Jesus Gefühle der Enttäuschung nicht fremd gewesen sind. Nachdem er 10 Aussätzige geheilt hatte, kehrte nur ein einziger von den geheilten Aussätzigen zurück: „… und pries Gott mit lauter Stimme und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm.“ (Vers 15b)

Und Jesus? Wie reagiert er? Er nimmt ihn zunächst gar nicht zur Kenntnis, sondern ist mit sich und seiner Enttäuschung und Empörung beschäftigt: „Sind nicht die zehn rein geworden? Wo aber sind die neun? Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben als dieser Fremde?“ (Vers 17b-18).

Das Verhalten von diesem Jesus ist – jedenfalls für mich – schwer verdaulich. Genauer: Es passt nicht in mein persönliches (höchst subjektives) Bild, das ich mir von Jesus mache, Sein Verhalten erlebe ich als kalt, abweisend, von oben herab. Es scheint ihm überhaupt kein Bedürfnis zu sein, sich persönlich dem dankbaren geheilten Rückkehrer zuzuwenden. Jesus ist gekränkt, enttäuscht und verärgert. Anstelle sich zu freuen, dass da einer wirklich dankbar ist, wird er auch noch abgewertet: „dieser Fremde“ heißt es. Gut: In Jesus ist Gott Mensch geworden. Aber gleich so ein wenig sympathischer Mensch: Muss das sein?

Doch halt! Jetzt erlebe ich ja gerade selbst, wovon ich vorhin gesprochen habe: Über diesen Jesus bin ich enttäuscht! Gut – Gott ist Mensch geworden – aber für mich heißt Mensch-sein, gelernt zu haben, mit den eigenen Gefühlen von Enttäuschung umgehen zu können, sie bei sich halten zu können – und schon gar nicht, sie an Anderen auszulassen! Dies erwarte ich von mir, von Eltern, von Lehrern, von Vorgesetzten, von Pfarrern auch von Jesus. Wäre der „Fremde“ selbstbewusst gewesen, hätte er sagen müssen: „Ich wollte mich nur bei dir bedanken. Aber dir scheinen die Anderen wichtiger zu sein als mein Dank!“

Und schon wieder ruft eine Stimme in mir: Halt!

Wie oft hast du denn schon deine Enttäuschung an anderen Menschen ausgelassen?

Du solltest nicht etwas predigen, was du selber nicht kannst!

Und noch eins:

Die „Aussätzigen“ unserer Geschichte sind jene Menschen, mit denen niemand etwas zu tun haben will. Sie haben Lepra, und das ist hoch ansteckend. Also wurden sie aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Die Aussätzigen wurden „ausgesetzt“ – um die Gemeinschaft zu schützen.

Daraus erwuchs ihr Selbst-Verständnis: Wir sind die Ausgeschlossenen!

Von daher ist es doch sehr verständlich, wenn die große Mehrheit dieser Aussätzig-Ausgeschlossenen sich nicht für das Heil-Werden bedankt. Jesus, der Heiler, hat ihnen das genommen, wovon sie gelebt haben: Ihre Identität. Ihr Selbstverständnis. Und dafür soll man sich auch noch bedanken?

Wer den Mut hat, sich auf einen echten Veränderungsprozess einzulassen, der erlebt übrigens notwendiger Weise Gefühle von Verwirrung. Veränderung heißt „anders“ werden. Dazu gehört, dass man sich nicht mehr auskennt. Wirkliche Veränderung führt notwendig zum Verlassen des Vertrauten, zum Verlassen der „Komfort-Zone“. Echte Veränderung führt in Neuland. Und Neuland heißt: Ich kenne mich nicht aus. Habe keine vertrauten Ankerpunkte! Das ist übrigens meines Erachtens der entscheidende Grund, dass Psychoanalyse keine beliebte Therapieform ist. Wir Menschen mögen keine in die Tiefe gehende Veränderung. Sie verunsichert. Und Verunsicherung ängstigt! Am vertrauten Unglück festzuhalten hat einen riesigen Vorteil: Ich kenne mich aus.

Liebe Gemeinde,

jetzt ist passiert, was mir öfters passiert. Ich kenne mich nicht mehr aus!

Ich hatte mir vorgenommen, über Dankbarkeit bzw. Undankbarkeit zu predigen. Und bin bei der Frage nach Veränderung/Heilung herausgekommen. Das ist auch so ein Veränderungs-Geschehen im Entwerfen einer Predigt: Irgendetwas macht sich da selbstständig. Dieses „Irgendetwas“ ist der Fluss meiner Gedanken. Die suchen sich ihr ganz eigenes Flussbett – und mein Ich steht irgendwie blöd daneben. Wieder einmal ist es anders gekommen, als ich dachte: Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt …

Eigentlich wollte ich ja diese Predigt mit dem schönen Satz beginnen: „Ich danke, also bin ich!“ Es ist eine Abwandlung des berühmten Descartschen „cogito, ergo sum“ (Ich denke, also bin ich.) Nur ein einziger Buchstabe ist anders – und schon ergibt sich ein neuer Sinn. Aber: Ist das wirklich ein neuer Sinn – oder ein neuer Nicht-Sinn, ein Un-Sinn (Nonsense)? Das würde ja bedeuten, die Grundlage meines Lebens, meiner Existenz wäre der Dank. Dazu würde der Satz von Meister Eckhart passen: „Hätte der Mensch nicht mehr mit Gott zu schaffen, als dass er dankbar ist, es wäre genug.“ (Predigt 34, Deutsche Werke S. 374, 6)

Und bei Paulus – auf den sich Meister Eckhart bezieht – heißt es: „… eure Gedanken mögen in Danksagung oder Flehen bei Gott erkannt werden“ (Phil. 4, 6b)

Und wie gelange ich in solch eine Haltung der Dankbarkeit?

Dankbar sein ist etwas sehr anderes als danke zu sagen.

Danke sagen geht leicht und schnell.

Aber dankbar sein? Was ist das?

„Ich danke dir Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner…“ (Lukas 18,11) Das ist das Dankgebet eines Selbstgerechten. Das Gebet des Zöllners lautet: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ (ebd. 13c).

„Gott sei mir Sünder gnädig!“ Hier fehlt das Wort „danke“. Und doch führt der Weg in die Dankbarkeit über das Erleben des eigenen Unvermögens, des eigenen Nicht-Könnens. Der Weg aus den Illusionen, wie toll ich doch bin, und dass ich in allem recht habe, führt über das Sich-Eingestehen: Da habe ich mich getäuscht. So grandios, wie ich meinte, bin ich nicht. Erst wenn ich mir dies eingestehen kann, wenn ich mir mein „Sünder-Sein“ eingestehen kann, kann ich um Gnade beten. Und erst dann kann ich Barmherzigkeit erleben. Die Selbstgerechten, die Allwissenden, die Pharisäer brauchen keinen barmherzigen Gott. Und die in ihrem Sünder-sein stecken Gebliebenen, die um ihr „Fehler“ und Selbstvorwürfe Kreisenden . , die bekommen keinen barmherzigen Gott, weil sie meinen, dies stehe ihnen nicht zu.

Beide sind immun gegen das Erleben von Gnade geworden.

Wer meint, er kann aus sich heraus leben, und wenn es gerade nicht weiter geht, dann muss man sich halt neu erfinden – der braucht keine Barmherzigkeit, der braucht keinen Gott. Wer meint, seine Existenz ist es, vor Gott und auch sonst zu wenig zu sein – der muss Barmherzigkeit ablehnen. Der eine kann sich nichts schenken lassen, weil er alles schon selber hat, der andere kann sich nichts schenken lassen, weil er der Überzeugung ist, dies stehe ihm nicht zu. Beiden gemeinsam aber ist: Es ist gibt keine Bewegung hin zu einem neuen Leben in Gott. Und zwar ganz einfach deshalb: Weil die Bereitschaft fehlt, sich etwas schenken zu lassen.

Im Paradies ist es Satan, der damit verführt zu sagen: Wozu braucht Ihr Gott? Ihr seid doch selber Gott gleich. Lass Euch doch von diesem Gott nicht irgendwelche sinnlosen Verbote aufdrücken. Lebt, was Euch Spaß macht, esst, worauf Ihr Lust habt! Genau: Wir lassen uns doch unsere Lust am Essen nicht verbieten. Reist, wohin Ihr wollt und womit Ihr wollt! Genau: Wir lassen uns doch unsere Lust am Reisen nicht verbieten! Heizt, womit Ihr wollt. Genau: Was soll dieser Schwachsinn mit Wärmepumpen, Windrädern und Solarmodulen!

So gesehen ist Satan der erste Populist.

Er hat nicht die Kraft, „sein Joch“ auf sich zu nehmen, sich der Realität, der Wirklichkeit unseres menschlichen Lebens zu stellen. Er lebt in seinen Illusionen. Und es gibt für ihn keine Möglichkeit, diese zu modifizieren. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als für seine Art zu leben, zu werben und zu verführen. Die Populisten verführen mit einfachen Pseudo-Lösungen. Dies betrifft auch die Geschichte der christlichen Religion. Hier lautet die populistische Verführung: Wenn du brav bist und gottgefällig lebst, darfst du ewig im Paradies leben.

Anders unsere Vorfahren, Eva und Adam. Sie haben sich zunächst (auch) von Satan verführen lassen. Aber dann – und das ist entscheidend – machen Sie sich auf ihren ganz eigenen Weg. Dazu müssen sie das Paradies verlassen. Und indem sie dies tun, bejahen sie ihr Leben, bejahen das, was auf uns Menschen zukommt, wenn wir es wagen, erwachsen zu werden: Arbeiten, Kinder kriegen, alt werden und am Ende wieder verschwinden.

Übrigens: Dass das Verlassen des Paradieses nichts mit einem „bösen“ strafenden Gott zu tun hat, kann man an einem wunderschönen Detail erkennen, das gerne weggelassen wird:

„Und Gott der Herr machte Adam und seiner Frau Röcke von Fellen und zog sie ihnen an,“ (Genesis 3, 21). Gott macht das, was gute Eltern tun: Sie statten ihre Kinder damit aus, im Leben zurecht zu kommen. Dazu brauchen die Eltern die Kraft und die Fähigkeit, ihre Kinder ihren eigenen Weg gehen zu lassen.

Sie sein zu lassen.

Und wenn es heißt: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen“ (ebd. V. 19b.) – dann ist keine Drohung und auch keine Strafe in dem Sinne: Das habt Ihr jetzt davon, weil Ihr so böse gewesen seid und Euch nicht an mein Gebot gehalten habt.

Es ist vielmehr die Beschreibung dessen, was es heißt, als Erwachsener zu leben.

Ja, so ist das: Arbeit ist anstrengend. Wer meint, das Leben ist ein Ponyhof – auf dem man übrigens auch ins Schwitzen kommen kann – wer meint, Leben heißt, möglichst viel Lust zu erleben und Unlust zu vermeiden, der wird immer enger, immer starrer, immer abhängiger davon, dass er diese Lust erleben kann. Bis er am Ende süchtig geworden ist: süchtig nach Lust. Die Kehrseite davon ist der mörderische Hass auf alles, was seinem Lusterleben im Wege steht. Für die totalitären Herrscher ist das die Demokratie. Sie ist es deshalb, weil sie ein relatives System ist, das auf Diskurs und Meinungsverschiedenheit aufgebaut ist. Dies auszuhalten macht Un-Lust; und es verunsichert. Die Botschaft des Satans, die Botschaft der Populisten aber lautet: Wenn Ihr mir nachfolgt, braucht ihr keine Unlust erleben.

„Ich führe Euch herrlichen Zeiten entgegen“, hatte Kaiser Wilhelm II. zu Beginn des 1. Weltkriegs gesagt.

Jesus hat gesagt: „Wer mir folgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich täglich und folge mir nach.“ (Lukas 9, 23)

Und weiter: „Denn wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren; wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s erhalten.“ (ebd. V. 24) AMEN.

Predigt über Lukas 17, 11-19 am 14. Sonntag nach Trinitatis Weiterlesen »

Predigt über Matthäus 5, 13 – 16 am 8. Sonntag nach Trinitatis 2023

Liebe Gemeinde,

„seien Sie diese Salz und das helle christliche Matthäus!“

Dies kam mir als erstes entgegen, als ich „Auslegung zu Matthäus 5,13-17“ in Google eingab. Es handelt sich um die Werbung für ein T-Shirt mit der Aufschrift: „Be these Matthew 5,13“. Es wird als „atemberaubendes und trendiges Produkt“ beschrieben. Als ich das las, dachte ich mir: Wenn Jesus das mitbekommen hätte, er hätte sich im Grab umgedreht. Dieser Gedanke erheiterte mich, weil ich vergessen hatte, dass Jesus ja im Grab nicht zu finden ist.

„Ihr seid das Salz der Erde!“ Mit diesem bekannten Ausruf beginnt unser heutiger Predigttext, das vorhin gehörte Evangelium. Er findet sich am Beginn der Bergpredigt, in unmittelbarem Anschluss an die bekannten Seligpreisungen. Nimmt man diese Verbindung ernst, so hieße das:

Wer aus den Seligpreisungen heraus lebt, der wird zum Salz der Erde. Und der wird zum „Licht der Welt“, fügt Jesus hinzu.

Und so klingt das in unserem heutigen Predigttext:

13Ihr seid das Salz der Erde. Wenn aber das Salz fade wird, womit sollen wir salzen? Es ist völlig unbrauchbar geworden, wird weggeworfen und von den Leuten zertreten. 14Ihr seid das Licht der Welt. Die Stadt hoch auf dem Berg kann sich nicht verstecken. 15Niemand zündet ein Licht an und stellt es dann unter einen Krug. Es wird vielmehr auf den Leuchter gesetzt. Dann leuchtet es für alle, die im Haus sind. 16So soll auch euer Licht den Menschen leuchten, damit sie eure guten Taten sehen und euren Gott im Himmel loben.“

Vorab zwei Erklärungen: Erstens: Damals war Salz ein sehr wertvoller Stoff. Es wurde z.B. aus dem Toten Meer gewonnen und enthielt viele „Fremdstoffe“, Man konnte es nicht so gut reinigen wie heute, so dass es, einmal feucht geworden, nicht mehr als Gewürz zu gebrauchen war, da es sich auflöste.

Zweitens: Der Scheffel ist ein Hohlmaß. Damit wurde zum Beispiel Getreide gemessen. Ein Scheffel war relativ groß und man kann ihn sich wie eine Art Bottich vorstellen. Wenn man nun darunter ein Licht gestellt hat, dann war die Funktion des Lichtes zu leuchten nicht mehr gegeben. Es war völlig sinnlos, so etwas zu machen.

So weit – so gut:

Aber – und das ist jetzt die entscheidende Frage -:

Was bedeuten diese Sätze für uns, die wir heute leben, für die Salz in jedem Supermarkt für wenig Geld zu erwerben ist, genauso wie Kerzen oder Glühbirnen.

Ich weiß nicht wie es Ihnen geht: Aber ich reagiere empfindlich bis ablehnend darauf, wenn ich solche „Zuschreibungen“ bekomme. „Sei doch nicht so blöd!“ sagte meine Mutter zu mir, als sie erfuhr, dass ich meine Steuererklärung ehrlich und gewissenhaft machte. „Du Idiot!“ sagte mir ein sogenannter „Freund“, als er erfuhr, dass meine Frau und ich sich einen völlig unerzogenen, auch noch tauben älteren Hund aus einem Tierheim geholt haben.

Das sind zwei Beispiele für abwertende Zuschreibungen aus eigener Erfahrung. Es gibt natürlich auch aufwertende Zuschreibungen. Z.B. wenn ein Patient sagt: „Sie sind mein Retter!“ Oder ein Mann zu seiner Frau sagt: „Du bist mein Ein und Alles!“ Auch solche Sätze führen in die Unfreiheit, weil zu hohe Erwartung notgedrungen enttäuscht werden muss.

Ich weiß nicht wie es Ihnen geht, liebe Gemeinde, aber in mir wehrt sich alles gegen die Zuschreibung, Salz der Erde oder Licht der Welt zu sein. Um Gottes Willen, nein, das bin ich nicht! Das ist viel zu viel, zu hoch, zu extrem. Außerdem: Zuschreibungen sind Bemächtigungen. In Bemächtigung steckt „Macht“. Zuschreibungen üben Macht aus: Wieder in beide Richtungen. Sie erhöhen in Richtung Messias, Retter, Heiland. Sie erniedrigen in Richtung Teufel, Verführer, Versager. Es ist die Macht der Manipulation, die von Zuschreibungen ausgeht.

Indem ich die Kraft entwickle, Manipulationen zu durchschauen, verlieren sie ihre Macht. Dann kann ich mich von den Zuschreibungen distanzieren. Und dann kann ich auch die Enttäuschungen ertragen, die ich auslöse, indem ich sage: Was du in mir siehst oder das du von mir erhoffst: Das bin ich nicht!

Nein – ich bin nicht Salz der Erde, auch nicht Licht der Welt.

Ich weiß nicht genau, was oder wer ich bin. Was ich weiß, ist, dass ich versuche, da zu sein und zu leben: als Mensch, als Mann, als Vater, als Großvater, als Ehemann, als Pfarrer, als Therapeut. Und ich versuche aufmerksam zu sein. Ich versuche, das, was mir begegnet (sei es Belebtes, sei es Unbelebtes), auf mich wirken zu lassen – ohne es zu bewerten oder gar zu verurteilen. Ich sage sehr bewusst: „Ich versuche“. Weil ich alltäglich die Erfahrung mache, dass es mir nicht gelingt. Weil ich alltäglich Gedanken in mir habe, die sagen: Das gibt es doch nicht: Wie können Menschen so blöd, so grausam, so selbst verliebt sein. Dies gilt ganz besonders für Menschen in Institutionen, die mir nahe sind, zu denen ich selbst gehöre. Kirchliche Amtsträger z.B. oder Funktionäre in psychotherapeutischen Institutionen. Und wenn ich dann selbst beurteile und abwerte, dann merke ich: Dies fließt aus meiner eigenen Enttäuschung.

Augenblicklich können wir dieses Phänomen in der Politik erleben. Den Zulauf, den eine rechtsextreme Partei derzeit hat, sehe ich in direktem Zusammenhang mit der Enttäuschung über die etablierten Parteien. Damit verbunden ist die Enttäuschung über die Demokratie als Staatsform, die sich das Grundgesetz gegeben hat: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Und Geflüchtete, black coulored people, Homosexuelle usw. – sind zunächst einmal Menschen. Mit-Menschen.

Die revolutionäre Idee unseres Grundgesetzes ist: Die Würde des Menschen steht für sich – losgelöst davon, ob er Salz der Erde oder Licht der Welt ist.-

Wozu dann diese „Ihr seid …“ – Sätze?

Sie stiften vermeintliche Identität. Und sind die andere Seite der „Ich-bin-Worte“ Jesu. „Ich bin das Brot des Lebens“, „ich bin das Licht der Welt“, „ich bin die Tür“, „ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ usw.

Man hat gesagt, diese Worte sind Ausdruck dessen, dass Jesus für sich beanspruchte, der Messias zu sein. Da wir historisch über ihn so wenig wissen, wissen wir auch nicht, wie Jesus sich selbst sah. Was aber in jedem Fall gilt: Sie sind Ausdruck der Messiassehnsucht, die der oder die Verfasser des Johannesevangeliums hatte bzw. hatten. Diese Sehnsucht ist allgemein menschlich, sehr verständlich – und entwicklungsfeindlich.

Sich entwickeln heißt, sich der Wirklichkeit, so wie sie nun einmal ist, zuzuwenden. Unsere Sehnsüchte lehnen diese Wirklichkeit ab. Sie wollen eine andere Welt, Das Aufgeben einer Sehnsucht aber ist unweigerlich mit Gefühlen der Enttäuschung verbunden. Und Enttäuschungen können sehr, sehr schmerzhaft sein. Sich der Wirklichkeit hingeben heißt anzuerkennen, welche Steuern ich zu bezahlen habe. Heißt anzuerkennen, dass wir uns alle täuschen können, auch als hochrangige Politiker oder Kleriker. Und heißt zu akzeptieren, dass ich ziemlich allein auf dieser Welt bin.

Adam und Eva – von denen wir alle abstammen – entwickeln diese Kraft, die Wirklichkeit anzuerkennen, indem sie das Paradies verlassen. Sie entwickeln die Kraft, anzuerkennen, dass sie das Paradies verloren haben. (Vgl. hierzu die geniale Dichtung von John Milton, „Paradise lost“.) Sie entwickeln diese Kraft, nicht weil sie an einen allmächtigen Gott glauben, sondern weil sie einen barmherzigen, fürsorglichen und einfühlsamen Gott erleben.

Dieser Gott näht ihnen Felle, damit sie nicht frieren. Dieser Gott sendet Ihnen seinen eigenen Sohn, der ihnen hilft, die Widrigkeiten und Enttäuschungen ihres Lebens zu überleben – ohne dafür in das alte Allmachtsdenken zurück zu fallen.

In Jesus Christus offenbart sich nicht an erster Stelle ein Macht-Gott. In Jesus Christus offenbart sich ein Gott, der zu Liebe, Rücksichtnahme, Empathie gerade auch für die „schwachen“ Mitglieder unserer Gesellschaft fähig ist.

Und es ist ein Teufelswerk, daraus einen Allmachtsglauben zu „zaubern“.

Genau dies aber ist in der Geschichte des Christentums geschehen durch die von Paulus stammende Engführung des Glaubens an Jesus Christus als den „Auferstandenen“. Nicht die Auferstehung ist das Zentrum der Geschichte Jesu, sondern seine Predigt der bedingungslosen Liebe Gottes, die allen Lebewesen, die allem, was da ist, gleichermaßen gilt. Jesus hat sein Leben dieser „Kunst des Liebens“ gewidmet. Sie ist es, die nicht tot zu kriegen ist. Sie ist es, die nicht im Grab zu finden ist.

Dorothee Sölle hat einmal über Jesus gedichtet:

Vergleiche ihn ruhig mit anderen grössen

sokrates

rosa luxemburg

gandhi

er hält das aus

besser ist allerdings

du vergleichst ihn

mit dir

Indem ich mich, mein Leben mit Jesus vergleiche, bekommen die beiden Bilder vom Salz der Erde und vom Licht der Welt eine ganz neue Bedeutung, die mich berührt.

Es geht nicht darum, dass ich irgend etwas Tolles mache.

Die Kraft des Salzes besteht darin, sich aufzulösen.

Die Kraft des Lichtes – des Kerzenlichtes – besteht darin, zu verbrennen.

Die Kraft dessen, was Jesus uns vorgelebt hat, ist die Kraft liebevoller Hingabe. Dies ist das Gegenteil von Machtausübung. Macht auszuüben verleiht mir die Illusion zu meinen, ich hätte alles im Griff, „unter Kontrolle“.

Hingabe ist die Kraft, Kontrolle aus der Hand zu geben, sich zu überlassen.

Sich der eigenen Intuition, sich der eigenen Wahrheit zu überlassen. Dann geht es nicht mehr um mich, sondern um die Wahrheit, die aus mir spricht. Und je inniger die Verbindung zwischen mir und der Wahrheit wird, desto mehr nähere ich mich dem an, was Jesus im Johannesevangelium sagt: „Ich bin die Wahrheit.“ Und je tiefer ich mich meiner Wahrheit überlasse, desto leicht lasse ich los von meinen Sehnsüchten, wie ich, wie mein Leben sein sollte und wie der Andere für mich sein soll.

Vielleicht denken Sie sich jetzt – Das kann ich nicht! Und das will ich auch nicht!

Ja, wo kämen wir denn da hin, wenn ich mich nicht mehr nach meinen Wünschen richten würde, wenn ich meinen Empörungen keinen Raum mehr geben würde. …

Wo kämen wir hin,

wenn jeder sagte,

wo kämen wir hin

und keiner ginge,

um zu sehen,

wohin wir kämen,

wenn wir gingen. (Hat Kurt Marti gedichtet. )

Vielleicht würden wir dann ein bisschen salziger werden und ein bisschen erleuchteter. Vielleicht auch nicht.

Rauskriegen tun wir das erst, wenn wir dahin gingen, wo wir von vorne herein sagen: „Ja, wo kämen wir denn da hin!“ AMEN.

Predigt über Matthäus 5, 13 – 16 am 8. Sonntag nach Trinitatis 2023 Weiterlesen »

„Der verlorene Sohn“ bzw. „die verlorene Tochter“: Predigt über Lukas 15 am 3. Sonntag nach Trinitatis 2023

Liebe Gemeinde,

„der Menschensohn ist gekommen zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“ Dieser Satz aus dem Lukasevangelium gibt unserem heutigen Gottesdienst seine Überschrift.

Er ist wohl gut gemeint.

Nur – kommt er auch „gut“ an?

Es könnte ja sein, dass jemand sich eben deshalb versteckt, um nicht gefunden zu werden. Sein Misstrauen und seine Angst sind stärker als das Vertrauen darauf, dass er „selig gemacht“ werden soll.

Es gibt ein wunderschönes Buch des englischen Psychoanalytikers John Steiner über „Orte seelischen Rückzugs“. Die zugrunde liegende Erkenntnis ist die, dass seelisch Not leidende Menschen sich Orte suchen und finden, in denen sie vermeintlich sicher sind. Die ihnen Schutz vor befürchteten Angriffen geben. In denen sie „ihre Ruhe“ haben. Für Kinder ist so ein Zufluchtsort gar nicht selten die Toilette, wo es erlaubt ist, hinter sich abzusperren.

Auch Musik kann sich dafür eignen.

Es muss jedenfalls ein Ort ein, wo der/die Andere nicht hinkommt.

Für mich war und ist so ein Rückzugsort die Spiritualität.

Und wenn ich – wie gerade – einen Gottesdienst leite, dann stehe ich zwar in der Öffentlichkeit, bin also ungeschützt. Aber ich habe die mir vertraute Liturgie des Gottesdienstes und dadurch weiß ich – zumindest meistens – was auf mich zukommt. Dieses Wissen verleiht mir Sicherheit und bindet meine Ängste. Nicht zu wissen, was auf einen zukommt, ist ein ekelhaftes Gefühl. Ich vermute, dass die Angst vor dem Tod zum größten Teil eine Angst davor ist, nicht zu wissen, was da auf einem zukommt.

Jetzt – beim Predigen – habe ich mein Manuskript. Auch das gibt mir Sicherheit. Wenn ich völlig „neben der Spur“ bin, kann ich mich daran festhalten.

Unser heutiges Evangelium, das Gleichnis vom verlorenen Sohn – Sie haben es vorhin wahrscheinlich nicht zum ersten Mal gehört – ist die Geschichte von einem, der sich aus seiner Familie zurückzieht. „Er reiste weg in ein fernes Land“ (V. 13b). Womöglich dachte er: Je weiter ich von zu Hause weg bin, desto freier bin ich. Endlich kann ich mal machen, was ich will!

Dort „verprasste“ – so in der Übersetzung M. Luthers – er sein Erbteil. Dies ist natürlich eine Wertung. Wörtlich steht da: Er „vergeudete sein Vermögen, indem er verschwenderisch lebte“. Was war sein Vermögen? Es war auch aber nicht nur sein Erbteil. Im Griechischen heißt „Vermögen“ „Ousia“, wörtlich: „Existenz“ im Sinne von „Sein“.

Er vergeudete seine „Existenz“ wäre also die wörtliche Übersetzung. Man könnte auch sagen: Er opferte seine Existenz für seine „Lust“, für seinen Spaß, für den Genuss. Ohne es zu merken, bezahlte er einen sehr hohen Preis für sein Verlangen, möglich viel Lust aus dem Leben heraus zu holen. Wenn dies von vorneherein abgewertet wird, geht eine wesentliche Erkenntnis verloren: Dass nämlich vor dem Erwachsen-Werden die Pubertät steht. Für das Erleben-Dürfen einer gesunden Pubertät gehört, die eigenen Eltern in Frage stellen, sich von ihnen trennen zu dürfen. Und es gehört ein Gefühl von Unverletzlichkeit, ja Allmacht dazu. Das ist alles völlig normal. Irgendwann, Mitte zwanzig, kommt dann die Erfahrung: Jetzt geht es so nicht mehr weiter. Dies kann eine Trennung sein, ein Unfall, ein Schicksalsschlag.

Bei dem „verlorenen Sohn“ ging es solange gut, bis er nichts mehr hatte, bis er mit leeren Händen da stand. Da fing er selbst an, „Mangel zu leiden“ (V.14b). Dies führte ihn dazu, „sich an die Fersen“ eines Bürgers aus jenem fremden Land zu „hängen“. Er machte sich von ihm abhängig, da er so wahnsinnig hungrig war. Dieser Mann gab ihm den niedrigsten Job, der damals auf einem Bauernhof zu vergeben war: „Du kannst die Schweine hüten!“ Dies tat er und war noch einmal angetrieben von seiner Begierde: „…er begehrte seinen Bauch zu füllen mit den Schoten, die die Schweine fraßen.“

„Und niemand gab ihm.“ Heißt: Und niemand kümmerte sich um ihn. Er spürte: Das ist keine Lösung! Ich bin so hungrig und so werde ich nicht satt.

„Als er aber zu sich kam…“ (V.17a). Dies ist der Wendepunkt in der Geschichte des verlorenen Sohnes: „Er kommt zu sich!“

Das heißt: Eigentlich handelt seine Geschichte davon, wohin es führt, wenn man sich selbst verliert. Wenn man sich zu sehr davon leiten lässt: Was macht mir Spaß, was vermehrt meine Befriedigung? Dann ist die Gefahr groß, zum Sklaven der eigenen Lust, zum Sklaven der eigenen süchtigen Suche nach Befriedigung werden.

Es ist die große Schwäche des Kapitalismus, dass er das Prinzip: „Ich mache, was ich will“ verherrlicht. „Wir leben in einer Demokratie – d.h. jeder kann essen, was er will“, hat unser Ministerpräsident vor kurzem gesagt. Das ist leider Ausdruck eines schwachen Ichs, das sich der eigenen Begierde unterwirft. Und weil es zu beschämend ist, sich das einzugestehen, heißt es: „Ich will das gerade so!“

Ein starkes Ich aber zeichnet gerade nicht dadurch aus, dass es darauf angewiesen ist, jederzeit machen zu können, was es will. Ein starkes Ich zeichnet aus, dass es stärker ist als die eignen Begierden und Gelüste. Ein starkes Ich ist per definitionem ein soziales Ich. Es hat gelernt, im Dienste von sozialer Verantwortung zu geben, zu nehmen – und zu verzichten. Ein starkes Ich kann und will seine eigenen Begierden hemmen – für ein konstruktives Miteinander. Mit anderen Worten: Ein starkes Ich kann sich selbst (zurück-)halten.

Damit sich etwas verändert, ist es notwendig, „zu sich zu kommen“. Der verlorene Sohn kommt nicht freiwillig zu sich, sondern weil ihm das Geld ausgegangen ist. Wirkliche Veränderung geschieht nur über das Erleiden dessen, dass es „so nicht weiter geht“. Zur wirklicher Veränderung gehören die Gefühl von Katastrophe. Dass wir in Deutschland (noch – und hoffentlich noch lange!) in einer stabilen Demokratie leben dürfen, hat mit dem katastrophalen Ende des nationalsozialistischen Regimes zu tun. In gewisser Weise muss man anerkennen: uns wurde die Demokratie aufgepfropft. Die jetzigen Versuche, Energie zu sparen, klimaneutral zu leben, fließen auch aus der Einsicht, dass „es so nicht weiter geht“. Und natürlich gibt es auch den Widerstand dagegen, der sich „nichts vorschreiben lassen will“.

Der verlorene Sohn ist dabei, sich selbst zu finden, indem er „umkehrt“. Es ist die Bewegung der Rückkehr, der Umkehr, die zu meinem Selbst führt. Diese Bewegung geht notwendig einher mit Reue: „Ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir, ich bin nicht mehr würdig, dein Sohn zu heißen.“ (V.18bf)

Und ich füge hinzu: „Ich habe gesündigt vor meinem eigenen Selbst. Ich habe mein eigenes Leben verraten, habe mein Vermögen, mein Können, meine Existenz verkauft. Jetzt, wo ich zurückkehre, merke ich: „Lieber bin ich ein Tagelöhner – aber ich weiß, wo ich hingehöre, bin mit mir, mit meiner Identität in guter Verbindung.“ Wer mit sich selbst in liebevoller Verbindung ist, der benötigt keine Rückzugsräume. Er muss sich nicht länger über Flucht und Rückzug schützen.

Die liebevolle Verbindung zu und mit sich selbst ist auch unabdingbar dafür, was das Schwierigste im Leben ist: Sich selbst zu vergeben. Der Weg in die ersehnte Freiheit führt über das Loslassen der alten vertrauten Fesseln. Loslassen aber heißt weggeben. Eben vergeben.

Der verlorene Sohn hat auf seinem Heimweg, auf dem Weg zu sich nach Hause, einen neuen Vater gefunden: Einen Vater, der vergibt. Ein Vater der sich mit seinem Sohn freut über den Weg, den sein Sohn gehen konnte. Echte Freude kann nur der erleben, der all das, womit er nicht einverstanden ist, was alles in seinem Leben nicht hätte passieren dürfen – losgelassen hat. Nicht im Sinne eines billigen „Schwamm drüber“. Sondern im Sinne eines ehrlichen Betrauerns dessen, was man anderen Menschen und sich selbst an Leid zugefügt hat.

„Vergib uns unsere Schuld – wie auch wir vergeben unsern Schuldigern!“

Diese Bitte geht für den Menschen in Erfüllung, der das Risiko auf sich nimmt, zu sich und so zu Gott zurück zu kehren. Dazu braucht er einen Gott, der fähig und bereit für Vergebung ist.

Wie schwierig das ist, wird am Verhalten des anderen Sohnes, seines älteren Bruders deutlich. Er kann und will nicht einsehen, dass das so „einfach“ gehen soll. Er ist zornig, fühlt sich sehr ungerecht behandelt. „Siehe, so viele Jahre diene ich dir und niemals habe ich ein Gebot von dir übertreten, und mit hat du niemals ein Böckchen gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich gewesen wäre. Da aber dieser dein Sohn gekommen ist, der deine Habe mit Huren durchgebracht hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet.“ (V. (V. 29b-30)

Aus ihm spricht der Neid des vermeintlich zu kurz Gekommenen. Im Neid ist Vergeben und Verzeihen unmöglich. Neid und Hass sind Geschwister. Sie wollen festhalten. Es wird auch deutlich, dass sein erst geborener Bruder gar nicht aus innerer Beteiligung und Freude sein Leben auf dem Hof des Vaters gelebt hat, sondern aus dem Pflichtgefühl heraus, „es recht zu machen“. „Ich habe alle deine Gebote gehalten“ sagt er. Und der Vater antwortet: „Kind, du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, ist dein. Aber man musste doch jetzt fröhlich sein und sich freuen; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden und verloren und ist gefunden worden.“ (V.32)

Natürlich haben die Menschen dieses Gleichnis in Bezug zu Gott gehört. Und es hat sie radikal verunsichert. Was redet Jesus da? Gott freut sich über die Umkehr eines Sünders so sehr, dass er ihm seine Verfehlungen nicht übel nimmt? Ja – er scheint sich über die Umkehr eines Sünders mehr zu freuen, als über denjenigen, der von Anfang an ein Gott gefälliges Leben lebt? Das ist doch unerhört! Wozu gebe ich mir dann überhaupt soviel Mühe, die Gebote zu halten?

Jesus hat die Schwäche dessen schonungslos aufgedeckt, was man pharisäische Moral nennen könnte. Es ist insofern eine verdrehte Moral, als sie nicht „von Herzen“ kommt. Es ist eine Moral, die darauf aus ist, vor Gott gut da zu stehen. Und es ist eine Moral, die es gar nicht mag, kritisiert zu werden. Diese Moral ist selbstgerecht und überheblich. Überheblichkeit oder Arroganz sind im übrigen auch verbreitete Schutzräume von Menschen mit einem unsicheren Ich.

Jesus Kritik an der pharisäischen Moral provoziert ihre Vertreter, die Pharisäer, so sehr, dass sie ihn töten mussten. Sie meinten, damit auch seine Gedanken beseitigen zu können. Auch unser Gleichnis ist eine einzige Provokation an diejenigen (unter uns?), die der Meinung sind, doch alles richtig zu machen. Der Gott, den Jesus verkündet, legt keinen Wert auf die „Rechthaber“ und „Richtig-Macher“. Er legt Wert auf die, die fähig und bereit sind, sich selbst und das was sie denken und tun, kritisch zu hinterfragen. Und die den Mut und die Kraft haben, neue Erkenntnisse auch zu realisieren. Was sich nicht selten als 180 Grad-Wendung, oder biblisch: als Umkehr anfühlt. Diese Wendung zu vollziehen fällt so schwer, weil mit ihr das Verlassen der vertrauten Denk- und Schutzräume einher geht.

Aber: „… was nützt es einem Menschen, die ganze Welt zu gewinnen und sein Leben einzubüßen?“ (Markus 8, 36) Das ist auch so eine Provokation dieses Mannes aus Nazareth!

AMEN

„Der verlorene Sohn“ bzw. „die verlorene Tochter“: Predigt über Lukas 15 am 3. Sonntag nach Trinitatis 2023 Weiterlesen »

Predigt an Christi Himmelfahrt 2023 über Lukas 24, 50-53

Liebe Gemeinde,

als wir vorhin zusammen den Psalm 47 beteten, kamen mir Bilder von der Krönung von König Charles III. In den Sinn.

Beide Male geht es um eine Inthronisation. „Gott fährt auf unter jauchzen“ heißt es in Psalm 47. Er ist „König über die ganze Erde“.

Und natürlich gibt es auch bei uns, in der christlichen Religion die, die sagen:

„This is not my King!“

Wir brauchen keinen König. Und wir brauchen auch keinen Gott.

Unser amtierender Kanzler hat bei seinem Amtseid auf den Zusatz „so wahr mir Gott helfe“ verzichtet. Das war in jedem Fall ehrlich. Und es ist ein leichtes, die Kirche als menschliche Institution zu kritisieren. Es ist ein Leichtes, auf die unselige Koalition von kirchlichem Establishment und Machtpolitik zu verweisen, aktuell vorgelebt vom Moskauer Patriarchen Kyrill I. So wie es ein Leichtes ist, auf die negativen Seiten der Kolonisierung hinzuweisen. Es ist ein Leichtes, dagegen zu sein.

In der Demokratie gibt es die Regierung und die Opposition.

Welch eine wertvolle Errungenschaft von uns Menschen, dass beides, das Dafür und das Dagegen, seinen Platz bekommt. Und die Geschichte lehrt, wie fragil diese Errungenschaft ist. Und wie groß die Verführungen und Verlockungen der Macht sind. Jener Macht, die sich selbst absolut setzen will.

Die große öffentliche Aufmerksamkeit, die die Krönung von Charles III. bekommen hat, macht aber auch noch was anderes deutlich: Unser aller Sehnsucht nach einer guten, sinnstiftenden Ordnung die durch einen „guten Führer“ repräsentiert wird. Eine Sehnsucht, die sich auch bei grausamen Diktatoren findet. Putin hat einmal gesagt: „Ja, es stimmt. Ich bin ein Diktator – aber ich bin ein guter!“

Und die Gräuel, die im Namen dieses Gut-Seins, die auch im Namen unseres Herrn und Heilands Jesus Christus begangen worden sind – die sind vom subjektiven Erleben her keine Gräuel, sondern sie waren notwendig für den Sieg „des Guten“. Die Kreuzzüge waren notwendig, um die „Heilige Stadt Jerusalem“ von den „Ungläubigen“, den muslimischen Mitmenschen zu befreien. Und Kaiser Karl der Große hat seine Minister auf die Bergpredigt eingeschworen. Und die Sachsen enthaupten lassen, falls sie sich nicht taufen ließen.

Auch bei der Krönung von Charles III. war zu hören: Das Vorbild des irdischen Königs ist Jesus Christus. Dazu gehören auch Sätze wie: „Ich bin nicht gekommen, um bedient zu werden … ich bin gekommen zu dienen.

Im Lateinischen heißt „Diener, Gehilfe“ „Minister“. Seine Aufgabe ist es, unserem Staat zu dienen.

 

Und was bitte hat das alles mit Christi Himmelfahrt zu tun? könnten Sie jetzt, liebe Gemeinde, zurecht fragen.

Diese Gedanken sind mir beim Lesen von Psalm 47 gekommen. Wir haben ihn vorhin gebetet. Sie sind mir nicht gekommen beim Lesen unseres heutigen Predigttextes, den Sie vorhin als Evangelium gehört haben. Zu diesem ist mir zunächst einmal – gar nichts eingefallen.

Lukas berichtet (als einziger) der vier Evangelisten von der Himmelfahrt Christi. Am Beginn seiner „Apostelgeschichte“ erzählt er diese noch einmal und fügt hinzu: „Und als sie (sc. die Jünger) ihm nachsahen, wie er gen Himmel fuhr, da standen bei ihnen zwei Männer mit weißen Gewändern. Die sagten: Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und seht gen Himmel?“

Etwas freier übersetzt könnte man sagen: Die beiden Männer in den weißen Gewändern sagen: „Was steht ihr da so dumm rum und glotzt blöd in den Himmel …“

Und die Einleitung ist mir eingefallen, um hier nicht so dumm rumzustehen.

Denn ein Pfarrer, dem nichts zu seinem Predigttext einfällt, der steht dumm rum. Und weil das arg peinlich ist, versucht er es mit klugen Gedanken zu überspielen – und kluge Gedanken haben wir alle in unserem Theologiestudium zuhauf bekommen.

Liebe Gemeinde,

vielleicht kennen sie das ja noch aus der Schule: Man soll einen Aufsatz zu einem „saublöden“ Thema schreiben, und es will einem partout nichts einfallen. So mancher Bleistift wurde da vor lauter „mir fällt nichts ein“ zerkaut.

Die Gefühle des „mir fällt nichts ein“ verführen zu Ablenkung, Im Zeitalter von Google und You tube ist es ja mühelos, sich abzulenken. Der Nachtteil davon ist: Solange ich mich ablenke, kann mir gar nichts einfallen.

Ein anderer Umgang mit „mir fällt nichts ein“ ist: Was ist denn anderen eingefallen? Schauen wir doch mal, welche Predigten zu Himmelfahrt sich im Internet finden. …

Ich bin auf der Suche nach einer Idee für meine Himmelfahrtspredigt auf eine Predigt von Abt Aloysius Althaus (Abtei Königsmünsterin Meschede) in gestoßen. Unter anderem sagt er:

„So gesehen könnte man das Fest Christi Himmelfahrt auch als Fest unserer Erde bezeichnen, als Fest des Glaubens, der die Erde lieben darf, weil diese Erde nun in Christus eine Mitte, einen Sinn und ihr großes Geheimnis gefunden hat. Das Fest des Himmels wird zum Fest der Erde, des Jenseits zum Fest des Diesseits, denn nun ist dieses unser Diesseits Raum Gottes geworden, da der ferne Gott durch Jesus und durch seinen Geist, ‚der in uns ausgegossen ist‘, zum nahen Gott und zum Gott unseres Herzens geworden ist.“

Neidgefühle steigen in mir auf. Anstatt mich zu freuen und dankbar zu sein, solch gute Gedanken zu finden, sagt eine gehässige Stimme in mir: „Und warum ist dir das nicht eingefallen?“ Und die gehässige Stimme rät: „Aber du kannst das doch predigen – musst ja niemanden sagen, dass es nicht auf deinen Mist gewachsen ist … !“

So ist das mit den Verführungen! Und Neid ist ein sehr großer Verführer. „Ich will das auch haben!“ sagt er. Aber den schmerzhaften Prozess, der zu wahrer Kreativität unbedingt dazu gehört, den will ich nicht haben.

Neid plädiert für schnelle, schmerzfreie Lösungen.

Das passt übrigens sehr gut zu einem bestimmten Verständnis von Christi Himmelfahrt: Wer aus dieser Erde „aussteigt“ und direkt „in den Himmel fährt“, dem bleiben die Schmerzen und Leiden des Sterbens erspart. Als 12jähriger war mein persönlicher Held Dietrich von Bern gewesen. Warum? Weil er am Ende seines heldenhaften Lebens auf seinem schwarzen Hengst Falke direkt in den Himmel geritten ist.

Und Reinhard May hat in seinem Lied „Über den Wolken“ gedichtet:

Über den Wolken
Muss die Freiheit wohl grenzenlos sein
Alle Ängste, alle Sorgen
Sagt man
Blieben darunter verborgen
Und dann
Würde was uns groß und wichtig erscheint
Plötzlich nichtig und klein

Dazu passen die Träume vom Fliegen-Können. Sie sind stets mit einem euphorischen Glücksgefühl verbunden. Endlich kann ich abheben, die „Niederungen“ dieser Erde unter mir lassen. Peter Pan repräsentiert diese Form des Glücks. Und „Pan“ heißt im Griechischen „alles“ . All-mächtig und all-wissend sein – das wär’s doch! Nicht länger müsste man sich in den Niederungen dieses Erden-Daseins plagen und quälen.

Und da finde ich den vorhin zitierten Gedanken von Abt Althaus hilfreich: Christi Himmelfahrt als Fest der Verbindung zu verstehen und zu feiern: Als Fest der guten und sicheren Verbindung zwischen oben und unten, zwischen Himmel und Erde, als Fest des Glaubens, der die Erde lieben darf.

Als Fest, an dem ich mich über jeden konstruktiven Gedanken freuen kann – auch wenn er nicht von mir ist. Weil es nämlich nicht um mich, sondern um die Wahrheit geht!

„Lehre mich Herr, an anderen Menschen unerwartete Talente zu sehen, sie zu fördern und verleihe mir die schöne Gabe, sie auch zu erwähnen.“ betet Theresa in ihrem schönen Gebet vom Älter-werden.

Dies aber setzt die Fähigkeit voraus, in Liebe verbunden zu sein mit allem, was mich umgibt. Der springende Punkt ist: In Liebe verbunden zu sein. Die Alternative zur Verbindung in Liebe ist die Verbindung in Macht. Diktatoren und Diktatorinnen – und sie gibt es überall, auch in kirchlichen Räumen – geht es nicht um Liebe. Ihnen geht es um Macht. Und damit um Kontrolle. Denn das Ausüben von Macht ist unweigerlich verbunden mit Kontrolle.

Jesus aber sagt und lehrt: „Die Wahrheit macht Euch frei!“

Die Wahrheit ist nicht kontrollierbar. Sie entzieht sich jeglicher Kontrolle.

Deshalb wird von denen, die sich und ihre eigenen Gedanken absolut setzen, so gehasst.

Die Wahrheit lässt sich auch nicht „machen“. Die Wahrheit leuchtet. Sie leuchtet ein. Sie fällt ins Denken hinein – unkontrollierbar. Die Wahrheit lässt sich auch nicht zensieren. „Und sie dreht sich doch“, soll Galileo Galilei gesagt haben, als er von der katholischen Kirche gezwungen wurde, seine Entdeckungen zu widerrufen.

Um dies alles zu ertragen, bedarf es einer starken Liebe zur Wahrheit. Nur aus ihr heraus ist der Schmerz, den die Wahrheit zufügt, erträglich.

Dazu eine chassidische Geschichte: Der Baalschem – ein jüdischer Lehrer – sagte: „Was bedeutet das, was die Leute sagen: ‚Die Wahrheit geht über die ganze Welt?‘ es bedeutet, dass sie von Ort zu Ort verstoßen wird und weiterwandern muss.“ (S. 158)

Wer ein Jünger dieses Jesus aus Nazareth sein will, wer sich der Wahrheit (auch seines eigenen Lebens) verpflichtet fühlt, der glotzt nicht blöd in den Himmel. Dazu hat er keine Zeit. Er wandert weiter auf seinem ganz eigenen Lebensweg.

Er lebt, was Angelus Silesius gedichtet hat:

Halt an, wo läufst du hin? Der Himmel ist in dir. Suchst du ihn anderswo, du fehlst ihn für und für.

 

Der Himmel ist in jedem von uns schon gegenwärtig. Ich muss mich ihm nur zuwenden. So wie jeder von uns seine eigene Wahrheit in sich trägt. Ich muss mich ihr nur hinwenden. Das bedeutet aber eine Wendung um 180 Grad. Statt vor meiner Wahrheit davon zu laufen – oder davon zu fliegen – bleibe ich stehen und drehe mich mich um. Und lasse es geschehen, überlasse mich meiner Lebens-Wahrheit. In diesem Stehen-Bleiben, in dieser Hinwendung wird die Himmelfahrt Jesu zu einem Bild, bei dem Diesseits und Jenseits, oben und unten, hier und dort, horizontal und vertikal ineinander verschränkt sind. Das geometrische Abbild dieses Geschehens ist das Kreuz. Das Kreuz das zugleich die Auferstehung ausdrückt. Und die Auferstehung, die zugleich das Kreuz bezeichnet.

 

Möge Gottes Liebe, die in und durch Jesus Christus auf diese Erde gekommen ist, für uns alltäglich erlebbar sein, möge sie in uns leuchten wie die Sonne, die unser benebeltes Denken befreit für ein Leben in und mit und aus Gott heraus,

Predigt an Christi Himmelfahrt 2023 über Lukas 24, 50-53 Weiterlesen »

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