Predigt über das „Lamm Gottes“ (Joh. 1, 29) am 2. Sonntag nach Epiphanias 2023

Liebe Gemeinde,

„siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“

Mit diesem Ausruf Johannes des Täufers wird Jesus, genauer sein Wirken auf Erden, im Johannesevangelium eingeführt. Zweimal ruft Johannes der Täufer das aus.

Ein erster Ausruf findet statt im Rahmen seines Taufens. Diese Handlung gibt Johannes seinen Namen: Er ist der „Täufer“. Anders als in den anderen drei Evangelien tauft jedoch Johannes Jesus nicht. Jesus wird von ihm „nur“ benannt.

Und zwar als „Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt“. Unmittelbar nach dieser Erzählung (Johannes 1, 29-34) wiederholt der Evangelist Johannes diesen Ausruf von Johannes dem Täufer. Der Kontext ist jetzt die Berufung der ersten Jünger (Johannes 1, 35-39) .

„Siehe, das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt!“

Um Licht in das Dunkle dieses Wortes zu bringen, sollten wir uns dem Nicht-Gesagten, dem nur Angedeuteten, dem nur Ahnbaren zuwenden. „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ Mit diesem geheimnisvollen Satz beginnt das Johannesevangelium. Es ist, als käme es aus einer anderen Welt. Diese andere Welt ist die Welt „hinter oder vor dem Wort“. Unsere Wörter, unsere Sprache, versucht etwas auszudrücken. Etwas abzubilden. Und doch haben wir oft das Gefühl, das Entscheidende kann ich dir nicht sagen. Es bleibt verborgen. Es bleibt im Dunkel der Nacht.

Der allererste Buchstabe des hebräischen Alphabets ist das Alef. Es hat die Form eines Widders. Eines männlichen Lammes. Und es bleibt stumm. Es wird nicht gesprochen. Es gibt im Hebräischen noch ein weiteres Wort, das genauso wie „Alef“ geschrieben aber „elef“ ausgesprochen wird. Es bedeutet „alles“. Das „Ganze“, das „Fundament“ unseres Lebens, das Fundament der Welt bleibt stumm. Ist unaussprechlich. Es gleicht einem Hauch.

Als „Stimme verschwebenden Schweigens“ erfährt Elia Gott.

Und der Heilige Johannes vom Kreuz singt in seinem Lied über die Einung mit Gott: „Als ich meinen Geliebten liebkoste, gab Hauch der Zedern Wehen“.

Die Einung mit Gott, das Einswerden mit Gott, das eine Rückkehr, eine Heimkehr zu Gott ist, geschieht im Zeichen des Lammes. In ihm verstummt das Wort, in ihm endet die Zeit.

In ihm „ist alles gut“. Die Schöpfung ist an ihr Ziel, ist bei sich selbst angekommen. Es ist die Ruhe und Stille des siebten Schöpfungstages.

Und Johannes, der Täufer nun ist so etwas wie der Wegweiser zu dieser Welt. Er steht irgendwo „dazwischen.“ Zwischen Zeit und Ewigkeit, zwischen Bewusstem und Unbewusstem, zwischen dieser unserer bekannten Welt und der Welt „jenseits“ von ihr, jener „anderen“, strahlend-dunklen, unsichtbaren Welt.

Das ist die Welt des Lammes.

So gesehen ist Johannes der Täufer auch so etwas wie der „Ahnherr“ für den Priester (für uns Pfarrer): Ist es doch seine/unsere Aufgabe zu ver“-mitteln“, eine Brücke zwischen eben jenen zwei Welt anzubieten: der sichtbaren Welt im Diesseits und der unsichtbaren Welt im Jenseits des Diesseitigen. Auch die priesterliche Aufgabe ist es, „Zeugnis“ zu geben dafür, dass es noch eine ganz andere Welt gibt, die von der diesseitigen nicht erfasst werden kann. Und eben als dieser Mittler, dieser Ver-Mittler zwischen zwei Welten, stellt Johannes der Täufer Jesus mit den Worten vor: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt“

„Siehe!“ das heißt so etwa: Darf ich vorstellen, dies ist … Frau Soundso …

heißt also: Darf ich vorstellen, das ist „Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt“!

Eine merkwürdige Vorstellung. Was soll das heißen?

Ein unbekannter jüngerer Mann wird als „Gottes Lamm“ bezeichnet.

Naheliegende Assoziation zu Lamm ist: „Opfer“.

Das Lamm – als Träger der Sünden der Welt – wird geopfert.

Es wird in die Wüste geschickt.

So naheliegend diese Assoziation auch ist – sie ist falsch.

In die Wüste wird nicht das Lamm geschickt – in die Wüste wird der Bock, der Sündenbock gejagt.

Wer oder was ist das „Lamm“?

Was bedeutet es?

Unser alltägliches Denken funktioniert über „schuldig“ und „unschuldig“. „Schuldig“ heißt: Das hast du verursacht. Du bist der „Täter“.

Und so entsteht das Opfer:

Ohne Opfer gibt es keinen Täter, ohne Täter gibt es kein Opfer.

Für ihre Existenz brauchen sie sich gegenseitig.

Das ist der Grund, dass die Lösung, die Er-Lösung von Täter-Opfer-Beziehungen so unglaublich schwierig ist.

Wenn ich nicht mehr der „Täter“ bin: Wer bin ich dann?

Wenn ich nicht mehr das „Opfer“ bin: Wer bin ich dann?

Gibt es mich dann überhaupt noch?

Wer es wagt, sich diesen Fragen zu stellen, braucht viel Mut. Denn das In-Frage-Stellen der Täter-Opfer-Beziehung fühlt sich als Verlust der eigenen Identität an. Fühlt sich an, als würde man etwas Fundamentales aus dem Haus, auf dem das eigene Denken aufgebaut ist, einfach herausziehen.

Dies löst heftige Angst aus.

Die Täter-Opfer-Beziehung ist starr und sicher zugleich. Sie bietet die Sicherheit einer Eisenkette oder eines Betonbunkers.

Der Preis dieser Sicherheit ist Unlebendigkeit. Der Preis dieser Sicherheit ist der Tod.

Es ist die Sicherheit, die ein Gefängnis bietet.

Das Leben, die Lebendigkeit ist „draußen“.

Wer sich auf die Gedanken von diesem Jesus aus Nazareth einlässt, ihnen „vertraut“, mehr noch: sein Leben nach ihnen ausrichtet, „der wird leben …“ heißt es.

Und er wird sterben. Genauer: In ihm wird etwas sterben.

Es werden ihm die vertrauten Sicherheiten, Ordnungen und Einteilungen weggenommen, auf die er sein Leben gesetzt hat.

Das konnte und wollte sich das religiöse Establishment zur Zeit Jesu nicht bieten lassen.

So war die rettende Idee: Den Prediger dieser Gedanken zu vernichten.

Und man hat ihn, seine Person, vernichtet.

Womit man nicht gerechnet hatte: Dass sich seine Art zu denken nicht vernichten ließ. Seine Gleichnisse, seine Predigten – dies wirkte weiter – wirkt bis heute. Gleichzeitig wurde und wird versucht hat, sie zu „entschärfen“, ihnen die „Spitze“ zu nehmen.

Hierfür nur ein Beispiel: Im Gleichnis vom verlorenen Sohn bekommt der Sohn, der sein Erbe „durchgebracht“ hat, eine nach menschlichen Maßstäben völlig ungerechtfertigte „Barmherzigkeit“. Ihm zu Ehren, seiner Rückkehr zu Ehren wird ein Fest gefeiert. „So ist Gott“! Sagt Jesus. Indem dieses Gleichnis von Lukas eingerahmt wird von den Gleichnissen vom verlorenen Schaf und vom verlorenen Lamm, wird genau diese Spitze der Provokation abgebrochen. Natürlich freut man sich über das Wiederfinden des Geldes oder des Schafes – aber mehr auch nicht. Die Provokation bestand ja darin, dass jemand aktiv sich gegen das Erbe seines Vaters entscheidet – es gleichsam mit Füßen tritt – und dann doch Vergebung erlebt – nur weil er Reue zeigt und zurückkehrt. Keine Wiedergutmachung wird erwartet, keine (naheliegende) Strafpredigt, kein erhobener Zeigefinger.

„So ist Gott“ – sagt Jesus.

Das war undenkbar und unerträglich.

Das ist schwer denkbar und schwer erträglich.

„Siehe, das ist Gottes Lamm!“

Dieser Mensch also ist Gottes Sohn.

UND: Als Gottes Sohn ist er Gottes Lamm.

Als Lamm Gottes ist er Gottes Sohn.

Das ist das Neue, das Un-Gehörte und Un-Erhörte, was mit dem Christentum auf die Welt kommt und was nicht auf die Welt kommen soll:

Die schweigende Ohnmacht des Lammes.

Das Lamm wehrt sich nicht.

Das Lamm kämpft nicht.

Das Lamm duldet.

Indem Gottes Sohn das Gottes Lamm ist, glauben wir einem Gott der Geduld, des Aushaltens, des Erleidens und der Freude über all jene, die sich diesem Gott zuwenden.- Die zu Gott zurückkehren.

Wie die Lämmer wurden unsere Mitmenschen jüdischen Glaubens in den Konzentrationslagern der Nazis zur Schlachtbank geführt.

Einfach so.

Das ist die Welt des Lammes.

Ein ukrainischer Zivilist, Familienvater, wird aus dem Auto gezerrt und vor den Augen seiner Frau und seiner beiden Kinder erschossen. Einfach so.

Das ist die Welt des Lammes.

Jetzt, in dieser Minute, verhungert irgendwo in Afrika, ein kleines Mädchen oder ein kleiner Junge.

Einfach so.

Das ist die Welt des Lammes.

Letzte Woche wurden wieder zwei junge Männer im Iran hingerichtet. Ihre „Schuld“ bestand darin, gegen ein verbrecherisches Regime protestiert zu haben.

Das ist die Welt des Lammes.

Liebe Gemeinde,

Ich tue mich schwer mit diesen Gedanken.

In mir sträubt sich etwas.

Ich mag nicht daran denken, welche Menschen wie in der Ukraine gerade getötet werden, welche Kinder auf dieser Welt gerade verhungern. Ich mag auch nicht daran denken, an welchen Menschen im Iran oder in China gerade die Todesstrafe vollzogen wird.

Ich mag nicht daran denken, weil ich das Gefühl habe, ich halte das nicht aus.

Dieses Leid näher an mich heran zu lassen – es tut einfach zu weh.

Und Schmerzen führen zu Hass.

Ich hasse mein ewiges Kopfweh.

Ich hasse meine Rückenschmerzen.

Ich hasse meine Depression.

Der Hass sucht nach Lösungen, dass ich das nicht aushalten muss.

Ich will diese verdammten Schmerzen nicht mehr ertragen müssen.

Der Hass sucht Schuldige:

Die Egozentrik und Ignoranz der kapitalistischen Welt, die Grausamkeit der totalitären Machthaber.

Der Hass macht Propaganda: „Die da oben, die haben ja keine Ahnung!“

Oder: „Was heißt hier Bedürftige …? Das sind doch alle Sozialschmarotzer…“

Der Hass spaltet: In Schuldige und Unschuldige, in Mächtige und Ohn-Mächtige, in Täter und Opfer. Und der Hass weiß immer genau, wie es ist…

Und wenn es dann so nicht mehr weiter geht, dann gibt es immer noch die Betäubung. Wie gut dass es Schmerzmittel gibt.

Wie gut, dass wir die Augen verschließen können:

Da kann man nichts machen. So geht es eben zu auf dieser Welt.

Nur keine Empathie!

Sich nur nicht einfühlen!

Und hoffen, dass man selber irgendwie durchkommt.

Was sind wir auch so blöd uns in einen Krieg einzumischen, der uns nicht betrifft.

Oder: In unserem Sozialstaat ist für alle gesorgt. Man muss sich halt ein wenig anpassen, sich nach der Decke strecken. Mir hat auch niemand was geschenkt!

Das ist das Denken dieser Welt. Es ist gefüllt mit Gehässigkeit. Und es ist sehr naheliegend. Sehr nachvollziehbar.

Es ist nicht das Denken Jesu. Sein Weg ist der Weg des Lammes, der Weg des Ohne-Macht-Seins. In der Welt des Lammes kommt das Ohne-Macht-Sein näher an mich heran.

Im Hebräischen heißt „Opfer“ („korban“) „sich nähern“. Sich „Gott nähern“. In diesem Geschehen opfere ich all das, was mir Sicherheit gibt: Meine Kontrolle und meine Wünsche, mein Leben im Griff zu haben. Indem ich mich Gott nähere opfere ich mein Anhaften an das Diesseitige.

Lerne, mich abzufinden.

Lerne mich einzufinden.

Opfern in dieser Bedeutung heißt einfach „hergeben“. Oder „loslassen“. Sich nicht länger an daran klammern, dass mein Leben nach meinen Erwartungen abzulaufen hat.

Es ist im übrigen die Taube und nicht der Adler, der bei Jesu Taufe erscheint.

Wer sich zu diesem Jesus, zu diesem Lamm Gottes bekennt, der verlässt die geläufige Einteilung der Welt in Schuld und Unschuld, in Täter und Opfer.

Es gibt keine Bösen mehr. Und es gibt keine Guten mehr.

Und das Lamm ist auch nicht der Sündenbock.

Die Wolle des Lammes ist weiß. Im Judentum ist die Farbe weiß verbunden mit dem Erleben: Es gibt ein entweder-oder mehr. Keine Spaltung in gut oder schlecht.

Dem entspricht, dass das Schwarze, das Dunkle, die Finsternis auch nicht das Böse ist. Es ist das Geheimnis: Im Dunkel der Nacht findet der Heilige Johannes vom Kreuz den Weg zur Einung mit Gott.

„Im Dunkel der Nacht“ wird der Verstand blind. Deshalb meidet er die Dunkelheit.

Die Dunkelheit ist das Milieu, in dem mystisches Denken wächst.

Es ist ein Denken „jenseits“ unseres taghellen Verstandes.

Von dem islamischen Mystiker Dschalâl-ed-dîn Rumî stammt der Satz:

„Jenseits von falsch und richtig liegt ein Ort. Dort treffen wir uns.“ (https://gutezitate.com/zitat/168425)

Dieses „Jenseits“ ist ein Ort, an dem die Struktur gebende und damit Sicherheit gewährleistende Eindeutigkeit von „so ist es und nicht anders“ verloren gegangen ist. Die damit einhergehenden Gefühle von Unklarheit und Unsicherheit (Der Heilige Johannes vom Kreuz hat sie ausführlich in seinem Werk: „Der Aufstieg zum Berg Karmel“ beschrieben.) … diese Gefühle sind extrem unangenehm und extrem schwer erträglich. Um sie zu halten bedarf es der Kraft der Geduld, die von der Fähigkeit, Gott, seinen Nächsten und sich selbst zu lieben genährt wird. Um sie zu halten bedarf es eines tiefen Vertrauens in die Barmherzigkeit und Güte Gottes.

Gebe Gott, dass wir immmer wieder den Mut besitzen, in unsere eigene Dunkelheit hinab zu steigen. Gebe Gott, dass wir auf unseren eigenen dunklen Wegen dem Frieden des Lammes begegnen, der uns frei macht für ein Leben in Gott.

Und gebe Gott, dass wir bereit sind, diesen Frieden in unser Inneres hineinzulassen, AMEN.

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