Der Seele Nach-Denken.
„Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne
und doch Schaden nähme an seiner Seele?“ (Markus 8,36)
Von Lothar Malkwitz
(Unveröffentlichtes Manuskript; alle Rechte beim Autor)
VORBEMERKUNG
„Andere Klänge“: wörtlich genommen → ist Ausdruck des Denkens im Konkreten.
Es ist wichtig, sich darüber Gedanken zu machen, welche Bedeutung jemand einem Wort, einem Satz verleiht. Wofür er den Satz in seinem Denken verwendet. Es gibt Menschen, die denken ausschließlich im Konkreten. Sie haben den „Transfer“ , die „Transformation“ in einen anderen Bereich nicht gelernt. „Andere Klänge“ sind dann „andere Klänge“. Dass „andere Klänge“ eine Metapher ist, „für etwas Anderes steht“, etwas anderes bedeutet, ist ihnen nicht zugänglich.
Und/oder: es ist gefährlich. Bedrohlich. Denn alles „Andere“ („Fremde“, „Unbekannte“) stellt das „Eigene“ in Frage. Je unsicherer ich meines Eigenen bin, desto bedrohlicher, verunsicherndes ist es, mich in meinem Eigenen in Frage zu stellen.
Wer mich in Frage stellt ist mein Feind!
Das hat damit zu tun, dass wir von früh an ein Denken gelernt haben, das beurteilt.
Das Klingen der Klangschale – „andere“ Klänge: ist „anders“ „besser“ oder „schlechter“ ? Ist systemische Therapie besser oder schlechter als Psychoanalyse?
In solchem Denken ist ein „Gegeneinander“ entstanden:
Tao Kapitel 2:
„Erst seit auf Erden ein jeder weiß von der Schönheit des Schönen, gibt es die Hässlichkeit;
erst seit ein jeder weiß von der Güte des Guten, gibt es das Ungute.“
Ich möchte mit Ihnen gemeinsam versuchen, nicht in die Falle des Beurteilens zu tappen. Das heißt: ich will mit Ihnen versuchen, dass wir in einer Atmosphäre uns austauschen, in der Raum ist für das „Andere“, das „Fremde“.
Ein weiterer vertrauter „Klang“ oder eine vertraute „Tönung“ unseres Denkens ist es, kausal zu denken: „warum klingt die Klangschale?“ Darauf bekommt man dann eine naturwissenschaftlich korrekte Antwort:
„Die Schwingungen des Schalls breiten sich in alle Richtungen aus. Das heißt, wenn wir reden, hört man das in alle Richtungen, nicht nur in die Sprechrichtung. Dieselbe Auswirkung ergibt sich, wenn man einen Stein gerade ins Wasser fallen lässt. Dabei sieht man die Ausbreitung von Wasserwellen. In der Klangschale bewirken diese Wellen durch das Phänomen der Interferenz ein Vibrieren der Schale, wodurch ein Ton entsteht usw. …“
Sie sehen: naturwissenschaftliches Denken ist konkret. Und es ist kausal: wenn … dann. Im kausalen Denken ist etwas „zerfallen“: nämlich in Ursache und Wirkung. Diese Art zu denken hat Karriere gemacht und es funktioniert hervorragend – für Maschinen. Nur: wir Menschen sind Lebewesen, unsere Seele ist etwas Lebendiges. Diese Art zu denken lässt sich auch auf Moral anwenden: dann findet ein „Zerfall“ in Täter und Opfer statt.
Ich glaube nun, dass unsere Seele eine andere Art des Denkens benötigt und auch selber anders denkt. Nämlich in „Ganzheit“. Ich glaube, dass eine gesunde Seele eine heile Seele ist (und Heil-sein heißt ja wörtlich „ganz“ „unversehrt“ sein – so gesehen waren die „Heiligen“ keine Superhelden, sondern Menschen, die sich um „Ganzheit“ bemüht haben). Und Voraussetzung des Klingens der Klangschale, des Schwingens unserer Seele ist – „aus einem Guss“ – „ganzheitlich“ zu sein.
Das Klingen der Klangschale korreliert mit weiteren Elementen, die zu ihr gehören:
diese Elemente sind: ihre Hohlheit (Leere) – Ihre Freiheit und ihr Ganzsein (aus einem Guss)
Übertragen: eine leere eine freie und eine unversehrte Seele klingt, schwingt…
Aber was ist das? Was ist überhaupt die Seele?
Versuch einer Annäherung:
Wir Menschen sind Säugetiere.
Unser auf der Welt-Sein, unser „Uns-Spüren“ hängt unmittelbar damit zusammen, dass wir Angewiesene sind. In unserer frühen Zeit, als wir klein waren, waren wir abhängig von einer Brust, die uns nährende Milch gab. Milch, die uns wachsen ließ. Dies gilt auch im übertragenen Sinne. Wir brauchen Menschen, die uns begleiten. Gefährten. Menschen, die auch in Gefahr zu uns halten, die versuchen uns zu verstehen. Das tut gut. Das nährt.
Unsere Seele ist das „Speicher-Organ“ (die Schale), in dem unsere Beziehungserfahrungen „abgespeichert“ – „ver-innerlicht“ sind. Und natürlich auch unsere Nicht-Beziehungs-Erfahrungen: unser Allein gelassen werden – unser Gebraucht- und Missbraucht-Werden, unser im Stich-gelassen-Werden usw. Dieses Organ ist bei allem, was wir erleben mit dabei. In ihm ist das Schicksal unseres Hungers nach Nahrung und nach Zuwendung abgespeichert. In ihm ist das Schicksal unserer Enttäuschungen und unseres Hasses abgespeichert. In ihm ist das Schicksal unseres Wertes und unserer gefühlten Existenzberechtigung abgespeichert. In ihm ist das Schicksal unserer Sehnsüchte und unserer Liebe abgespeichert. Und nicht zuletzt: in ihm ist das Schicksal der von uns erlebten Beziehung, die unsere Eltern zu einander hatten, abgespeichert: ihre Liebe, ihr Hass, ihr Nebeneinanderher-Leben, ihre Trauer, ihr Glück, ihr Sich-gegenseitig-Quälen. Glücklich das Baby, das in der Sicherheit einer liebevollen Elternbeziehung aufwachsen darf. Es hat gelernt, dass der „Andere“, der „Fremde“ keine Bedrohung sondern eine Bereicherung bedeutet.
Publikum: meditatives Schweigen (kleine Anleitung)
Erstens: Der Seele Nachdenken
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
die Situation, in der ich gerade bin, dürfte jedem von Ihnen bekannt sein.
Ich stehe vor einer Gruppe, die ich wenig kenne.
Ich habe einen Auftrag. Ich soll ein Referat halten.
Mit dem Auftrag verbinden sich Erwartungen.
Von Ihnen zu mir.
Von mir zu Ihnen.
Aber auch: von mir zu mir selbst.
Und: Von Ihnen zu sich selbst.
Welche Erwartungen das genauer sind, ist nur zum Teil unserem Bewusstsein zugänglich. Zum größeren Teil sind sie unbewusst. Oft merkt man erst im Nachhinein – an einem diffusen Gefühl von Enttäuschung – dass offenbar Erwartungen nicht erfüllt worden sind.
Eine ebenso häufige wie schwierige Erwartung ist die, dass „mir das auch nichts bringen wird.“ Diese Erwartung ist umso stärker, je mehr jemand fremd bestimmt an einer Veranstaltung teilnimmt. Ich denke, Sie kennen das aus Situationen, wo jemand ein Coaching „aufs Auge gedrückt bekommen hat“. Bei mir sind das die „Patienten, die eine Therapie machen müssen, weil mein Arzt, meine Frau … meint, ich brauche eine…“ (Ich arbeite mit solchen Menschen nicht.)
Erwartungen haben es an sich, Druck aufzubauen.
Mir hilft dabei folgende Einsicht:
Nicht ich lerne von Ihnen.
Nicht Sie lernen von mir.
Wir sind gemeinsam auf ein Drittes ausgerichtet, das vielleicht zwischen uns entsteht.
„Zwischen uns“ – das heißt: da gibt es einen Raum. Einen „Zwischen-Raum“. Zu diesem gehört z.B., was wir hier allesamt freiwillig beisammen sind. Freiwillig verbringen wir unsere (kostbare) Lebenszeit miteinander! Ich finde es ist nicht unbedeutend – obwohl es so selbstverständlich scheint – sich dies klar zu machen!
„Der Seele Nachdenken“ habe ich meine Gedanken genannt.
Wichtig ist dabei: „Nachdenken“ groß zu schreiben. Heißt: ich denke nicht über die Seele nach – sondern es geht um der Seele Nachdenken selbst.
Der Unterschied „äußerlich“ ist winzig: ob man einen Buchstaben klein oder groß schreibt.
Die Bedeutung ist etwas völlig Anderes.
„Nachdenken“ klein geschrieben bedeutet: „über die Seele nachdenken“. Damit wird ein Subjekt postuliert, das gleichsam „von außen“ über die Seele nachdenkt. Die Seele wird dann zu einem Gegenstand, über den nachgedacht wird.
Der Seele Nachdenken groß geschrieben heißt: die Seele selbst ist das Zugrundeliegende, ist das Subjekt.
(N.B.: Im Hebräischen heißt Halal: jubeln, Gott preisen. Chalal bedeutet: „entweihen“ und „durchbohren“ – der Unterschied besteht darin, dass dem ersten Buchstaben eine Öffnung fehlt!)
Es ist von größter Bedeutung in unserer alltäglichen Arbeit, auf kleinste Details zu achten.
Zurück und zur Veranschaulichung:
„Der Seele Nach-denken“ ist etwas anderes als „über die Seele nachdenken.“ „Über“ scheidet, legt ein „räumliches Darüber-Stehen“ nahe, wie auf einem Berg stehen, von dort aus sich einen „Über“-Blick verschaffen. In diesem Über-Blick kann man das Verständnis der Seele in den verschiedensten Kulturkreisen sich anschauen. Oder man schaut sich an, wie die Seele funktioniert, entwirft eine Lehre über die Seele.
Sie haben wohl schon bemerkt, dass ich anderes mit Ihnen vor habe.
Wir wollen versuchen, gemeinsam einen Weg zu gehen. Und dieser Weg will ermutigen, sich selbst aufzumachen, das Wagnis einzugehen, den Weg zum Erleben der eigenen Seele zu beschreiten. Bereits hier scheint der Weg schnell zu Ende zu sein: kann doch kein Buch/Vortrag dieser Welt das Erleben der eigenen Seele beschreiben. Die „Kunst“ (in des Wortes doppelter Bedeutung) ist es, einen Weg zu finden, der nahe genug am Erleben und entfernt genug von einmaliger Individualität sich bildet.
„Der Seele Nachdenken“ bedeutet: „eintauchen“ in das Er-Leben der Seele selbst. Dies ist der psychoanalytische ebenso wie der mystische Zugang zur Seele.
Beispiel: man kann sich darüber austauschen, was das Wort „danke“ in den verschiedensten Sprachen bedeutet, oder man kann versuchen, „dankbar zu werden“. „Erlebte Dankbarkeit“.
Meister Eckhart hat in einer seiner Predigten gesagt: „Wäre das Wort ‚danke‘ das einzige Gebet, das du je sprichst, so würde es genügen.“
„Danke“ entstammt etymologisch demselben Stamm wie „denken“. Den „Gedanken“ merkt man noch vom Wortklang her ihre Nähe zu „danken“ an. „Dankendes Denken“ ist ein Denken, das anerkennt: es kann sich nicht selbst, nicht aus sich selbst heraus erschaffen. Dankendes Denken weiß: es verdankt seine Existenz einem oder etwas Anderen. Dankendes Denken ist bezogenes Denken: bezogen in Dankbarkeit. Je tiefer ich meines Lebens als eines Geschenks gewahr werde, desto leichter geht mir das Danklied über die Lippen. Allerdings unter einer Voraussetzung: dass ich bereit bin, dieses Geschenk: „mein Leben“ zu empfangen. Dass ich bereit bin, mich diesem Geschenk: „mein Leben“ hinzugeben. Das Nachdenken der Seele ist ein dankbares. Die undankbare Seele kann nicht nachdenken. Sie muss unendlich wiederholen. „Und täglich grüßt das Murmeltier.“ Sie verwechselt die Gegenwart mit der Vergangenheit. Und auch die Zukunft ist eine Neuauflage der Vergangenheit. Sie merken: hier gibt es keine Zeit mehr. Nur geronnene Ewigkeit. Je gebrochener, „zerfallener“ die Seele ist, desto schwerer hat sie es mit dem nach-denken. Nach-denken bedeutet nämlich: immer tiefer mein Leben in seinem „So-und nicht Anders-Geworden-Sein“ zu akzeptieren. Einschließlich all‘ dessen, was meine Eltern/Erzieher/Gefährten mir schuldig geblieben sind – einschließlich all‘ dessen, was ich meinen Mitmenschen, meinen Eltern/Erziehern/Gefährten schuldig geblieben bin. Dieses Nach-Denken ist nur möglich, wenn „Vergebung“ erlebt werden kann. „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern!“
(Nebenbei: im Griechischen heißt „Dank“ „Charis“: die Grundbedeutung von „Charis“ ist „Geschenk, Gnade“…)
Diese Gedanken beruhigen. Inwiefern? Sie entlasten. Wenn Sie vor einer Gruppe stehen, sich gewissenhaft vorbereitet haben, sich große Mühe geben usw. … das Entscheidende können Sie nicht „machen“ – das Entscheidende ist: was das „anrichtet“, wohin das fällt – Sie wissen es nicht. Es ist ein „Geschenk“
Diese Gedanken beunruhigen: wir haben viel, viel weniger im Griff, als wir meinen. Unsere Gedanken können erhebliche emotionale Turbulenzen bewirken, insbesondere jene, die sich mit der Wahrheit verbünden. Früher konnte man dafür schnell am Kreuz enden. Die Welt hat er nicht gewonnen…
Je stärker die Fähigkeit zu vertrauen, desto erträglicher wird die Beunruhigung. Verschwinden wird sie wohl nie. Leben ohne Ängste kann ich mir nicht vorstellen.
Aber: Je stärker das Vertrauen, desto kleiner die Ängste.
Zu einem starken Vertrauen gehört unabdingbar ein gesundes Misstrauen – sonst handelt es sich nicht um Vertrauen sondern um Naivität. Es geht darum zu erkennen, bin ich in einem gesunden, förderlichen Prozess. Beruflich (auch privat)
Gesund heißt: ganzheitlich – dass es aufs Ganze gesehen stimmt. Dass es aufs Ganze gesehen ein konstruktiver Prozess ist. Die Alternative dazu ist Zerfall. Zerstörung.
Murmelgruppe: Wovor habe ich Angst? Sind meine Ängste diffus oder klar umschrieben?
Kenne ich Beziehungen, die von Vertrauen getragen sind? Worein vertraue ich eigentlich?
Zweitens: ZERSTÖRUNGEN
Das Problem ist, dass auch Krebsgeschwüre wachsen. Und zwar am Beginn in der Regel schmerzlos. Unser deutsches Wort „Wachstumsschmerzen“ bezieht sich auf die Schmerzen eines gesunden Wachstums. Ich weiß nicht genau, was diese Einsicht bedeutet: aber sie scheint mir der Erwähnung wert.
W. Bion hat zerstörerische Beziehungen als „parasitär“ bezeichnet: „In der parasitären Beziehung ist das Resultat für beide Partner zerstörerisch.“ Bion ist der Annahme, dass es im Besonderen der Neid ist, der zu parasitären Beziehungen führt. Neid ist ein sehr frühes Gefühl, in dem sich ein „Ich“ ausgehungert und verarmt fühlt und als einzigen Ausweg die Möglichkeit in Betracht kommt, einen „Wirt“ zu finden, den es „ausbeuten“ kann. Neid kennt keinen „Zwischen-Raum“: die Art der Verbindung ist eine solche, „sich des Anderen zu bemächtigen“. Eine Wahrnehmung des Anderen als „Anderen“ findet nicht statt.
Wie kommt es zu parasitären Beziehungen? Auf der Seite des Parasiten geht es um Existenzängste. Er braucht den Wirt, sonst verhungert er. Im Seelischen braucht der Parasit die Wärme, die Kreativität, die Lebendigkeit des Anderen. Der Wirt – auf der anderen Seite – ist süchtig nach Bewunderung. Diese Sucht macht ihn verführbar für Parasiten. Der Preis ist wie gesagt hoch: er führt zur Zerstörung der Beziehung und – im, schlimmsten Fall – zur Zerstörung von Wirt und Parasit selbst.
Ich habe als Beispiel für parasitäre Beziehungen auf somatischer Ebene bereits die Krebserkrankung genannt. Natürlich finden sich auch in Unternehmen parasitäre Beziehungen. Es ist wichtig, diese zu erkennen. Ein sicheres Element ist, wenn sie es mit Menschen zu tun haben, deren Zentrum es ist, bewundert zu werden. Marilyn Monroe hat einmal gesagt: „Berühmt zu sein ist etwas Wunderbares. Aber es wärmt nicht, wenn dich in der Nacht friert!“
Und natürlich steht hinter dem Drang, berühmt zu sein, eine tiefe Sehnsucht danach, wahrgenommen, gesehen zu werden. Nur in der Bewunderung, bzw. in meinem dringenden Wunsch, bewundert zu werden, vergesse ich, dass es gar nicht um mich, sondern dass es um ein Drittes geht und dass meine Aufgabe es ist, Medium für dieses Dritte zu sein. Dieses Dritte ist der Auftrag/ Job, den ich zu erfüllen habe – in unserem Fall, Ihnen dieses Referat zu halten. Es geht nicht darum, wie Sie mich finden, sondern inwieweit Sie mit den hier geäußerten Gedanken in Schwingung kommen können, oder eben auch nicht.
Eine andere Verführung für parasitäre Beziehungen ist Existenzangst. Wenn ich der Meinung bin, dass ich diesen oder jenen Job unbedingt brauche, sonst gehe ich ein, bin ich maximal verführbar, mich auf einer anderen Ebene ausbeuten zu lassen. Es ist so, dass das Verlassen von parasitären Beziehungen mit heftigen Ängsten einhergeht. Werde ich es überleben, wenn ich sage: das mache ich nicht – oder so mache ich nicht mit usw. ?
Auf der anderen Seite: irgendwo und irgendwie spürt meine Seele, wenn ich sie im Stich lasse oder sogar verrate, indem ich gegen meine tiefen inneren Überzeugungen etwas mache. Sie meldet mir dies zurück in Gefühlen diffuser Unzufriedenheit, leichter Reizbarkeit, depressiver Verstimmungen – und in der Suche nach Betäubungen und Ablenkungen. Auch hier gibt es individuell große Variationsbreiten.
Ich glaube, das verbreitete „burn out“ ist in der Tiefe nichts anderes, als eine ausgebeutete Seele, die nicht mehr kann. Das Problem ist, dies zu erkennen. Viele Menschen kommen zur Therapie (oder ins Coaching?) um „wieder so zu funktionieren wie bisher.“ Sie wollen die Botschaft ihrer depressiven Gefühle nicht „einsehen“ – sie wollen sie nur los haben.
Fragen: An welcher Stelle bin ich selbst in der Gefahr, ein Parasit zu sein?
An welcher Stelle bin ich in der Gefahr, mich als Wirt zur Verfügung zu stellen?
Gibt es Rückmeldungen meiner Seele, die ich ignoriere? Und wenn ja – welche?
Drittens: SCHUTZ VOR KORRUPTION
Korruption, Parasitäres findet stets in einer solchen Beziehung statt, bei der „Zwischen-Raum“ zerstört ist. Es geht um entweder (ich) – oder (du). Es gibt keinen hilfreichen „Dritten“, der die „Beiden“ schützt und hält. Andersherum: in der parasitären Beziehung findet die Korruption, der Betrug am Dritten statt. Der Dritte, das können meine Werte und Überzeugungen sein, das kann der Staat sein, das kann der betrogene Ehemann (oder -frau sein).
Noch einmal anders gewendet: in der parasitären Beziehung ist der „Dritte“ exkommuniziert: wörtlich: er darf nicht mitreden, weil ihm wesentliche Informationen vorenthalten werden. Zur parasitären Beziehung gehört wesentlich Heimlichkeit.
Es ist der gute Rahmen einer Beziehung, der diese vor Korruption schützt. Dies gilt ebenso für unsere Seele.
Eine gesunde Seele ist eine „gerahmte“ Seele. Es ist der Rahmen oder die Umrahmung, über die unsere Klangschale zum Klingen kommt. Sie können zu Rahmen auch „Grenze“ sagen oder „Vereinbarung“, oder „Regel“ oder „Setting“.
Fällt der Rahmen weg, geschieht Zerstörung. Rahmenlos heißt „ungehemmt“, „gierig“ „kein Halten mehr kennen“. Alle Ausbeutung, aller Missbrauch geschieht in Rahmenlosigkeit.
Das Problem ist, dass viele Menschen „Rahmen“ in ihrer Kindheit nicht als Sicherheit spendenden Schutz erleben durften, sondern als (über-)fordernde, hartherzige und bestrafende Instanz erlebt haben. (Das ist der Rahmen vieler Religionen, die meinen, der Weg zu Gott führe darüber, sich selbst und andere zu quälen.) So dass Leben bedeutete, sich Schlupfwinkel und Nischen zu suchen, in denen der gehasste Rahmen „ausgetrickst“ wurde. So dass viele Menschen meinen, sich „ganzheitlich“ („aus einem Guss“) an einen Rahmen zu halten, ist Selbst-Vernichtung. In der Regel wurde dies von den „Großen“, den „Eltern und Erziehern“ vorgelebt.
Jesus hat dies pointiert formuliert, wenn er sagt: „Nicht der Mensch ist um des Sabbats willen, sondern der Sabbat um des Menschen willen!“ (Markus 2,27)
Das heißt aber nun nicht: der Sabbat ist aufzulösen, der Rahmen ist zu vernichten. Im zerstörten Rahmen herrscht Anarchie, Willkür. Jeder ist dem Anderen und sich selbst ausgeliefert. Im totalitären Rahmen herrscht Diktatur. Beides ist nicht lebensdienlich. Beides trägt nicht zu seelischem Wachstum bei.
(Nebenbei: Diesen lebensfördernden Rahmen benötigen wir auch „im Inneren“. Ich arbeite gerne mit dem Modell des „inneren Parlamentes“. D.h., jeder von uns besitzt in seinem Inneren ein „Gremium“, das letztlich Entscheidungen trifft. Je totalitärer dieses innere Parlament strukturiert ist, desto wahrscheinlicher ist die Anfälligkeit für parasitäre Beziehungen im außen. Umso wichtiger ist es, auch die totalitären Stimmen im Innern wahrzunehmen und sie in die demokratisch-parlamentarische Arbeit einzubinden.)
Es geht um einen lebensfördernden Rahmen, der Wachstum ermöglicht und schützt. Dieser Rahmen entsteht wiederum irgendwo „dazwischen“: zwischen Diktatur auf der einen und Willkür auf der anderen Seite.
Unsere Gefahr als Berater, als Therapeuten als Pfarrer aber auch als Eltern ist es, weil wir so gern „die Guten“ sein wollen, den klaren Rahmen zu verwässern. Wer Kinder hat, weiß, dass das Bestehen auf einem klaren Rahmen (alleine einschlafen; Grundregeln beim Essen etc.) mit Wut und Enttäuschung einhergeht. Wenn ich zu bedürftig bin, zu viel Sehnsucht in mir trage, von meinen Kindern, Coachies, Patienten bewundert und geliebt zu werden, stehe ich in großer Gefahr, den wachstumsfördernden Rahmen dafür zu opfern. Das fühlt sich dann „toll“ und „schmerzfrei“ an – ist aber sehr gefährlich. Genau genommen bleibe ich mir selbst und den mir Anvertrauten Wesentliches schuldig.
Wir kommen also zu einer weiteren wesentlichen Fähigkeit, die mich vor Korruption schützt: die Fähigkeit, andere Menschen zu enttäuschen. Diese Fähigkeit hängt unmittelbar mit meiner Kraft zusammen, den Anderen nicht zu brauchen. Es ist nicht die Aufgabe der uns Anvertrauten, uns zu stabilisieren!
(Das ist alles leichter gesagt als gelebt.)
Erst indem ich den Anderen nicht mehr brauche, entsteht eine Freiheit, einander wirklich kennen zu lernen. Im Hebräischen wird für „kennen lernen“, „erkennen“ und „lieben“ dasselbe Wort verwendet: „jada“! („Und Adam erkannt sein Weib.“)
Der sicherste Schutz vor Korruption der eigenen Seele ist die Fähigkeit oder Kunst zu lieben. Und zwar jene Liebe, die mit Erkennen im Bunde ist. In dieser Liebe wächst eine gesunde Seele, die sich ihrer selbst bewusst ist, sich selbst achtet und liebt. Damit korreliert ganz von selber die Achtung des Anderen: „liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Und dies geschieht alles in einem guten, lebensfördernden Rahmen.
Ich komme zum Schluss:
Bernhard von Clairvaux – ein Mönch und Coach, der vor ca. 900 Jahren gelebt hat – hat den Schutz vor Korruption in folgendem Bild ausgedrückt:
„Wenn du vernünftig bist, erweise dich als Schale und nicht als Kanal, der fast gleichzeitig empfängt und weitergibt, während jene wartet, bis sie gefüllt ist. Auf diese Weise gibt sie das, was bei ihr überfließt, ohne eigenen Schaden weiter. Lerne auch du, nur aus der Fülle auszugießen, und habe nicht den Wunsch, freigiebiger zu sein als Gott. Die Schale ahmt die Quelle nach. Erst wenn sie mit Wasser gesättigt ist, strömt sie zum Fluss, wird sie zur See. Du tue das Gleiche! Zuerst anfüllen und dann ausgießen. Die gütige und kluge Liebe ist gewohnt über zuströmen, nicht auszuströmen. Ich möchte nicht reich werden, wenn du dabei leer wirst. Wenn du nämlich mit dir selber schlecht umgehst, wem bist du dann gut? Wenn du kannst, hilf mir aus deiner Fülle; wenn nicht, schone dich.“
Wer diese Gedanken „beherzigt“, sie in sein Herz hinein lässt, der muss davor, die eigene Seele zu korrumpieren, keine Angst haben. Der Rhythmus seines Lebens wird langsamer werden – mehr seiner eigenen Natur entsprechend. Er wird sich selbst und Andere nicht mehr ausbeuten. Er wird auch weniger gefährdet für Fremd-Ausbeutung sein.
Eine gesunde Seele ist zu einer Schale der Liebe geworden. Nicht wegen eines erhobenen Zeigefinders, nicht aus Angst vor Bestrafung hält sie sich an Grenzen, an einen guten Rahmen: sondern aus Liebe. Jene Liebe, von der es heißt:
„sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles – und sie freut sich an der Wahrheit!“ (1. Kor. 13, 7).
Exerzitien: Wie ist mein Verhältnis zu Rahmen und Grenzen? Halte ich die Beschäftigung damit für nebensächlich? Wo trickse ich, wenn es um die Einhaltung eines Rahmens geht? Und warum eigentlich?