Der Historiker und Journalist Rutger Bregman hat unter dem Titel
„Im Grunde gut“ eine „neue Geschichte der Menschheit“ geschrieben. Es ist eine Art Gegenentwurf zu Hararis Bestseller „Eine kurze Geschichte der Menschheit“, in der er mit vielen Beispielen veranschaulicht, welche eine Spur der Verwüstung das Lebewesen „Mensch“ – seit es auf der Bühne der Erde aufgetaucht ist – nach sich gezogen hat.
Bregman stellt die westeuropäische, durch Augustins Erbsündenlehre maßgeblich beeinflusste autorisierte Denktradition, derzufolge der Mensch böse sei – und zwar „von Mutterleibe an“, in Frage. Er weist darauf hin, dass wirklich Bösartiges in der menschlichen Geschichte immer nur von sehr wenigen bösartigen Menschen ausging. Das Problem sei, dass sie Meister der Manipulation, der Verführung sogenannter „gutgläubiger“ Menschen sind.
Ein Beispiel aus Bregmans Buch: Der Roman „Herr der Fliegen“ ist ein Weltbestseller geworden. Er handelt von der Grausamkeit von Jugendlichen, die auf einer einsamen Insel gestrandet sind. Dazu , so Bregman, gibt es eine wahre Geschichte. In der wahren Geschichte stranden ebenso Jugendliche auf einer Insel, und sind sich selbst überlassen. Und es gelingt ihnen für zwei Jahre so gemeinsam zu leben und zu überleben, dass kein Mord geschieht. Im Gegenteil: Sie helfen zusammen, bauen Getreide und Früchte an. Wenn es Streitigkeiten gibt, werden die Betroffenen von einander getrennt, sie müssen eine Zeit lang in großer räumlicher Distanz verbringen, bis sich die Wogen geglättet haben. Dies, so Bregman, sei die wahre Geschichte vom „Herrn der Fliegen“.
In unserem heutigen Predigttext geht es um Versöhnung. Das Wort kommt nicht von „Sohn“ – sondern von Sühne. Es bedeutet so was wie: „Es gut sein lassen“, „loszulassen“, erleben zu können: „Es ist vorbei. Der/die Andere schuldet mir nichts mehr“. Mit dem schönen Nebeneffekt: „Ich bin frei!“ Sätze wie: „Das hätte nicht passieren dürfen!“, „Wie konnte der/die Andere mir das antun?! Auch: „Was war/bin ich doch für ein unmöglicher Mensch!“ haben nur einen Zweck: An dem Geschehenen festzuhalten.
Versöhnung: Die etymologische Herkunft des Wortes „Sühne“ ist unklar. Über den Gedanken des „Sühnopfers“ gibt es eine Verbindung zu Sterben und Tod. Dahinter steht eine tiefe Wahrheit: Indem ich aufhöre, den/die Andere(n) mit meinem Hass und mit meinen Rachegelüsten zu verfolgen, füttere ich diese Emotionen nicht länger; und wenn ich aufhöre sie zu füttern, werden sie allmählich verhungern. Wie elend sich das anfühlt können Sie beim Heiligen Johannes vom Kreuz nachlesen. Es sind die Gefühle der (drei) dunklen Nächte der Seele.
Versöhnung ist – anders als Vergebung – ein Geschehen, das nur in Beziehung mit einem Anderen, einer Anderen möglich ist. Um Versöhnung erleben zu können, benötige ich ein Du. Wenn der/die Andere nicht dazu bereit ist, ist Versöhnung unmöglich.
Ganz anders ist es bei der Vergebung: Die Bitte im Vaterunser: „Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ kann ich jederzeit verwirklichen, ohne dass ich meine Schuldiger dazu benötige. Vergeben geschieht aus mir heraus!
In unserer Geschichte geht es um Saul, dem ersten König des Volkes Israel und um David, von Beruf Schafhirte und Harfenspieler, Saul repräsentiert Macht und Brutalität. David repräsentiert Intelligenz und Besonnenheit. Und in unserer Geschichte die Kraft, seine eigenen aggressiven Impulse zu hemmen. Ihnen nicht nachzugeben.
Unser heutiger Predigttext ist ein Ausschnitt aus den Geschichten von Saul und David. David – zunächst von Saul protegiert – war dem König zu mächtig geworden. Er war beliebt beim Volk und damit gefährlich für den Erhalt der Macht von Saul geworden. So versucht Saul, David zu töten. Aber immer wieder muss Saul gegen die Philister kämpfen und verunmöglichen eine wirkungsvolle Verfolgung und Beseitigung von David. David war auch nicht untätig geblieben: Er hatte Männer um sich gesammelt, eine Art Privatarmee. Diese zog durch die Lande und verdingte sich, wo sie gebraucht wurde. (Eine moderne Form dieser „Privatarmee“ ist die russische Gruppe „Wagner“.)
Unser Predigttext beginnt mit der zufälligen Begegnung von Saul und David in der Oase En Gedi.
1 Und David zog von dort hinauf und blieb in den Bergfesten bei En-Gedi. 2 Als nun Saul zurückkam von der Verfolgung der Philister, wurde ihm gesagt: Siehe, David ist in der Wüste En-Gedi. 3 Und Saul nahm dreitausend auserlesene Männer aus ganz Israel und zog hin, David samt seinen Männern zu suchen bei den Steinbockfelsen. 4 Und als er kam zu den Schafhürden am Wege, war dort eine Höhle, und Saul ging hinein, um seine Füße zu decken[1]. David aber und seine Männer saßen hinten in der Höhle. 5 Da sprachen die Männer Davids zu ihm: Siehe, das ist der Tag, von dem der HERR zu dir gesagt hat: Siehe, ich will deinen Feind in deine Hand geben, dass du mit ihm tust, was dir gefällt. Und David stand auf und schnitt leise einen Zipfel vom Rock Sauls. 6 Aber danach schlug ihm sein Herz, dass er den Zipfel vom Rock Sauls abgeschnitten hatte, 7 und er sprach zu seinen Männern: Das lasse der HERR ferne von mir sein, dass ich das tun sollte und meine Hand legen an meinen Herrn, den Gesalbten des HERRN; denn er ist der Gesalbte des HERRN. 8 Und David wies seine Männer mit diesen Worten von sich und ließ sie sich nicht an Saul vergreifen. Als aber Saul sich aufmachte aus der Höhle und seines Weges ging, 9 machte sich danach auch David auf und ging aus der Höhle und rief Saul nach und sprach: Mein Herr und König! Saul sah sich um. Und David neigte sein Antlitz zur Erde und fiel nieder. 10 Und David sprach zu Saul: Warum hörst du auf das Reden der Menschen, die da sagen: David sucht dein Unglück? 11 Siehe, heute haben deine Augen gesehen, dass dich der HERR heute in meine Hand gegeben hat in der Höhle, und man hat mir gesagt, dass ich dich töten sollte. Aber ich habe dich verschont; denn ich dachte: Ich will meine Hand nicht an meinen Herrn legen; denn er ist der Gesalbte des HERRN. 12 Mein Vater, sieh doch hier den Zipfel deines Rocks in meiner Hand! Dass ich den Zipfel von deinem Rock schnitt und dich nicht tötete, daran erkenne und sieh, dass nichts Böses in meiner Hand ist und kein Vergehen. Ich habe mich nicht an dir versündigt; aber du jagst mir nach, um mir das Leben zu nehmen. 13 Der HERR wird Richter sein zwischen mir und dir und mich an dir rächen, aber meine Hand soll nicht gegen dich sein; 14 wie man sagt nach dem alten Sprichwort: Von Frevlern kommt Frevel; aber meine Hand soll nicht gegen dich sein. 15 Wem zieht der König von Israel nach? Wem jagst du nach? Einem toten Hund, einem einzelnen Floh! 16 Der HERR sei Richter und richte zwischen mir und dir und sehe darein und führe meine Sache, dass er mir Recht schaffe und mich rette aus deiner Hand! 17 Als nun David diese Worte zu Saul geredet hatte, sprach Saul: Ist das nicht deine Stimme, mein Sohn David? Und Saul erhob seine Stimme und weinte 18 und sprach zu David: Du bist gerechter als ich, du hast mir Gutes erwiesen; ich aber habe dir Böses erwiesen. 19 Und du hast mir heute gezeigt, wie du Gutes an mir getan hast, als mich der HERR in deine Hand gegeben hatte und du mich doch nicht getötet hast. 20 Wo ist jemand, der seinen Feind findet und lässt ihn im Guten seinen Weg gehen? Der HERR vergelte dir Gutes für das, was du heute an mir getan hast! 21 Nun siehe, ich weiß, dass du König werden wirst und das Königtum über Israel in deiner Hand Bestand haben wird. 22 So schwöre mir nun bei dem HERRN, dass du mein Geschlecht nach mir nicht ausrotten und meinen Namen nicht austilgen wirst aus meines Vaters Hause. 23 Und David schwor es Saul. Da zog Saul heim. David aber mit seinen Männern zog hinauf auf die Bergfeste.
Lied 495, 4-6
Ihr Lieben,
zwei Punkte möchte ich herausgreifen:
Erstens: Dass David keinen Mord begeht, dass er über die Kraft verfügt, sich zu hemmen, dies verdankt er seiner Beziehung zu Gott. Das lasse der HERR ferne von mir sein, dass ich das tun sollte und meine Hand legen an meinen Herrn, den Gesalbten des HERRN; denn er ist der Gesalbte des HERRN. Oder, etwas nüchterner ausgedrückt: Die letzte Instanz für David ist nicht seine „gottlose“ Selbst-Gerechtigkeit sondern Gottes Gerechtigkeit.
„Gott sitzt im Regimente“ hat Paul Gerhardt in dem Lied „Befiehl du deine Wege“ gedichtet.
„Auf, auf, gib deinem Schmerze und Sorgen gute Nacht,
lass fahren was das Herze betrübt und traurig macht;
bist du doch nicht Regente, der alles führen soll,
Gott sitzt im Regimente und führet alles wohl.“
Diese Gedanken nicht nur denken sondern erleben zu können, ist meines Erachtens ein sehr wirksamer Schutz gegen depressive Verstimmungen. Die einzige Nebenwirkung dieser Art des Schutzes sind jene Gefühle, die damit hadern, dass ich meinen vermeintlich „gerechten“ Zorn ins Leere laufen lasse. Die mir einflüstern: „Das darfst du dir nicht bieten lassen!“ Diese Gefühle bei mir zu halten, ihnen kein Futter geben: darin sehe ich meine alltägliche Aufgabe als Mensch und als Christ. Das heißt anders herum, dass ich meinen Missmut, mein Gereizt-Sein so weit ich kann, bei mir halte, es ertrage. Es ist übrigens nichts anderes als das „Murren“ des hungrigen Volkes der Israeliten in der Wüste.
Zweitens: Versöhnung geschieht im Augenblick, Versöhnung ist ein Geschehen der Gegenwart. Damit hängt zusammen, dass es keinen dauerhaften Frieden auf dieser Welt gibt und auch nicht geben kann. Das Bestmögliche sind Augenblicke der Versöhnung, der Befriedung. Wir haben eine siebzigjährige Friedenszeit erlebt, deren Fortdauer aktuell in großer Gefahr ist.
In unserer Geschichte gelingt es David, Saul mit seinen friedlichen Absichten zu erreichen. Saul ist berührt davon. Durch dieses Berührt-Sein kann Saul kurzzeitig über den Tellerrand seines Hasses hinaus schauen. David sagt, wem jagst du eigentlich nach? Einem einzelnen Floh? Einem toten Hund? Damit meint er: Du jagst Hirngespinsten nach. Die Wirklichkeit ist: Ich tue dir nichts. Ich erkenne dich, deine Position als meinen von Gott erwählten König an. Es ist Sauls Paranoia, die ihn dazu geführt hat, David zu ermorden. Indem er diese erkennt, kann er von seinem Hass auf David ablassen.
Die eigene Paranoia, die eigenen paranoiden Gefühle als „meine eigenen“ zu erkennen, setzt allerdings die Bereitschaft und Fähigkeit voraus, sich selbst über die Schulter zu schauen. Erst dann wird es möglich, den Balken dort zu sehen, wo er wirklich ist: im eigenen Auge. Erst und nur indem ich meine Projektionen als Projektionen durchschaue, kann ich sie zu mir zurücknehmen. Und muss meine Mitmenschen nicht länger damit behelligen.
Liebe Gemeinde,
zu lernen, die eigenen destruktiven Impulse zu hemmen, sehe ich als die einzige Chance für unser Überleben als Lebewesen, die die Bezeichnung „Mensch“ verdienen. Wir leben in einer Zeit, in der Hemmungslosigkeit mit Mut, Übergriffigkeit mit Stärke verwechselt wird. Ja – wir alle sind „hemmungslos“ auf die Welt gekommen, als Babys sind wir heftigsten Emotionen ausgeliefert gewesen. Und wenn wir Glück hatten, durften wir Eltern erleben, die unsere „ungehaltenen“ Gefühle ausgehalten haben, uns getröstet haben, und uns materiell wie emotional genährt haben. So hat sich in unserer Seele sehr allmählich eine Art Schutzmantel entwickelt, der uns vor destruktiven Impulsen – und zwar sowohl diejenigen, die von außen kommen, als auch die, die von mir selber kommen – schützt. Wenn wir Pech hatten, und (zu)viel von den ungehaltenen destruktiven Emotionen unserer Eltern und Erzieher abbekommen haben, dann ist es um so dringender zu lernen, wie ich mir so einen „Schutzmantel“ selber nähen kann. Dazu gehört auch, den Mut aufzubringen, mir Hilfe zu holen.
In einer Geschichte, deren Autor ich nicht kenne, wird dieser Schutz als „Sieb“ bezeichnet. Die Geschichte geht so:
Die drei Siebe
Zum weisen Sokrates kam einer gelaufen und sagte: „Höre Sokrates, das muss ich dir erzählen!“
„Halte ein!“ – unterbrach ihn der Weise, „Hast du das, was du mir sagen willst, durch die drei Siebe gesiebt?“
„Drei Siebe?“, frage der andere voller Verwunderung. „Welche drei Siebe?“
„Ja guter Freund! Lass sehen, ob das, was du mir sagen willst, durch die drei Siebe hindurchgeht: Das erste ist die Wahrheit. Hast du alles, was du mir erzählen willst, geprüft, ob es wahr ist?“
„Nein, ich hörte es erzählen und…“
“ So, so! Aber sicher hast du es im zweiten Sieb geprüft. Es ist das Sieb der Güte. Ist das, was du mir erzählen willst gut?“
Zögernd sagte der andere: „Nein, im Gegenteil…“
„Hm…“, unterbracht ihn der Weise, „So lass uns auch das dritte Sieb noch anwenden. Ist es notwendig, dass du mir das erzählst?“
„Notwendig nun gerade nicht…“
„Also“ sagte lächelnd der Weise, „wenn es weder wahr noch gut noch notwendig ist, so lass es begraben sein und belaste dich und mich nicht damit.“
(Gelesen in: Jung im Kopf: Erstaunliche Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden von Martin Korte)
Ich wünsche Ihnen und mir, dass wir lernen, in unserem alltäglichen Miteinander von diesen drei Sieben Gebrauch zu machen. Ein wichtiges Hilfsmittel ist dabei der Gedanke: Nicht ich bin der Regente – sondern „Gott sitzt im Regimente!“
Oder mit Theresa von Avila: „Gott allein genügt!“ AMEN.