Ein Macht-Gott ist ein vergifteter Gott: Predigt zu 4. Mose 21, 4-9 (Sonntag Reminiscere 2023)

Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, liebe Gemeinde,

offenbar tun wir Menschen uns schwer mit dem Allein-Sein. Wenn man den Geschichten der Bibel glauben kann, so sind die schlimmsten „Verfehlungen“ in Situationen des Allein-Seins, genauer des Allein-gelassen-worden-Seins entstanden. Schon im Paradies findet die erfolgreiche Verführung durch die Schlange zu einer Zeit statt, als Adam und Eva sich selbst überlassen waren – also in der Abwesenheit Gottes. Kain ermordet seinen Bruder Abel ebenfalls gleichsam „hinter dem Rücken Gottes“. Und das goldene Kalb entsteht, als das Volk das Warten auf Moses nicht mehr aushält. Jesus wird vom Satan verführt am Ende seiner 40tägigen Fastenzeit in der Wüste – auch da ist er ganz allein.

 

Unser heutiger Predigttext ist auch so eine Wüstengeschichte. Sie steht im 4. Buch Mose, das in der jüdischen Tradition „in der Wüste“ heißt. Es handelt von dem langen Weg des Volkes Israel durch die Wüste. Es kommt aus Ägypten von den „Fleischtöpfen“ und der „Sklaverei“ und sucht den Weg in das gelobte Land, wo Milch und Honig fließen. Ihr Führer ist – so wollte es Gott – der Mann Moses. Er stirbt – das „Gelobte Land“ vor Augen -, ohne es je betreten zu haben. Große Führer können und dürfen offenbar sich nicht nieder lassen, sich zur Ruhe begeben: „Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege“ (Matth. 8,20).

Aber auch vor ihrem eigenen Volk haben große Führer selten Ruhe. Das Volk Israel jedenfalls benimmt sich wie ein quengelndes, unzufriedenes Kind, dem man es einfach nicht recht machen kann.

Wären wir doch bloß in Ägypten geblieben. Da hatten wir jedenfalls genug zum Essen und Trinken. Warum musstest du uns hierher führen?“ murren sie immer wieder. Und murren sie besonders, wenn sie sich allein und hilflos fühlen.

Das hat man dann davon: Man setzt sein Leben dafür ein, die eigenen Leute aus der Sklaverei heraus zu führen, und was ist der Dank? Jammern, klagen, murren. Eben noch hatten sie mit Gottes Hilfe gegen die Kanaaniter gesiegt – aber statt Dank und Freude „ward das Volk verdrossen“ – wie Luther so schön übersetzt. „und redete wider Gott und wider Mose: Warum hast du uns aus Ägypten heraus geführt, dass wir sterben in der Wüste? Denn es ist kein Wasser und Brot hier und das Brotzeug hier widert unsere Seele an.

Da sandte ER gegen das Volk die Vipern, die Brandnattern aus, die bissen das Volk und viel Volk von Israel starb. Da kamen sie zu Mose, sprachen: wir haben gesündigt, dass wir gegen IHN und gegen dich geredet haben; setze dich bei IHM ein, dass er die Viper von uns nehme.

Mose setzte sich ein für das Volk. ER sprach zu Moses: Mache dir eine Brandnatter und tue sie an eine Bannerstange. So sei es: jeder Gebissene sehe sie an und er wird leben bleiben. Mose machte die Viper von Kupfer, er tat sie an eine Bannerstange. Es geschah: hatte die Viper einen Mann gebissen, blickte er auf die Viper von Kupfer und er blieb am Leben.“ (4. Mose 21,4b-9)

Folgen wir dem vertrauten Spuren, so wie wir das alle gelernt haben, dann ist die Geschichte schnell erklärt: Das Volk ist ungehorsam, undankbar, redet gegen Moses und Gott. Schlimmer noch: es findet die göttliche Wüstennahrung, das Manna „widerlich“. So viel Eigensinn scheint grausam bestraft werden zu müssen: wer „Widerworte gibt“, wem das Essen nicht schmeckt, der wird mit dem Tod bestraft. Erst als das Volk bekennt: „Wir haben gesündigt, wir waren böse“, versucht Moses sich bei Gott für das Volk einzusetzen. Daraufhin gewährt Gott einen Ausweg: wer nämlich die kupferne Schlange ansieht, für den ist der Schlangenbiss nicht tödlich.

Ich weiß nicht, wer von Ihnen den Film „Das weiße Band“ angesehen hat – ein Film, der die grausame Erziehungsmethode eines evangelischen Pastors in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts schildert. Mühelos könnte sich dieser Pastor auf unsere Geschichte berufen. Gott ist zum Repräsentanten eines kalten Macht-Vaters geworden, dem Widerworte zu geben vernichtend bestraft wird. Mit Prügeln, mit Einsperren, mit tagelangem Schweigen. Moses wäre in diesem System die Mutter und Ehefrau, die sich der väterlichen Tyrannei unterworfen hat. Ab und zu – je nach Laune des Diktators, kann sie ein gutes Wort bei ihm für die Kinder einlegen. Natürlich nur, wenn die Kinder vorher ihre „Verfehlung“ zugegeben und um Entschuldigung gebeten haben. Alles, was sie dabei erreicht, ist eine Begrenzung der Todesstrafe: wer sich selbst demütigt, „hinauf“ zu dem Bild blickt, wer sich vor dem Diktator in den Staub wirft und seine Hoheit bedingungslos anerkennt, der kommt mit dem Leben davon. Ich vermute, unter uns sind noch Menschen, die Nachwirkungen dieser Erziehungsmethode am eigenen Leibe erlebt haben. Im 5. Buch Mose heißt es übrigens wörtlich: „So erkennst du in deinem Herzen, dass der Herr, dein Gott, dich erzogen hat, wie ein Mann seinen Sohn erzieht.“ Erziehung über Demütigung und Prügel, mit dem Ziel, den anderen in seinem Eigenwillen zu brechen: man nennt diese Erziehungsmethode „schwarze Pädagogik“. Leider gehört sie nur bedingt der Vergangenheit an.

Aber ist das alles, was zu unserem Text zu sagen ist?

Mich befriedigt diese Erklärung, in der Gott zu einem beleidigten Vater wird, der in seinem Zorn seine quengelnden Kinder vernichtet, nicht. Was muss das für ein in sich selbst verliebter Gott/Vater sein, der keinen Widerspruch duldet? Der unfähig ist, seinen eigenen Herrschaftsstandpunkt zu reflektieren, der gar nicht auf die Idee kommt, so etwas wie Mitgefühl mit seinen Kindern, mit seinem Volk zu entwickeln? Ich glaube nicht an einen Diktator-Gott, dessen Macht darin besteht, den anderen Angst zu machen, ihn einzuschüchtern und zu vernichten. Nebenbei: Natürlich schürt eine solche Erziehungsmethode vor allem eines: Hass, Verachtung und den Wunsch nach Vergeltung. Ist aber die Angst vor dem Macht-Vater-Gott zu groß, so wird der Hass umgelenkt. Statt den Diktator abzusetzen, richtet sich der Hass auf alles, was nicht mit ihm konform ist, was ein Eigen-Leben führt. Die Autonomie des Schwächeren ist zu zerstören. Das gilt – wie wir augenblicklich erleben – auch für Staaten wie Taiwan, die Ukraine, Tibet usw.

Liebe Gemeinde,

so ein Macht-Gott ist nicht mein Gott.

Ich bin auf der Suche nach einem Gott, der mich, der mein Eigenleben und der auch und gerade meine Schattenseiten aushält. Der mir beisteht durch die Wüstenwanderungen meines Lebens, der mich hält, wenn ich zu fallen drohe, der mich begleitet und ermuntert, anstatt mich auch noch zu schlagen, wenn es mir ohnehin schon schlecht genug geht.

Ich bin auf der Suche nach einem Gott, der mich in die Freiheit meines einmaligen eigenen Lebens führt.

Dies ist der Weg des Loslassens, der guten Trennung von dem Macht-Gott. Er-Lösung hat mit Los-Lassen, los-lösen zu tun. Und genau diesen Weg geht das Volk Israel: Es ist der Weg, der aus der Abhängigkeit der „Fleischtöpfe Ägyptens“ („Hotel Mama“) „durch die Wüste“ in das eigene Land führt. So gesehen ist das Zetern und Quengeln des Volkes Israel nichts anderes als das Durchleben der Gefühle einer echten Pubertät: jeder Jugendliche ist mit den Problemen konfrontiert, groß und selbständig sein zu wollen und gleichzeitig klein und abhängig bleiben zu wollen. Letzteres wird natürlich gerne durch zur Schau getragene „Coolness“ überdeckt. Und – seien wir mal ehrlich: das Elternhaus als „kostenloses Vier-Stern-Hotel“ – wäre doch genial, oder?

Das Problem ist: erwachsen und selbstständig sein zu wollen. Es schon zu können.

Das Problem ist: sich den Gefühlen des erwachsen und selbstständig Werdens nicht auszusetzen. Lernen ist unangenehm und macht wenig Spaß. Gefühle des Nicht-Könnens und Nicht-Wissens sind zu ertragen. Unser Schulsystem verführt dazu, so zu tun, als wäre man schon erwachsen. Unser Schulsystem, besonders am Gymnasium, steht in der Gefahr, riesige Köpfe heranzuziehen, die nicht lernen, auf beiden Beinen zu stehen. Riesige Köpfe, die die Verbindung zu ihren Körpern verloren haben. Ich habe gehört, dass an der UNI München vor dem Raum, in dem die Immatrikulation stattfindet, ein großes Schild mit der Aufschrift steht: „Hier müssen Papa und Mama leider draußen bleiben!“

Was die Jugendlichen, was Ihr braucht, das sind Erzieher, die Eure körperlich-seelische Entwicklung, Euer ganzheitliches Wachstum freundlich begleiten und unterstützen. Was wir alle brauchen, ist ein Gott, dessen Anliegen unsere Entwicklung, unser seelisch-mentales Wachstum ist – und nicht unsere Unterwerfung unter ihm! Wir brauchen einen entwicklungsfreundlichen Gott. Die Geschichte der christlichen Kirche aber lehrt, dass sie sich mit Weiterentwicklung nicht gerade leicht tut. Klar: Entwicklung ist gefährlich: Man weiß ja nicht in welche Richtung die Entwicklung geht. Wer Kinder hat, weiß, was ich meine!

Zurück zu unserem Text. Ich lese ihn als Geschichte eines giftig gewordenen Gottes. Er schickt die Giftschlagen – nicht der barmherzige! Und wie ist Gott giftig geworden?

Es sind wir selbst, die Gott vergiften, nämlich immer dann, wenn wir die Wirklichkeit mit unseren verzerrten Annahmen über die Wirklichkeit verwechseln. Anders ausgedrückt: Das Bild des vernichtenden, strafenden Gottes ist eine Projektion unserer eigenen Vernichtungswünsche, unseres eigenen Hasses auf die Wirklichkeit. . In dieser Projektion wird die göttliche „Nahrung“, das Manna, widerlich und ekelhaft. Unser Hass aber quillt aus Gefühlen der Einsamkeit, des Sich-allein- und Im-Stich-gelassen-Fühlens. In diesem Hass vergessen wir die Güte Gottes und verwandeln ihn in ein uns vernichtendes gewalttätiges Monster. Indem wir lernen, Gottes Abwesenheit in Liebe zu ertragen, wird er quasi zurück verwandelt. Der Motor dieser Rückverwandlung ist unser Vertrauen, unsere Liebe zu einem barmherzigen Gott. Ein Beispiel für diese Wandlung des Hasses in Vertrauen finden wir in Psalm 22: Aus dem verzweifelten „mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ (Vers 2) wird ein „Ich will deinen Namen predigen meinen Brüdern…“(Vers 23).

Das Banner der ehernen Schlange ist natürlich eine Vorwegnahme des Kreuzes: Beide, das Banner wie das Kreuz können das Gebissen-Werden von den Giftschlagen nicht ungeschehen machen – aber beide stehen für den Scheitelpunkt, den Wendepunkt der Abwesenheit Gottes! Die Wendung hin zur Auferstehung der Liebe, des Lebens. Und in dieser Wende müssen wir den Anderen nicht mehr mit unserem Hass kreuzigen, stattdessen lernen wir unser eigenes Kreuz zu tragen … und so stark für unser eigenes Leben zu werden. Ein starker Rücken kennt durchaus Schmerzen, aber ein starker Rücken hat auch gelernt, sein eigenes Lebenskreuz, sein eigenes Lebensschicksal zu sich zu nehmen, zu tragen.

Dass uns Gott jeden Tag aufs Neue unseren Rücken stärke, dass wir mit Rückgrat und erhobenen Hauptes durch unser Leben gehen, dass wir aufhören, anderen die Schuld an unserem Leid zu geben und gerade so Vorbilder der Liebe Gottes sind und werden: Darum bitten wir den allmächtigen und barmherzigen Gott, durch Jesus Christus seinen Sohn, unseren Herrn, AMEN.

Nach oben scrollen