Predigten

Predigt über 1. Petrus 5, 1-4 am Hirtensonntag 2023 (misericordias domini)

Liebe Gemeinde,

die Barmherzigkeit Gottes steht im Mittelpunkt dieses Sonntags. Ich will ewig singen von der Barmherzigkeit Gottes heißt es in Psalm 89, 1.

Nun – ich will predigen von der Barmherzigkeit Gottes. „Rachamim“ heißt Barmherzigkeit im Hebräischen. Es ist abgeleitet von „Rächäm“ – „Mutterleib. Das Verb dazu heißt „racham“ – sich erbarmen. Es geht um die „weichen Gefühle“, um die Fähigkeit, sich „einzufühlen“ (Empathie) – sich auch dann noch in den Anderen einzufühlen, wenn ich Recht habe. Es geht um die Kraft des Perspektivenwechsels: Immer wieder zu versuchen, die Welt aus der Perspektive des Anderen zu sehen. Die Früchte eines Lebens in und aus Barmherzigkeit sind Gelassenheit, innere und äußere Ruhe und Kreativität.

In unserem Alltag tritt leicht an die Stelle der Einfühlung der Vorwurf. Gerade im Umgang mit Schwächeren, mit Kindern oder Älteren wird gerne der erhobene Zeigefinger ausgepackt. Und so geht auch unserer heutiger Predigttext mit einem erhobenen Zeigefinger an: „Ich ermahne“ euch, heißt es da – griechisch: „parakaleo“. Wörtlich heißt das jedoch „ich rufe herbei…“. Im Johannesevangelium ist der „Heilige Geist“ der Paraklet – er ist der „herbeigerufene Tröster“, der die Jünger über die Abwesenheit ihres Freundes und Meisters hinweg tröstet. Es geht also nicht um eine moralische Ermahnung mit erhobenem Zeigefinger. Es geht vielmehr um Trost, um Stärkung und Ermunterung im Sinne eines „Ihr kriegt das schon hin! Ich glaube an Euch!“

Und was soll man hinkriegen? Ich lese aus dem ersten Petrusbrief 5, 1-4.

„Die Ältesten unter euch ermahne ich, der Mitälteste und Zeuge der Leiden Christi, der ich auch teilhabe an der Herrlichkeit, die offenbart werden soll: Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist, und achtet auf sie, nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt, nicht um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund, nicht als solche, die über die Gemeinden herrschen, sondern als Vorbilder der Herde. So werdet ihr, wenn erscheinen wird der Erzhirte, die unverwelkliche Krone der Herrlichkeit empfangen. Desgleichen ihr Jüngeren, ordnet Euch den Ältesten unter.“

Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Briefes ist das Christentum auf dem Weg, sich aus einer jüdischen Sekte heraus zu verwandeln. Eine eigene Religion zu werden. Es hat sich ausgebreitet, viele christliche Gemeinden sind entstanden. Und wenn Menschen in Gruppen zusammen kommen, bedarf es einer Ordnung. Unser Text ist also auch ein Zeugnis darüber, wie versucht wurde, eine Ordnung in die noch junge Gruppe der Christenmenschen zu bringen.

Petrus bzw. der Verfasser des ersten Petrusbriefes, bezieht seine eigene Autorität als „Mitältester“ daraus, selbst Zeuge der Leiden Christi gewesen zu sein – verbunden mit der „Teilhabe“ an seinem „Glanz“ (doxa), was Luther als Herrlichkeit übersetzt. Aus dieser, seiner Autorität heraus, wird jetzt gesagt, was die Identität und Aufgabe eines Ältesten, eines „Leiters“ einer Gemeinde ist: Seine Identität ist „Hirte zu sein“. Seine Aufgabe ist die „Herde Gottes“ zu „weiden“ im Sinne von „behüten“. Und zwar so, dass die Erfüllung dieser Aufgabe nicht aus einem äußeren Zwang heraus geschieht – sondern „freiwillig“ – auch nicht aus „Gewinnsucht“ sondern von „Herzensgrund“ wie Luther so schön übersetzt. Anders ausgedrückt: Das Leiten einer Gemeinde sollte eine „Herzensangelegenheit“ sein. Und schließlich sollte der „Älteste“ nicht danach streben, über seine Gemeinde zu „herrschen“ – sondern er sollte selbst zum Vorbild für seine ihm anvertrauten „Schafe“, seine Gemeindeglieder werden.

Auch wenn das Bild des Hirten, der seine Schafe weidet, antiquiert ist: Die dahinter stehende Idee ist doch sehr bemerkenswert. Der gute Hirte ist ein „Kümmerer“ – und dieses Sich-Kümmern ist ihm eine Herzensangelegenheit. Abgegrenzt davon wird die „schändliche Gewinnsucht“.

Der „gute Hirte“ übt seine Aufgabe „bereitwillig“ aus – er fragt nicht danach: „Was bringt mir das?“ Diese Frage stellt sich dann nicht, wenn ich mit dem, was ich tue, in leidenschaftlich-liebevoller Verbindung stehe. Wenn es mir eben eine „Herzensangelegenheit“ ist. Eltern, die ihr Kind lieben, werden sich nicht fragen: Was bringt es mir, wenn ich für das Wohlergehen meines Kindes sorge? Menschen, die ihr Haustier, ihren Hund oder ihre Katze lieben, werden die „Was bringt mir das“-Frage ebenso wenig stellen. Und ein guter Hirte, ein guter Leiter einer Gemeinde, denkt bei seinem Tun nicht an den (narzisstischen) Gewinn, sondern an seine Gemeinde, an das Wohl der ihm anvertrauten Menschen. Dies ist für mich um übrigen auch das entscheidende Kriterium für einen guten Politiker.

Die Ausübung dieses Hirtenamtes ist für Petrus kein „herrschen“ im Sinne eines den Anderen zu etwas „Zwingen“ – die Ausübung des Hirtenamtes geschieht, indem der Hirte zum „Vorbild der Herde“ wird. Das griechische Wort, das hier steht, heißt: „typos“. Es gehört eigentlich in den Bereich der Bildhauerei: Ein Stein wird so lange „geschlagen“ (typto) bis er eine bestimmte Form erhalten hat oder bis ihm die gewünschte Form eingeprägt worden ist. So bedeutet typos auch Prägung. Ein Mensch, der eine Gemeinde leiten möchte, sollte also „prägend“ sein: Er soll über eine Ausstrahlung, über ein Charisma verfügen, das die Menschen anspricht, an dem zu orientieren sie Lust haben. Ein guter Hirte prägt sich seiner Gemeinde ein: Indem er vormacht, wie „Führung“, wie „Leitung einer Gemeinde“ geht: nicht als Herrscher sondern als einer, der die Anliegen seiner Gemeinde wahrnimmt, versteht und ernst nimmt. Dabei heißt verstehen durch aus nicht alles billigen, bei allem mitspielen, zu allem „Ja und Amen“ sagen. Ein guter Hirte stellt sich seinen Schafen auch mal in den Weg, wenn er weiß, dass dieser Weg in einen gefährlichen Abgrund führt.

Der Lohn für das Hirte-Sein, so heißt es weiter, ist der „unverwelkliche Siegeskranz der Herrlichkeit.“ Dieses Bild eignet sich natürlich auch für die Befriedigung eigener unerlöster und ungelöster narzisstischer Bedürfnisse. Der unverwelkliche Siegeskranz – das ist ja mindestens eine olympische Goldmedaille. Und damit geht es um Leistung, um Konkurrenz, um siegen und verlieren. So ist es verführerisch, sein Amt als Pfarrer vor allem dafür zu verwenden, sich in der Gemeinde zu „verewigen“ – wofür sich z.B. Prestige trächtige (Bau-) Pprojekte eignen. Je ausgeprägter das Bedürfnis nach „unverwelklich“ ist – desto schwieriger wird es dann, das eigene Altwerden, die eigene Pensionierung und – damit unweigerlich verbunden – den eigenen Nachfolger zu ertragen. Das ist im übrigen für mich die Nagelprobe eines wirklich großen Führers. Ob er über die Kapazität verfügt, einen kompetenten und potenten Nachfolger nicht nur zu „ertragen“, sondern auch mithilft, ihn aufzubauen. Und seine größte Hilfe ist, den eigenen Platz für den Neuen, den Anderen zu räumen.

Dahinter aber steht das Ertragen von Vergänglichkeit. Es gibt in der Wirklichkeit dieser Welt keine unverwelklichen Blumen. Unverwelklich heißt im Griechischen „amarantos“. „Amaranthen“, das sind jene legendären Blumen, die nicht verwelken. Sie gibt es in der Mythologie – aber nicht in der Realität. In der Wirklichkeit gibt es Amaranthen – es sind Fuchsschwanzgewächse – deren Samen man in leckeren Gerichten zubereiten kann. Aber sie sind nicht ewig.

Unsere Wirklichkeit unterliegt dem Gesetz von Werden und Vergehen.

Und hierin sehe ich die eigentliche Lebensaufgabe von uns Menschen: Lernen zu ertragen, dass alles der Vergänglichkeit unterliegt und gerade so sich an der Einmaligkeit und Schönheit des Lebens zu freuen..

Ich verbinde diese Aufgabe mit der Aufforderung, die am Ende unseres Textes steht und bis vor kurzem noch zu unserem Predigttext gehörte: „Alle aber – das heißt Hirten wie ihre Herde – alle umkleidet Euch mit Demut: und zwar im Umgang miteinander.“

Die Demut beginnt damit anzuerkennen: Ich bin nicht allmächtig. Ich kann mir Mühe geben, ich kann mein Amt gewissenhaft ausüben – aber ich bin nicht allmächtig. Ich kann es nicht allen recht machen. Und: Ich bin nicht allwissend. Ich kann mich täuschen. Ich kann auch Fehler machen. Oft ist es im Nachhinein viel leichter, etwas als Fehler zu erkennen als dann, wenn ich in einer Situation drin stecke. Im Nachhinein war es falsch und naiv, sich energiewirtschaftlich derart von Russland abhängig zu machen. Irgend wer hat einmal gesagt: Der Blick auf unser Leben ist wie beim Rudern: Das, was auf einem zukommt, ist im Rücken. Und im Rücken hat man keine Augen. Erst im Nachhinein überblickt man die Biegungen und Windungen des eigenen Lebensflusses.

 

Liebe Gemeinde,

 

vielleicht enttäuscht auch meine Predigt Ihre Erwartungen an mich als Pfarrer und Prediger. Sollte nicht gerade am Ende meiner Predigt betont werden, dass es ein ewiges Leben gibt, dass wir an den glauben, der den Tod endgültig besiegt hat? Dass wir nicht nur in seinen Tod hinein – sondern genauso in seine Auferstehung hinein getauft sind?

Ja – das sind wir. Nur verstehe ich diese Auferstehung nicht konkretistisch, so als ginge das Leben nach einer kurzen Unterbrechung, genannt Tod, ewig weiter. Für mich ist der „unverwelkliche Siegeskranz“ die Hingabe an das eigene Leben. Die Hingabe daran, wie es gerade ist. Die Hingabe daran, was ich gerade zu erleben habe.

„Die Liebe sagt: Es ist, was es ist“ heißt es in einem Gedicht von E. Fried.

Hingabe an das „Es ist“ heißt: Das Dagegen-Sein aufzugeben. Loszulassen. Zu lösen.

Der vermeintliche Vorteil des Dagegen-Seins ist, etwas in der Hand zu haben. Trotzig Kinder ballen ihr Hände zu Fäusten, stampfen mit ihren Füßen auf den Boden. Ich will das nicht, schreien sie. Große trotzige Kinder gründen dann Protest-Parteien, die vom Protest leben. Wir „Protestanten“ könnten uns dazu zählen. Müssen wir aber nicht. Pro-testare heißt zunächst einmal: Etwas bezeugen, für etwas Zeugnis einlegen.

Jesus sagt: „Wer sein Leben, (seine Seele) retten will, der wird es verlieren – wer es verliert wird es erhalten.“ (Lukas 19, 33)

Das eigene Leben zu erhalten, das eigene Leben er-leben zu können und zu dürfen: Das hat für mich ganz viel mit Auferstehung und Osterfreude zu tun.

Gott lädt uns all-täglich ein. „Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde“ heißt es in Psalm 23, dem Hirten-Psalm.

Wir aber sagen: Was soll ich denn mitbringen? Das kann ich doch nicht annehmen!

Bring mir dein Leben mit, antwortet Gott.

Bring dich selbst mit – gerade so, wie du bist.

Du musst mir auch nichts vorspielen.

Ich kenne dich doch.

Ich habe dich schon erkannt, da warst du noch im Leib deiner Mutter.

Aber – sagen wir – : Dann stehe ich ja mit leeren Händen da.

Genau, antwortet Gott. Nur so hast du deine Hände frei, etwas Neues zu empfangen, zu begreifen. Dann bist du wirklich mit Demut bekleidet.

Und dann kann ich das tun, was ich am liebsten tue: Dir meine Gnade, dir meine Barmherzigkeit schenken. AMEN.

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Predigt zum Gründonnerstag 2023 über Lukas 22, 39-46: „eingeschlafen…“

Zweifle nicht an dem, der dir sagt, er hat Angst.

Aber habe Angst vor dem, der dir sagt, er kennt keinen Zweifel. (E. Fried)

„… schlafend vor Kummer … „

39 Und er ging hinaus und begab sich auf den Ölberg, wie es seine Gewohnheit war, und die Jünger folgten ihm.
40 Als er dort angelangt war, sagte er zu ihnen: Betet, dass ihr nicht in Versuchung kommt!
41 Und er selbst entfernte sich etwa einen Steinwurf weit von ihnen, kniete nieder und betete:
43 Vater, wenn du willst, lass diesen Kelch an mir vorübergehen. Doch nicht mein Wille, sondern der deine geschehe. Da erschien ihm ein Engel vom Himmel und stärkte ihn.
44 Und er geriet in Todesangst und betete inständiger, und sein Schweiss tropfte wie Blut zur Erde.
45 Und er erhob sich vom Gebet, ging zu den Jüngern und sah, dass sie vor lauter Kummer eingeschlafen waren.
46 Und er sagte zu ihnen: Was schlaft ihr? Steht auf und betet, damit ihr nicht in Versuchung kommt!
(Züricher Bibel)

Ich vermute, das kennen Viele von uns: Manchmal will ich einfach nur meine Ruhe haben. Für mich sein. Das richtet sich gar nicht gegen die Anderen. Es ist ein inneres Bedürfnis von mir. Hinzu kommt: Je mehr ich mich in Beziehungen verausgabe, das Gefühl habe, die Anderen füttern zu müssen, desto leerer werde ich. Ich kann nicht mehr – fühle mich fertig, bin „ausgebrannt“. „Burn out“ ist das neudeutsche Wort dazu.

So ein Bedürfnis scheint Jesus gehabt zu haben, als er zu seinen Jüngern sagte:

„Betet, dass Ihr nicht in Versuchung kommt!“ Er selbst nämlich blieb nicht bei seinen Jüngern, sondern zog sich „ungefähr einen Steinwurf weit von ihnen zurück“.

Wir singen: „Bleibet hier und wachet mit mir…“ (drei Mal) (700)

Betet, dass Ihr nicht in Versuchung kommt!“

Jeder von uns hat seine ganz eigenen Versuchungen.

Versuchungen haben mit Suche tun. Und mit Lust.

Eine Versuchung entsteht auf der Suche danach, Lust zu erleben.

„Ich hätte jetzt so eine Lust auf eine Praline. Auf ein schönes Glas Rotwein. Auf ein Steak. Auf Sex.“

Ich kenne eine Postkarte, da stehen zwei Labrador-Hunde (sie sind bekannt dafür, außerordentlich verfressen zu sein) vor einem Tisch mit einer leckeren Schokoladentorte. Darunter steht der Satz: „Versuchungen sollte man nachgeben; wer weiß, wann sie wiederkommen!“

Ich würde gerne in dieser Heiterkeit leben. Den Gründonnerstag erleben.

Leider ist diese Heiterkeit nicht angemessen für das Geschehen des Gründonnerstages. Hier geht es um Leben und Tod. Jesus schwitzte „Blutstropfen“. Er erlitt Todesangst.

Ich spüre: In mir wehrt sich etwas gegen die Härte dieses Geschehens. Es ist dieselbe Abwehr, die ich gegenüber Karfreitag verspüre. Ich will nicht, dass jemand für mich stirbt. Ich will auch nicht, dass jemand wegen mir Todesangst erleidet. Ich will das alles nicht,

Und; Ich verstehe das alles nicht.

Heiterkeit, Witze dienen der Abwehr von schwer erträglichen Gefühlen.

Auch seine Jünger litten. Sie merkten diffus, irgendetwas stimmt doch nicht.

Diffuse Ängste sind am schwersten zu ertragen.

Sie sind unerträglich, wenn ihnen die Sprache fehlt.

Wenn sie namenlos bleiben.

Namenlose Angst ist wohl das unerträglichste Gefühl, das wir kennen.

Die Jünger konnten Jesus nicht in seiner namenlosen Angst begleiten. Sie konnten seinen Wunsch, „bleibet hier und wachet mit mir!“ nicht erfüllen. Sie schliefen ein.

Wir singen: Bleibet hier … (700)

Jesu Freunde schlafen.

Sie schlafen nicht den Schlaf der Gerechten. Sie schlafen den Schlaf der Verzweifelten. Es gibt eine bleierne Müdigkeit. Ich kenne diese Müdigkeit aus unerträglichen Therapiestunden. Ich verstehe dieses Müdigkeit als Versuch der Seele, sich selbst zu betäuben. Aus dem Leben tropft der Saft des Lebens heraus: „Es wurde aber sein Schweiß wie große Blutstropfen, die auf die Erde herabfielen.“ Was zurück bleibt, ist eine leere, unlebendige Hülle.

„Blut und Wasser schwitzen“ – hier, im Garten Gethsemane ist der Ursprung dieser Redewendung. Es ist ein Synonym für “ namenlose Vernichtungsangst erleben.“

Und weil Vernichtungsangst nicht aushaltbar ist, versuchen wir irgendwie, der Situation zu entkommen. Und wenn wir nicht fliehen können, so können wir uns wenigstens mental entziehen.

Unser Körper fährt sein vegetatives System herunter. Wir schlafen ein.

Bevor Jesus Blut und Wasser schwitzte, hatte er noch gebetet. „Vater, wenn du willst, so nimm diesen Kelch von mir weg- doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe.“ Dies ist das zweite Zitat aus Jesu berühmten Gebet, das wir alle als „Vater unser“ kennen. Das erste Zitat steckt in dem Satz: „Betet, dass ihr nicht in Versuchung kommt!“ „Und führe uns nicht in Versuchung“ heißt es da.

„Dein Wille geschehe“ … hätte Jesus das fühlen können, hätte er wohl nicht Blut und Wasser schwitzen müssen. Wir erleben hier einen Jesus der nicht in Beziehung mit seinem Gott, mit seinem Vater ist. Der Kontakt ist abgebrochen.

Nicht Gott ist tot – die Beziehung zwischen Sohn und Vater ist tot.

Diese Beziehungslosigkeit ist die Quelle der unerträglichen, der namenlosen Angst, die Jesus in Gethsemane erleidet.

Wir singen: Bleibet hier und wachet mit mir

„Und er stand auf vom Gebet, kam zu den Jüngern und fand sie eingeschlafen vor Traurigkeit. Und er sprach zu ihnen: Steht auf und betet, damit ihr nicht in Versuchung kommt!“

Damit endet die Szene am Ölberg nach Lukas.

Wenn es im Hebräerbrief über Jesus heißt: „Der hat in den Tagen seines Fleisches sowohl Bitten als auch Flehen mit starkem Geschrei und Tränen dem dargebracht, der ihn aus dem Tod retten konnte…“ so ist das ein passender Kommentar genau zu unserem Text.

Die endgültige Rettung, die am Ende gültige Rettung aus dem Tod ist dem christlichen Glauben zufolge die Auferstehung Jesu. Die vorläufige Auferstehung ist Jesu Bitte: „Steht auf!“ Er hätte auch sagen können: „Wacht auf!“

„Macht die Augen auf!“

„Schaut Euch die Wirklichkeit an, in der Ihr seid!“

„Mag schon sein, dass sie nicht Euren Wünschen entspricht.

Mag schon sein, dass sie unangenehm, dass sie schmerzhaft ist.

Nur: Wenn ihr vor der Wirklichkeit flieht, lauft Ihr wie betäubt durch Euer Leben. Seid chronisch müde, tragt gefühlt Bleigewichte auf Eurem Körper, die Euch nach unten ziehen. Gott aber hat Euch den aufrechten Gang gegeben.

Gott hat Euch die Kraft gegeben, aufrichtig mit Euch und Eurem Leben umzugehen. Gott will keine Kriecher. Er will mutige Mitstreiter, die es wagen, auf sich gestellt aus Gottes Liebe heraus zu leben.

Die Losung von uns, seinen Jüngerinnen und Jüngern lautet:

„Ein neues Gebot gebe ich Euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander lieb habt. Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.“ AMEN

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Ein Macht-Gott ist ein vergifteter Gott: Predigt zu 4. Mose 21, 4-9 (Sonntag Reminiscere 2023)

Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, liebe Gemeinde,

offenbar tun wir Menschen uns schwer mit dem Allein-Sein. Wenn man den Geschichten der Bibel glauben kann, so sind die schlimmsten „Verfehlungen“ in Situationen des Allein-Seins, genauer des Allein-gelassen-worden-Seins entstanden. Schon im Paradies findet die erfolgreiche Verführung durch die Schlange zu einer Zeit statt, als Adam und Eva sich selbst überlassen waren – also in der Abwesenheit Gottes. Kain ermordet seinen Bruder Abel ebenfalls gleichsam „hinter dem Rücken Gottes“. Und das goldene Kalb entsteht, als das Volk das Warten auf Moses nicht mehr aushält. Jesus wird vom Satan verführt am Ende seiner 40tägigen Fastenzeit in der Wüste – auch da ist er ganz allein.

 

Unser heutiger Predigttext ist auch so eine Wüstengeschichte. Sie steht im 4. Buch Mose, das in der jüdischen Tradition „in der Wüste“ heißt. Es handelt von dem langen Weg des Volkes Israel durch die Wüste. Es kommt aus Ägypten von den „Fleischtöpfen“ und der „Sklaverei“ und sucht den Weg in das gelobte Land, wo Milch und Honig fließen. Ihr Führer ist – so wollte es Gott – der Mann Moses. Er stirbt – das „Gelobte Land“ vor Augen -, ohne es je betreten zu haben. Große Führer können und dürfen offenbar sich nicht nieder lassen, sich zur Ruhe begeben: „Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege“ (Matth. 8,20).

Aber auch vor ihrem eigenen Volk haben große Führer selten Ruhe. Das Volk Israel jedenfalls benimmt sich wie ein quengelndes, unzufriedenes Kind, dem man es einfach nicht recht machen kann.

Wären wir doch bloß in Ägypten geblieben. Da hatten wir jedenfalls genug zum Essen und Trinken. Warum musstest du uns hierher führen?“ murren sie immer wieder. Und murren sie besonders, wenn sie sich allein und hilflos fühlen.

Das hat man dann davon: Man setzt sein Leben dafür ein, die eigenen Leute aus der Sklaverei heraus zu führen, und was ist der Dank? Jammern, klagen, murren. Eben noch hatten sie mit Gottes Hilfe gegen die Kanaaniter gesiegt – aber statt Dank und Freude „ward das Volk verdrossen“ – wie Luther so schön übersetzt. „und redete wider Gott und wider Mose: Warum hast du uns aus Ägypten heraus geführt, dass wir sterben in der Wüste? Denn es ist kein Wasser und Brot hier und das Brotzeug hier widert unsere Seele an.

Da sandte ER gegen das Volk die Vipern, die Brandnattern aus, die bissen das Volk und viel Volk von Israel starb. Da kamen sie zu Mose, sprachen: wir haben gesündigt, dass wir gegen IHN und gegen dich geredet haben; setze dich bei IHM ein, dass er die Viper von uns nehme.

Mose setzte sich ein für das Volk. ER sprach zu Moses: Mache dir eine Brandnatter und tue sie an eine Bannerstange. So sei es: jeder Gebissene sehe sie an und er wird leben bleiben. Mose machte die Viper von Kupfer, er tat sie an eine Bannerstange. Es geschah: hatte die Viper einen Mann gebissen, blickte er auf die Viper von Kupfer und er blieb am Leben.“ (4. Mose 21,4b-9)

Folgen wir dem vertrauten Spuren, so wie wir das alle gelernt haben, dann ist die Geschichte schnell erklärt: Das Volk ist ungehorsam, undankbar, redet gegen Moses und Gott. Schlimmer noch: es findet die göttliche Wüstennahrung, das Manna „widerlich“. So viel Eigensinn scheint grausam bestraft werden zu müssen: wer „Widerworte gibt“, wem das Essen nicht schmeckt, der wird mit dem Tod bestraft. Erst als das Volk bekennt: „Wir haben gesündigt, wir waren böse“, versucht Moses sich bei Gott für das Volk einzusetzen. Daraufhin gewährt Gott einen Ausweg: wer nämlich die kupferne Schlange ansieht, für den ist der Schlangenbiss nicht tödlich.

Ich weiß nicht, wer von Ihnen den Film „Das weiße Band“ angesehen hat – ein Film, der die grausame Erziehungsmethode eines evangelischen Pastors in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts schildert. Mühelos könnte sich dieser Pastor auf unsere Geschichte berufen. Gott ist zum Repräsentanten eines kalten Macht-Vaters geworden, dem Widerworte zu geben vernichtend bestraft wird. Mit Prügeln, mit Einsperren, mit tagelangem Schweigen. Moses wäre in diesem System die Mutter und Ehefrau, die sich der väterlichen Tyrannei unterworfen hat. Ab und zu – je nach Laune des Diktators, kann sie ein gutes Wort bei ihm für die Kinder einlegen. Natürlich nur, wenn die Kinder vorher ihre „Verfehlung“ zugegeben und um Entschuldigung gebeten haben. Alles, was sie dabei erreicht, ist eine Begrenzung der Todesstrafe: wer sich selbst demütigt, „hinauf“ zu dem Bild blickt, wer sich vor dem Diktator in den Staub wirft und seine Hoheit bedingungslos anerkennt, der kommt mit dem Leben davon. Ich vermute, unter uns sind noch Menschen, die Nachwirkungen dieser Erziehungsmethode am eigenen Leibe erlebt haben. Im 5. Buch Mose heißt es übrigens wörtlich: „So erkennst du in deinem Herzen, dass der Herr, dein Gott, dich erzogen hat, wie ein Mann seinen Sohn erzieht.“ Erziehung über Demütigung und Prügel, mit dem Ziel, den anderen in seinem Eigenwillen zu brechen: man nennt diese Erziehungsmethode „schwarze Pädagogik“. Leider gehört sie nur bedingt der Vergangenheit an.

Aber ist das alles, was zu unserem Text zu sagen ist?

Mich befriedigt diese Erklärung, in der Gott zu einem beleidigten Vater wird, der in seinem Zorn seine quengelnden Kinder vernichtet, nicht. Was muss das für ein in sich selbst verliebter Gott/Vater sein, der keinen Widerspruch duldet? Der unfähig ist, seinen eigenen Herrschaftsstandpunkt zu reflektieren, der gar nicht auf die Idee kommt, so etwas wie Mitgefühl mit seinen Kindern, mit seinem Volk zu entwickeln? Ich glaube nicht an einen Diktator-Gott, dessen Macht darin besteht, den anderen Angst zu machen, ihn einzuschüchtern und zu vernichten. Nebenbei: Natürlich schürt eine solche Erziehungsmethode vor allem eines: Hass, Verachtung und den Wunsch nach Vergeltung. Ist aber die Angst vor dem Macht-Vater-Gott zu groß, so wird der Hass umgelenkt. Statt den Diktator abzusetzen, richtet sich der Hass auf alles, was nicht mit ihm konform ist, was ein Eigen-Leben führt. Die Autonomie des Schwächeren ist zu zerstören. Das gilt – wie wir augenblicklich erleben – auch für Staaten wie Taiwan, die Ukraine, Tibet usw.

Liebe Gemeinde,

so ein Macht-Gott ist nicht mein Gott.

Ich bin auf der Suche nach einem Gott, der mich, der mein Eigenleben und der auch und gerade meine Schattenseiten aushält. Der mir beisteht durch die Wüstenwanderungen meines Lebens, der mich hält, wenn ich zu fallen drohe, der mich begleitet und ermuntert, anstatt mich auch noch zu schlagen, wenn es mir ohnehin schon schlecht genug geht.

Ich bin auf der Suche nach einem Gott, der mich in die Freiheit meines einmaligen eigenen Lebens führt.

Dies ist der Weg des Loslassens, der guten Trennung von dem Macht-Gott. Er-Lösung hat mit Los-Lassen, los-lösen zu tun. Und genau diesen Weg geht das Volk Israel: Es ist der Weg, der aus der Abhängigkeit der „Fleischtöpfe Ägyptens“ („Hotel Mama“) „durch die Wüste“ in das eigene Land führt. So gesehen ist das Zetern und Quengeln des Volkes Israel nichts anderes als das Durchleben der Gefühle einer echten Pubertät: jeder Jugendliche ist mit den Problemen konfrontiert, groß und selbständig sein zu wollen und gleichzeitig klein und abhängig bleiben zu wollen. Letzteres wird natürlich gerne durch zur Schau getragene „Coolness“ überdeckt. Und – seien wir mal ehrlich: das Elternhaus als „kostenloses Vier-Stern-Hotel“ – wäre doch genial, oder?

Das Problem ist: erwachsen und selbstständig sein zu wollen. Es schon zu können.

Das Problem ist: sich den Gefühlen des erwachsen und selbstständig Werdens nicht auszusetzen. Lernen ist unangenehm und macht wenig Spaß. Gefühle des Nicht-Könnens und Nicht-Wissens sind zu ertragen. Unser Schulsystem verführt dazu, so zu tun, als wäre man schon erwachsen. Unser Schulsystem, besonders am Gymnasium, steht in der Gefahr, riesige Köpfe heranzuziehen, die nicht lernen, auf beiden Beinen zu stehen. Riesige Köpfe, die die Verbindung zu ihren Körpern verloren haben. Ich habe gehört, dass an der UNI München vor dem Raum, in dem die Immatrikulation stattfindet, ein großes Schild mit der Aufschrift steht: „Hier müssen Papa und Mama leider draußen bleiben!“

Was die Jugendlichen, was Ihr braucht, das sind Erzieher, die Eure körperlich-seelische Entwicklung, Euer ganzheitliches Wachstum freundlich begleiten und unterstützen. Was wir alle brauchen, ist ein Gott, dessen Anliegen unsere Entwicklung, unser seelisch-mentales Wachstum ist – und nicht unsere Unterwerfung unter ihm! Wir brauchen einen entwicklungsfreundlichen Gott. Die Geschichte der christlichen Kirche aber lehrt, dass sie sich mit Weiterentwicklung nicht gerade leicht tut. Klar: Entwicklung ist gefährlich: Man weiß ja nicht in welche Richtung die Entwicklung geht. Wer Kinder hat, weiß, was ich meine!

Zurück zu unserem Text. Ich lese ihn als Geschichte eines giftig gewordenen Gottes. Er schickt die Giftschlagen – nicht der barmherzige! Und wie ist Gott giftig geworden?

Es sind wir selbst, die Gott vergiften, nämlich immer dann, wenn wir die Wirklichkeit mit unseren verzerrten Annahmen über die Wirklichkeit verwechseln. Anders ausgedrückt: Das Bild des vernichtenden, strafenden Gottes ist eine Projektion unserer eigenen Vernichtungswünsche, unseres eigenen Hasses auf die Wirklichkeit. . In dieser Projektion wird die göttliche „Nahrung“, das Manna, widerlich und ekelhaft. Unser Hass aber quillt aus Gefühlen der Einsamkeit, des Sich-allein- und Im-Stich-gelassen-Fühlens. In diesem Hass vergessen wir die Güte Gottes und verwandeln ihn in ein uns vernichtendes gewalttätiges Monster. Indem wir lernen, Gottes Abwesenheit in Liebe zu ertragen, wird er quasi zurück verwandelt. Der Motor dieser Rückverwandlung ist unser Vertrauen, unsere Liebe zu einem barmherzigen Gott. Ein Beispiel für diese Wandlung des Hasses in Vertrauen finden wir in Psalm 22: Aus dem verzweifelten „mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ (Vers 2) wird ein „Ich will deinen Namen predigen meinen Brüdern…“(Vers 23).

Das Banner der ehernen Schlange ist natürlich eine Vorwegnahme des Kreuzes: Beide, das Banner wie das Kreuz können das Gebissen-Werden von den Giftschlagen nicht ungeschehen machen – aber beide stehen für den Scheitelpunkt, den Wendepunkt der Abwesenheit Gottes! Die Wendung hin zur Auferstehung der Liebe, des Lebens. Und in dieser Wende müssen wir den Anderen nicht mehr mit unserem Hass kreuzigen, stattdessen lernen wir unser eigenes Kreuz zu tragen … und so stark für unser eigenes Leben zu werden. Ein starker Rücken kennt durchaus Schmerzen, aber ein starker Rücken hat auch gelernt, sein eigenes Lebenskreuz, sein eigenes Lebensschicksal zu sich zu nehmen, zu tragen.

Dass uns Gott jeden Tag aufs Neue unseren Rücken stärke, dass wir mit Rückgrat und erhobenen Hauptes durch unser Leben gehen, dass wir aufhören, anderen die Schuld an unserem Leid zu geben und gerade so Vorbilder der Liebe Gottes sind und werden: Darum bitten wir den allmächtigen und barmherzigen Gott, durch Jesus Christus seinen Sohn, unseren Herrn, AMEN.

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Predigt über das „Hohe Lied der Liebe“ (1. Korinther 13)

Predigt über 1. Korinther 13, 1-13 am Sonntag Estomihi (19.02.2023)

Liebe Gemeinde,

kann man in Zeiten des Krieges, der mit Grausamkeiten nicht spart, kann man in diesen Zeiten über die Liebe predigen? Über jene Liebe, die “ die alles erträgt, alles glaubt, alles hofft, alles duldet?“

Ist solcher Art zu predigen nicht ein (weiterer) Verrat an den Opfern – an den Unschuldigen? Es gibt doch eindeutig die Invasoren, die Täter. Die, die nicht nur bereit zu Gewalt sind, sondern diese auch ausüben!

Ist es nicht pervers, die Liebe auch auf die Täter anzuwenden?

„Liebt eure Feinde und die die euch verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ (Mt. 5, 44f.)

Liebe Gemeinde, ob man das kann, weiß ich nicht.

Jetzt, im hier und jetzt, ist die Frage, ob ich das kann.

Ob ich dazu bereit bin. Und ich spüre sofort: Es liegt mir nicht nahe.

Näher läge mir, die Notwendigkeit von Verteidigung zu predigen.

Im Sinne von Luthers Zwei-Reiche-Lehre: Im Reich der Welt gibt es Polizei, gibt es Soldaten, gibt es Verbrechensbekämpfung, gibt es Krieg.

Im Reich Gottes gibt es das alles nicht.

Aber was soll ich mir Gedanken über ein Reich Gottes machen, das in dieser Welt nicht existiert.

„Die unfassbaren Kriegsverbrechen und die brutalste Umsetzung lang angekündigter imperialer Phantasien vor aller Augen, verbietet es mir als Christin, meine Sehnsucht nach Frieden rücksichtslos vor das Leid der Menschen in der Ukraine zu stellen.“ Diesen bemerkenswerten Gedanken hat die Regionalbischöfin von Hannover, Petra Bahr, als Reaktion auf das „Manifest für den Frieden“ von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht getwittert.

Sehnsüchte haben nichts mit Liebe zu tun. Sie gehören zum Verliebt-Sein,

Erich Fromm hat in seinem schönen Buch über „Die Kunst des Liebens“ herausgestellt, das Lieben etwas wesentlich Anderes ist als verliebt zu sein.

Verliebt sein kennen wahrscheinlich die meisten unter uns: Es ist das Gefühl mit den Schmetterlingen im Bauch, dass mit einem Mal sich das Leben so leicht anfühlt, so perlend, wie ein schönes Glas Sekt. Um verliebt zu sein, dafür muss man nicht viel tun. Das kommt halt so.

Mit dem Lieben verhält es sich anders, sagt Fromm. Lieben sei eine Kunst. Und da noch kein Künstler vom Himmel gefallen ist, gehört das auch zum Lieben: Es will gelernt sein. Und es muss immer wieder aufs Neue geübt werden.

Übrigens: Im Hebräischen bedeutet lieben: erkennen, wahrnehmen – sich selbst und den Anderen. „Und Adam erkannte sein Weib“ heißt es in der Schöpfungsgeschichte. Darin ist gute, einander wahrnehmende Sexualität eingeschlossen. Ausgeschlossen ist missbräuchliche Sexualität, in der eine Abhängigkeitsbeziehung missbraucht wird für Triebbefriedigung.

Lieben bedeutet: Sich gegenseitig mit Respekt wahrzunehmen, das eigene Eigene und das Eigene des Anderen ernst zu nehmen, sich zu berühren und sich berühren zu lassen, sich füreinander zu interessieren. Liebe hat mit der Fähigkeit zu tun sich vorzustellen, wie etwas für den Anderen ist, mit welchen Augen der Andere auf unsere gemeinsame Welt sieht. Es ist die Fähigkeit, den eigenen Blick auf die Welt zu relativieren.

Hören wir jetzt das „Hohe Lied der Liebe“, wie Paulus es in seinem ersten Brief an die Korinther niedergeschrieben hat. Rüdiger ist so freundlich, den Paulus-Text zu lesen, ich werde versuchen, ihn ein wenig „auszudeutschen“.

DAS HOHE LIED DER LIEBE (1. Korinther 13)

„1 Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle.“

So geht es los, das Hohe Lied der Liebe. Und so ist es: Solange ich über die Liebe predige, bleibt meine Predigt kalt, klingt mein Reden wie „tönendes Erz“ oder „eine klingende Schelle“. Es bleibt dann Gerede – irgendwie hohl.

Die Liebe hat mit einer Wärme zu tun, die im Sprechen nicht selbstverständlich enthalten ist. Das Sprechen einer Sprache allein (und sei es die Sprache der Engel, also jener Gestalten, die Gott besonders nahe stehen) verbürgt keine Liebe. Man kann über Liebe reden, man kann über Liebe predigen, ohne Liebe „zu empfinden“. Und natürlich kann man sagen: „Ich liebe dich“ – ohne Liebe. Alles hängt davon ab, ob ich Liebe in mir spüre. Jene Kraft zwischen und hinter den Worten.

2 Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, so dass ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts.“

Auch andere großartige Gnadengaben: die Gabe der Prophetie, das Wissen aller Geheimnisse, ja selbst ein Glaube, der Berge versetzen kann, ist ohne Liebe „nichts“ wert. Erst die Liebe bewirkt, dass meine Begabungen und mein Glaube nicht „nichts“ sind. Die Liebe ist die Kraft, die aus meinen Begabungen, aus meinen Möglichkeiten Wirklichkeiten macht. Der Glaube könnte Berge versetzen – die Liebe versetzt Berge: das ist der Unterschied. Der Modus, die Aussageweise der Liebe ist der Indikativ, die „Wirklichkeitsform“! Die Liebe ist die Kraft des Realisierens, des Verwirklichens.

3 Und wenn ich all meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib verbrennen, und hätte die Liebe nicht, so wäre es mir zu nichts nutze.“

Selbst eine radikal selbstlose Einstellung, so dass ich meinen ganzen Besitz aufgebe, so dass ich meinen Körper opfere, wie es die Selbstmordattentäter tun: Ohne Liebe komme ich nicht dahin, wonach sich ein Teil in mir so sehr sehnt.

4 Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf.“

Jetzt erfahren wir genaueres darüber, was die Liebe ist und was sie nicht ist. Sie ist „langmütig und freundlich“! „Langmütig“ – wörtlich „groß-mütig“ (makro-thymeo) – heißt ganz wörtlich: „Einen langen Weg bis zum Zorn haben“! Das Gegenteil dazu ist das bekannte, viel einfachere „schnelle Ausflippen“! In der Liebe drückt sich die Fähigkeit (capacity) aus, sich selbst zu halten und sich selbst zu beherrschen. Die „Contenance“ bewahren.

Eine Fähigkeit, die alltäglich auf die Probe gestellt wird, wenn das Leben, wenn „es“ gerade nicht so läuft, wie ich/wir es erwarten, wenn Menschen gerade nicht so sind, wie ich/wir sie gerne hätten. Wo dann hin mit meinem Ärger, mit meinem Unmut, mit meiner Empörung? Die Liebe ermöglicht mir, diese Gefühle bei und in mir zu (be-)halten und gerade so auszuhalten. Die Liebe, das sind die wiegenden Arme einer liebevollen Mutter, die ihrem schreienden Baby zur Beruhigung ein Lied vorsingt. Die Liebe sagt: Ich kann auch gerade nichts daran ändern, dass dir dein Zahn so weht tut oder dass du Bauchweh hast. Aber schau: Ich bin da. Der Liebe wohnt die Kraft inne da zu sein, auszuhalten. Aus dieser Kraft heraus wendet sie sich nicht vom anderen ab, auch dann nicht, wenn dieser verzweifelt, empört, missmutig ist. Die Liebe nimmt den Ärger, ja den Hass, der ihr entgegen kommt ernst, ohne sich selbst damit zu infizieren. Sie antwortet nicht mit Hass. Vielmehr bleibt sie weich und so bleibt sie weit. Diese Kunst benötigt jeder, der soziale Verantwortung trägt: Sei es als „Chief“ in der freien Wirtschaft, sei es als Politiker, sei es als Lehrer, sei es als Pfarrer. Diese Kunst tut uns auch im Umgang mit uns selber gut: Wenn wir älter werden, wenn unser Körper nicht mehr so funktioniert, wie wir es von ihm gewohnt sind. Wie gut ist es, wenn ich großmütige Freundlichkeit in mir finde, auch und gerade gegenüber den zunehmenden Gebrechen meines älter werdenden Körpers.

In großmütiger Freundlichkeit bleibend sind andere Menschen nicht mehr meine Rivalen. Und ich muss auch nicht mehr um ihre Gunst eifern. Und schon gar nicht muss ich einen Keil treiben zwischen Freundschaften oder Partnerschaften. In der Liebe freue ich mich daran, wenn sich andere Menschen gut verstehen, neide es ihnen nicht, dränge mich nicht dazwischen. So nehme ich mich selbst zurück, mir genügt mein Platz in der Gemeinschaft. Ich muss mich nicht mehr „aufgeblasen“ im Mittelpunkt stehen, oder meinem Freund seine Freundin bzw. meiner Freundin ihren Freund ausspannen.

5 Sie ist nicht ungehörig, sie sucht nicht das ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu.“

Die Liebe ist nicht „ungehörig“, d.h., wer aus der Liebe heraus lebt, der verfügt über Taktgefühl. Er hat kein Interesse daran, den Anderen bloß zu stellen, ihn zu beschämen. Wer aus der Liebe heraus lebt, erlebt sich getragen vom „Fluss“ (englisch „flow“) seines Lebens. Dies fühlt er in einem immer tiefer gehenden, ausatmenden Ja zum eignen Leben – und in einem damit zum Leben seiner Mitmenschen. Und wenn er verletzt wird, findet er einen Weg weg von seinem Hass und Zorn hin zu seinem Mitgefühl und zu seiner Trauer. In der Liebe bleibend bin ich geschützt vor Härte und Verbitterung.

6 Sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit.“

Die Liebe kennt keine Schadenfreude. Kein „recht geschieht es ihm oder ihr“. Die Schadenfreude ist verwandelt in ehrliche Freude – nicht am Schaden, sondern an der Wahrheit. Die Wahrheit aber ist die Wirklichkeit. „Es ist, was es ist!“ (Sagt die Liebe.)

7 Sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.“

Alles zu ertragen, alles zu zu glauben, alles zu hoffen, alles zu lieben: Ist das wirklich Liebe – oder nicht vielmehr Idiotie? Ich bin vor vielen Jahren auf der Heimfahrt von Paris einem Trickbetrüger auf den Leim gegangen. Er sei bestohlen worden, leide an Diabetes und müsse dringend nach Deutschland heimfahren. Ob ich ihm 20.– DM leihen könne um sich eine Fahrkarte zu kaufen. Ich sagte, die Fahrkarte sei doch viel teurer. Und gab ihm 150 DM… Natürlich habe ich das Geld nie wieder gesehen.

War das Ausdruck meiner Liebe – oder meiner Naivität und Gutgläubigkeit?

Dostojewski hat seinen Christus-Roman „Der Idiot“ genannt.

„Wie kannst du nur so blöd gewesen sein?“ habe ich mich selbst viele Jahre beschimpft. Inzwischen bin ich milder geworden. “ Wahrscheinlich hat er das Geld dringender gebraucht als ich“, denke ich mir. Und zugleich bin ich misstrauischer geworden. Nein – ich glaube nicht der Propaganda politischer Gruppierungen. Und auch nicht der religiöser Gruppierungen. Ich glaube auch nicht alles, was die Werbung mir einreden will. Ich nehme ernst, was ich sehe, was ich erlebe. Und ich habe ein sehr feines Sensorium dafür entwickelt, wenn man versucht, mich zu manipulieren. Und ich bin auch dafür, der Ukraine mit Waffenlieferung zu helfen: Aber nicht, weil ich Putin hasse, sondern weil ich Mitgefühl empfinde für den Schwachen.

8 Die Liebe hört niemals auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird.“

Die Liebe hört niemals auf“! Bis zu meinem letzten Atemzug habe ich die Möglichkeit, mich mit ihr zu verbünden, in ihr und aus ihr heraus zu leben. Was heißt bis zum letzten Atemzug? Die Liebe wirkt über den Tod hinaus. Die Werke der Liebe vergehen nicht. In liebevollem Gedenken bleiben sie in uns – auch wenn der Mensch, von dem wir die Liebe empfangen haben, längst vergangen ist. In den Werken seiner Liebe lebt er in uns weiter und in den Werken unserer Liebe leben wir weiter. Ich denke dabei auch an ganz konkrete und sehr sinnenfällige Werke unserer Liebe: unsere Kinder! Und glücklich die Kinder, die wirklich in Liebe gezeugt wurden und in Liebe aufwachsen dürfen.

9 Denn unser Wissen ist Stückwerk, und unser prophetisches Reden ist Stückwerk.“

Wie wahr! In der Liebe können wir die Relativität unseres eigenen Erkennens einsehen. Damit sind wir geschützt vor der Gefahr, unseren eigenen Standpunkt absolut zu setzen. Und gerade so bleiben wir offen für weiteres Verstehen.

10 Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören.“

Die Liebe ist schon jetzt ein Abglanz des Vollkommenen. In der Liebe leuchtet die Ganzheit auf: Die Liebe eint das Zerstreute, verbindet die Gegensätze, vermischt polares Denken. In wirklicher Liebe gibt es keine Spaltungen. Zu dem verbreiteten Gut-Böse-Denken ist die Liebe nicht fähig..

11 Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war.

Als Kind liebt man anders denn als Erwachsener. Als Kind braucht man gute Spaltungen, die Ordnung ins Leben bringen: Die kindliche Welt ist eine Welt voller guter Feen und gerechter Helden auf der einen, und böser Zauberern und Ungeheuer auf der anderen Seite, die miteinander im Streit liegen. Für ein gesundes Aufwachsen ist das Gefühl wichtig, auf der guten, auf der richtigen Seite zu stehen. Was richtig ist, wird von den Eltern und Erziehern vorgegeben. Kinder haben keine Wahl: Sie nehmen das auf, was sie erleben und was ihnen vorgelebt wird.

So ist es ein großes Glück für das Aufwachsen eines Kindes, glaubwürdige Vorbilder in Form von Eltern und Lehrern zu haben. Ansonsten fehlt einem der Kompass, den wir brauchen, um die Frage nach dem eigenen Lebenssinn zu beantworten. Leben wird als leer und wertlos erlebt. Entsprechend lieblos, ja „hässlich“ gehen wir dann mit unserem Leben und dem Leben der Anderen um.

12 Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.

Paulus verwendet für das Wort „dunkles Bild“ den griechischen Begriff Ainigma. Das heißt eigentlich „Rätsel“. Eben dieses Wort wird im Ödipusmythos gebraucht: Das „Rätsel“ der Sphinx. Die Rätsel-Frage lautet: Was ist das: Am Morgen geht es auf vier Beinen, am Mittag auf zwei am Abend auf drei? Antwort: der Mensch!

Wenn es mir gelingt, hinter meine Erwartungen und Vorurteile zu schauen, dann sehe ich – mich, den Menschen, meine nackte Existenz – als Rätsel, als dunkles Bild. Und vor allem: als Bündel voller Angst! Es bedarf der Liebe, diesen Blick „hinter die Kulissen meiner Gedanken“ überhaupt zu wagen; es bedarf des Blickes der Liebe, der allein in der Lage ist, die tosenden namenlosen Ängste in meinem Inneren zu erblicken und auszuhalten. Meine stückweise Erkenntnis ist unmittelbares Resultat dieser Ängste, die mich zwingen, die Welt in gut und böse zu spalten. Durch diese Ur-Spaltungen bekommen meine Ängste einen Namen. Und diese Benennung verleiht mir Sicherheit.

Die Liebe hebt diese Sicherheiten wieder auf. Die Liebe verbindet dort, wo die Spaltungen sind, die Liebe baut Brücken dort, wo die Gräben sind. Das macht sie so gefährlich. Die Liebe ermöglicht den kleinen und großen Grenzverkehr. Darüber freuen sich natürlich auch die Schmuggler. Das verblüffende ist nur: Je tiefer wir in der Liebe leben, desto mehr erübrigt sich das Schmuggeln von selbst. Anders ausgedrückt: In der Liebe brauche ich weder Gebote noch Verbote, brauche ich keinen Zwang zur Tugend – in der Liebe lebe ich in Gott und Gott lebt in mir.

In der Liebe gilt: „Ich erkenne, wie ich erkannt bin…“

Paulus sagt: „dann“ werde ich erkennen, wie ich erkannt bin. Die Mystiker sagen: „dann“ ist „jetzt“. Dann ist immer dann, wenn du dich aufgibst. Wenn du dein Leben loslässt: Wie es im heutigen Evangelium geheißen hat: „Wer sein Leben retten will, wird es verlieren. Wer es aber verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, wird es retten.“ Das ist kein Aufruf zum Märtyrertum. Das ist ein Aufruf, sich ganz in die Hände Gottes fallen zu lassen. In die Hände eines mitfühlenden und mitleidenden Gottes. In die weit ausgestreckten Arme eines vor und von der Welt verspotteten und gekreuzigten Gottes. In die Hände eines menschlichen Gottes, dem kein Leid und kein Schmerz fremd sind. In die Hände eines scheinbar von Gott selbst verlassenen Gottes! In diesem Geschehen gebe ich alles aus der Hand, woran bis lang mein Herz hing. Und bekomme scheinbar nichts dafür.

Jesus Christus – der „Idiot“!

So gesehen ist Nachfolge, wirkliche Nachfolge ein idiotisches Unterfangen.

13 Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“

Glaube als Vertrauen, Hoffnung als Zuversicht und Liebe als Hingabe – das sind die Wachstumskräfte derer, die sich in Gott hinein fallen lassen. Die Liebe aber ist insofern die „größte“ unter den dreien, als sie die Hingabe in und an Gott vollzieht. Ohne Liebe bleibt alles nur Theorie; ohne Liebe nützen die klügsten Gedanken nicht, weil sie unverwirklicht bleiben.

Und ohne Liebe bleibt auch Gott selbst ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Erst in der Liebe vollendet sich Gott selbst, erst in der Liebe verwandelt sich die Ohnmacht des Vaters im Angesicht des Todes seines eigenen Sohnes in ein dauerhaftes Aufeinander-Bezogen-Sein im Heiligen Geist. Augustinus nennt den Heiligen Geist das „vinculum caritatis“, das „Band der Liebe“.

Und solange ich mit diesem Band verbunden bin, bin ich sicher. Sicher gebunden in Gott, in dem Gott, der Liebe selbst ist, AMEN.

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Predigt über das „Lamm Gottes“ (Joh. 1, 29) am 2. Sonntag nach Epiphanias 2023

Liebe Gemeinde,

„siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“

Mit diesem Ausruf Johannes des Täufers wird Jesus, genauer sein Wirken auf Erden, im Johannesevangelium eingeführt. Zweimal ruft Johannes der Täufer das aus.

Ein erster Ausruf findet statt im Rahmen seines Taufens. Diese Handlung gibt Johannes seinen Namen: Er ist der „Täufer“. Anders als in den anderen drei Evangelien tauft jedoch Johannes Jesus nicht. Jesus wird von ihm „nur“ benannt.

Und zwar als „Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt“. Unmittelbar nach dieser Erzählung (Johannes 1, 29-34) wiederholt der Evangelist Johannes diesen Ausruf von Johannes dem Täufer. Der Kontext ist jetzt die Berufung der ersten Jünger (Johannes 1, 35-39) .

„Siehe, das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt!“

Um Licht in das Dunkle dieses Wortes zu bringen, sollten wir uns dem Nicht-Gesagten, dem nur Angedeuteten, dem nur Ahnbaren zuwenden. „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ Mit diesem geheimnisvollen Satz beginnt das Johannesevangelium. Es ist, als käme es aus einer anderen Welt. Diese andere Welt ist die Welt „hinter oder vor dem Wort“. Unsere Wörter, unsere Sprache, versucht etwas auszudrücken. Etwas abzubilden. Und doch haben wir oft das Gefühl, das Entscheidende kann ich dir nicht sagen. Es bleibt verborgen. Es bleibt im Dunkel der Nacht.

Der allererste Buchstabe des hebräischen Alphabets ist das Alef. Es hat die Form eines Widders. Eines männlichen Lammes. Und es bleibt stumm. Es wird nicht gesprochen. Es gibt im Hebräischen noch ein weiteres Wort, das genauso wie „Alef“ geschrieben aber „elef“ ausgesprochen wird. Es bedeutet „alles“. Das „Ganze“, das „Fundament“ unseres Lebens, das Fundament der Welt bleibt stumm. Ist unaussprechlich. Es gleicht einem Hauch.

Als „Stimme verschwebenden Schweigens“ erfährt Elia Gott.

Und der Heilige Johannes vom Kreuz singt in seinem Lied über die Einung mit Gott: „Als ich meinen Geliebten liebkoste, gab Hauch der Zedern Wehen“.

Die Einung mit Gott, das Einswerden mit Gott, das eine Rückkehr, eine Heimkehr zu Gott ist, geschieht im Zeichen des Lammes. In ihm verstummt das Wort, in ihm endet die Zeit.

In ihm „ist alles gut“. Die Schöpfung ist an ihr Ziel, ist bei sich selbst angekommen. Es ist die Ruhe und Stille des siebten Schöpfungstages.

Und Johannes, der Täufer nun ist so etwas wie der Wegweiser zu dieser Welt. Er steht irgendwo „dazwischen.“ Zwischen Zeit und Ewigkeit, zwischen Bewusstem und Unbewusstem, zwischen dieser unserer bekannten Welt und der Welt „jenseits“ von ihr, jener „anderen“, strahlend-dunklen, unsichtbaren Welt.

Das ist die Welt des Lammes.

So gesehen ist Johannes der Täufer auch so etwas wie der „Ahnherr“ für den Priester (für uns Pfarrer): Ist es doch seine/unsere Aufgabe zu ver“-mitteln“, eine Brücke zwischen eben jenen zwei Welt anzubieten: der sichtbaren Welt im Diesseits und der unsichtbaren Welt im Jenseits des Diesseitigen. Auch die priesterliche Aufgabe ist es, „Zeugnis“ zu geben dafür, dass es noch eine ganz andere Welt gibt, die von der diesseitigen nicht erfasst werden kann. Und eben als dieser Mittler, dieser Ver-Mittler zwischen zwei Welten, stellt Johannes der Täufer Jesus mit den Worten vor: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt“

„Siehe!“ das heißt so etwa: Darf ich vorstellen, dies ist … Frau Soundso …

heißt also: Darf ich vorstellen, das ist „Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt“!

Eine merkwürdige Vorstellung. Was soll das heißen?

Ein unbekannter jüngerer Mann wird als „Gottes Lamm“ bezeichnet.

Naheliegende Assoziation zu Lamm ist: „Opfer“.

Das Lamm – als Träger der Sünden der Welt – wird geopfert.

Es wird in die Wüste geschickt.

So naheliegend diese Assoziation auch ist – sie ist falsch.

In die Wüste wird nicht das Lamm geschickt – in die Wüste wird der Bock, der Sündenbock gejagt.

Wer oder was ist das „Lamm“?

Was bedeutet es?

Unser alltägliches Denken funktioniert über „schuldig“ und „unschuldig“. „Schuldig“ heißt: Das hast du verursacht. Du bist der „Täter“.

Und so entsteht das Opfer:

Ohne Opfer gibt es keinen Täter, ohne Täter gibt es kein Opfer.

Für ihre Existenz brauchen sie sich gegenseitig.

Das ist der Grund, dass die Lösung, die Er-Lösung von Täter-Opfer-Beziehungen so unglaublich schwierig ist.

Wenn ich nicht mehr der „Täter“ bin: Wer bin ich dann?

Wenn ich nicht mehr das „Opfer“ bin: Wer bin ich dann?

Gibt es mich dann überhaupt noch?

Wer es wagt, sich diesen Fragen zu stellen, braucht viel Mut. Denn das In-Frage-Stellen der Täter-Opfer-Beziehung fühlt sich als Verlust der eigenen Identität an. Fühlt sich an, als würde man etwas Fundamentales aus dem Haus, auf dem das eigene Denken aufgebaut ist, einfach herausziehen.

Dies löst heftige Angst aus.

Die Täter-Opfer-Beziehung ist starr und sicher zugleich. Sie bietet die Sicherheit einer Eisenkette oder eines Betonbunkers.

Der Preis dieser Sicherheit ist Unlebendigkeit. Der Preis dieser Sicherheit ist der Tod.

Es ist die Sicherheit, die ein Gefängnis bietet.

Das Leben, die Lebendigkeit ist „draußen“.

Wer sich auf die Gedanken von diesem Jesus aus Nazareth einlässt, ihnen „vertraut“, mehr noch: sein Leben nach ihnen ausrichtet, „der wird leben …“ heißt es.

Und er wird sterben. Genauer: In ihm wird etwas sterben.

Es werden ihm die vertrauten Sicherheiten, Ordnungen und Einteilungen weggenommen, auf die er sein Leben gesetzt hat.

Das konnte und wollte sich das religiöse Establishment zur Zeit Jesu nicht bieten lassen.

So war die rettende Idee: Den Prediger dieser Gedanken zu vernichten.

Und man hat ihn, seine Person, vernichtet.

Womit man nicht gerechnet hatte: Dass sich seine Art zu denken nicht vernichten ließ. Seine Gleichnisse, seine Predigten – dies wirkte weiter – wirkt bis heute. Gleichzeitig wurde und wird versucht hat, sie zu „entschärfen“, ihnen die „Spitze“ zu nehmen.

Hierfür nur ein Beispiel: Im Gleichnis vom verlorenen Sohn bekommt der Sohn, der sein Erbe „durchgebracht“ hat, eine nach menschlichen Maßstäben völlig ungerechtfertigte „Barmherzigkeit“. Ihm zu Ehren, seiner Rückkehr zu Ehren wird ein Fest gefeiert. „So ist Gott“! Sagt Jesus. Indem dieses Gleichnis von Lukas eingerahmt wird von den Gleichnissen vom verlorenen Schaf und vom verlorenen Lamm, wird genau diese Spitze der Provokation abgebrochen. Natürlich freut man sich über das Wiederfinden des Geldes oder des Schafes – aber mehr auch nicht. Die Provokation bestand ja darin, dass jemand aktiv sich gegen das Erbe seines Vaters entscheidet – es gleichsam mit Füßen tritt – und dann doch Vergebung erlebt – nur weil er Reue zeigt und zurückkehrt. Keine Wiedergutmachung wird erwartet, keine (naheliegende) Strafpredigt, kein erhobener Zeigefinger.

„So ist Gott“ – sagt Jesus.

Das war undenkbar und unerträglich.

Das ist schwer denkbar und schwer erträglich.

„Siehe, das ist Gottes Lamm!“

Dieser Mensch also ist Gottes Sohn.

UND: Als Gottes Sohn ist er Gottes Lamm.

Als Lamm Gottes ist er Gottes Sohn.

Das ist das Neue, das Un-Gehörte und Un-Erhörte, was mit dem Christentum auf die Welt kommt und was nicht auf die Welt kommen soll:

Die schweigende Ohnmacht des Lammes.

Das Lamm wehrt sich nicht.

Das Lamm kämpft nicht.

Das Lamm duldet.

Indem Gottes Sohn das Gottes Lamm ist, glauben wir einem Gott der Geduld, des Aushaltens, des Erleidens und der Freude über all jene, die sich diesem Gott zuwenden.- Die zu Gott zurückkehren.

Wie die Lämmer wurden unsere Mitmenschen jüdischen Glaubens in den Konzentrationslagern der Nazis zur Schlachtbank geführt.

Einfach so.

Das ist die Welt des Lammes.

Ein ukrainischer Zivilist, Familienvater, wird aus dem Auto gezerrt und vor den Augen seiner Frau und seiner beiden Kinder erschossen. Einfach so.

Das ist die Welt des Lammes.

Jetzt, in dieser Minute, verhungert irgendwo in Afrika, ein kleines Mädchen oder ein kleiner Junge.

Einfach so.

Das ist die Welt des Lammes.

Letzte Woche wurden wieder zwei junge Männer im Iran hingerichtet. Ihre „Schuld“ bestand darin, gegen ein verbrecherisches Regime protestiert zu haben.

Das ist die Welt des Lammes.

Liebe Gemeinde,

Ich tue mich schwer mit diesen Gedanken.

In mir sträubt sich etwas.

Ich mag nicht daran denken, welche Menschen wie in der Ukraine gerade getötet werden, welche Kinder auf dieser Welt gerade verhungern. Ich mag auch nicht daran denken, an welchen Menschen im Iran oder in China gerade die Todesstrafe vollzogen wird.

Ich mag nicht daran denken, weil ich das Gefühl habe, ich halte das nicht aus.

Dieses Leid näher an mich heran zu lassen – es tut einfach zu weh.

Und Schmerzen führen zu Hass.

Ich hasse mein ewiges Kopfweh.

Ich hasse meine Rückenschmerzen.

Ich hasse meine Depression.

Der Hass sucht nach Lösungen, dass ich das nicht aushalten muss.

Ich will diese verdammten Schmerzen nicht mehr ertragen müssen.

Der Hass sucht Schuldige:

Die Egozentrik und Ignoranz der kapitalistischen Welt, die Grausamkeit der totalitären Machthaber.

Der Hass macht Propaganda: „Die da oben, die haben ja keine Ahnung!“

Oder: „Was heißt hier Bedürftige …? Das sind doch alle Sozialschmarotzer…“

Der Hass spaltet: In Schuldige und Unschuldige, in Mächtige und Ohn-Mächtige, in Täter und Opfer. Und der Hass weiß immer genau, wie es ist…

Und wenn es dann so nicht mehr weiter geht, dann gibt es immer noch die Betäubung. Wie gut dass es Schmerzmittel gibt.

Wie gut, dass wir die Augen verschließen können:

Da kann man nichts machen. So geht es eben zu auf dieser Welt.

Nur keine Empathie!

Sich nur nicht einfühlen!

Und hoffen, dass man selber irgendwie durchkommt.

Was sind wir auch so blöd uns in einen Krieg einzumischen, der uns nicht betrifft.

Oder: In unserem Sozialstaat ist für alle gesorgt. Man muss sich halt ein wenig anpassen, sich nach der Decke strecken. Mir hat auch niemand was geschenkt!

Das ist das Denken dieser Welt. Es ist gefüllt mit Gehässigkeit. Und es ist sehr naheliegend. Sehr nachvollziehbar.

Es ist nicht das Denken Jesu. Sein Weg ist der Weg des Lammes, der Weg des Ohne-Macht-Seins. In der Welt des Lammes kommt das Ohne-Macht-Sein näher an mich heran.

Im Hebräischen heißt „Opfer“ („korban“) „sich nähern“. Sich „Gott nähern“. In diesem Geschehen opfere ich all das, was mir Sicherheit gibt: Meine Kontrolle und meine Wünsche, mein Leben im Griff zu haben. Indem ich mich Gott nähere opfere ich mein Anhaften an das Diesseitige.

Lerne, mich abzufinden.

Lerne mich einzufinden.

Opfern in dieser Bedeutung heißt einfach „hergeben“. Oder „loslassen“. Sich nicht länger an daran klammern, dass mein Leben nach meinen Erwartungen abzulaufen hat.

Es ist im übrigen die Taube und nicht der Adler, der bei Jesu Taufe erscheint.

Wer sich zu diesem Jesus, zu diesem Lamm Gottes bekennt, der verlässt die geläufige Einteilung der Welt in Schuld und Unschuld, in Täter und Opfer.

Es gibt keine Bösen mehr. Und es gibt keine Guten mehr.

Und das Lamm ist auch nicht der Sündenbock.

Die Wolle des Lammes ist weiß. Im Judentum ist die Farbe weiß verbunden mit dem Erleben: Es gibt ein entweder-oder mehr. Keine Spaltung in gut oder schlecht.

Dem entspricht, dass das Schwarze, das Dunkle, die Finsternis auch nicht das Böse ist. Es ist das Geheimnis: Im Dunkel der Nacht findet der Heilige Johannes vom Kreuz den Weg zur Einung mit Gott.

„Im Dunkel der Nacht“ wird der Verstand blind. Deshalb meidet er die Dunkelheit.

Die Dunkelheit ist das Milieu, in dem mystisches Denken wächst.

Es ist ein Denken „jenseits“ unseres taghellen Verstandes.

Von dem islamischen Mystiker Dschalâl-ed-dîn Rumî stammt der Satz:

„Jenseits von falsch und richtig liegt ein Ort. Dort treffen wir uns.“ (https://gutezitate.com/zitat/168425)

Dieses „Jenseits“ ist ein Ort, an dem die Struktur gebende und damit Sicherheit gewährleistende Eindeutigkeit von „so ist es und nicht anders“ verloren gegangen ist. Die damit einhergehenden Gefühle von Unklarheit und Unsicherheit (Der Heilige Johannes vom Kreuz hat sie ausführlich in seinem Werk: „Der Aufstieg zum Berg Karmel“ beschrieben.) … diese Gefühle sind extrem unangenehm und extrem schwer erträglich. Um sie zu halten bedarf es der Kraft der Geduld, die von der Fähigkeit, Gott, seinen Nächsten und sich selbst zu lieben genährt wird. Um sie zu halten bedarf es eines tiefen Vertrauens in die Barmherzigkeit und Güte Gottes.

Gebe Gott, dass wir immmer wieder den Mut besitzen, in unsere eigene Dunkelheit hinab zu steigen. Gebe Gott, dass wir auf unseren eigenen dunklen Wegen dem Frieden des Lammes begegnen, der uns frei macht für ein Leben in Gott.

Und gebe Gott, dass wir bereit sind, diesen Frieden in unser Inneres hineinzulassen, AMEN.

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Predigt zum 4. Advent 2022

Predigt über Philipper 4, 4-7 am 4. Advent 2022

Liebe Gemeinde,

„Meine Seele erhebt den Herrn und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilands!“ So beginnt das Magnificat, der berühmte „Lobgesang Mariens“.

„Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich: Freuet euch!

Der Herr ist nahe!“

So beginnt unser heutiger Predigttext.

Und so würde ich gerne meine Predigt nicht nur beginnen lassen. Ich würde gerne eine ganze Predigt halten mit dem immer wiederkehrenden cantus firmus: Freuet Euch …

Eine mir wohlbekannte Stimme sagt: Also – dann mach’s halt!

Dies ruft meine inneren Bedenkenträger auf den Plan:

Und was ist mit der Klimakrise?

Was mit dem Artensterben?

Was mit dem Krieg in der Ukraine?

Was mit den Beschwerden deines älter werdenden Körpers?

Ich hab mal gehört, wir Deutschen seien Weltmeister im Jammern.

Die Kehrseite davon ist: Sich schwer damit zu tun, sich an dem, was ist, zu freuen.

Im Achtelfinale ausgeschieden. (So viel zum Thema Weltmeister!)

Der Mangel an Fachkräften.

Die Energiepreise.

Und dann noch dieses gräulich-graue Wetter.

Wo soll denn bitte die Freude herkommen?

Genau: Wie entsteht Freude? Wo kommt sie her?

Zu aller erst: Freude lässt sich nicht machen.

Schon gar nicht lässt sie sich kaufen.

Das kann übrigens schon mal viel Stress aus dem Schenken vor Weihnachten heraus nehmen.

Freude kommt und geht.

Freude ist unbestechlich.

Auch das ist eine gute Nachricht.

Freude ist nicht korrupt und nicht korrumpierbar.

Freude ist entweder authentisch – oder sie ist nicht.

Dasselbe gilt für andere bekannte Hauptworte, die in unserem Text stehen:

Güte – Danksagung – Friede – Herz:

Sie alle sind unserem Bedürfnis oder Drang, „etwas machen zu können“ entzogen.

Güte, Danksagung, Friede: Es geschieht – oder es geschieht eben nicht.

Dies gilt auch für den nächsten Satz: „Eure Güte lasst kund sein allen Menschen.“

„Eure Güte lasst kund sein allen Menschen!“

Das ist unser Job als Christenmenschen: Unsere „Güte“ zu veröffentlichen.

Was ist das?

Die ursprüngliche Bedeutung von „gut“ ist: „brauchbar, tauglich“ – auch: „anständig, ehrlich“ oder eben auch „gütig“.

„Güte“ bezeichnet also die Möglichkeit oder die Fähigkeit, nützlich, brauchbar, anständig, ehrlich zu sein. Kurz: Güte ist die Fähigkeit, sich selbst und sein Leben von dem her zu verstehen und zu leben, was für die Gemeinschaft nützlich ist. Die autoritären Führer verdrehen diesen Gedanken: Sie betrachten die Gemeinschaft unter dem Aspekt, was für sie selbst nützlich ist. Indem ich lerne, meine Ich-Bedürfnisse zurück zu stellen, wird mein Leben deutlich leichter, wird es weniger (an)getrieben sein von den ganzen „du musst …“ – Sätzen. Aus der Güte heraus leben bedeutet auch: „Vieles ist gut, gerade so, wie es ist.“ Ich muss das Rad nicht neu erfinden!

Aus der Freude und der Güte fließen all‘ diese schönen Tugenden, die uns so gut tun: Wahrhaftigkeit, Freundlichkeit, Höflichkeit, Respekt vor dem Fremden.

„Sorgt Euch um nichts …“ schreibt Paulus weiter in seinem Brief.

Wie meint er das?

Vorsorge kann lebensrettend sein.

Vorsorgeuntersuchungen schützen.

Darmkrebs oder Brustkrebs – im Frühstadium erkannt – ist heilbar.

Sich Sorgen machen um das sich wandelnde Klima – ja Gott sei Dank gibt es Menschen, die sich diese Sorgen machen.

Und nicht nur sich Sorgen machen, sondern handeln.

Sich um nichts sorgen darf nicht heißen: Werdet gleichgültig.

Paulus sagt: „Sorgt euch um nichts, sondern in allen Dingen lasst eure Bitten in Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kund werden.“

Ich verstehe das als „innere Haltung“. Als Haltung meinem/dem Leben gegenüber. So in der Art: Lebt verantwortungsvoll, achtsam und aufmerksam. Und dann lasst es auch wieder gut sein! Es gibt ein gesundes: „Mehr ist mir (derzeit) nicht möglich!“

Ich erlebe dies in meinem Beruf als Therapeut Tag für Tag.

Ich kann Hinweise geben, ich kann sagen, was mir auffällt, ich kann meine Sorgen über bestimmte Lebensentscheidungen ausdrücken, ich kann mich in Leid einfühlen und dadurch vielleicht sogar ein wenig mittragen – und mehr kann ich nicht.

Wenn jemand keinen Weg sieht, eine qualvolle Beziehung zu verlassen, dann ist das so. Wenn jemand sich in seinem Beruf völlig verausgabt, dann ist das so.

Wenn jemand ungesund lebt, dann ist so.

Wenn jemand meint, Krieg führen zu müssen, dann ist das so.

Die Anerkennung im Sinne von: „dann ist das so“ meine ich sehr nüchtern und sachlich.

Gute Führer, sei es in Unternehmen, sei es in Kirchengemeinden, sei es in der Politik sind getragen von eben dieser nüchternen Sachlichkeit. Diese Nüchternheit zu leben ist leichter, wenn sie legiert ist mit Gottvertrauen.

Wiederum: Es ist keine gleichgültige Sachlichkeit, sondern eine Sachlichkeit, die durch Gefühle hindurch gegangen ist. In Bitten, in Gebet und Flehen mit Danksagung: dies ist der innere Prozess, den ein verantwortungsvoller Führer durchlebt und durchleidet.

Gott sei Dank gibt es solche Führerpersönlichkeiten. Und Gott sei Dank gibt es Menschen, die den unschätzbaren Wert demokratischen Denkens und Lebens erkannt haben und bereit sind, ihn zu verteidigen. Ausdruck davon sind z.B. die Proteste in China, ist der Ausgang der Kongress-Wahlen in Amerika, ist auch der Ausgang der Wahl in Brasilien.

Die Demokratie lebt und ist lebensfähig.

Und sie wird hart in Frage gestellt.

Aber das macht stark. Es tut ab und zu sehr gut, das eigene Leben nüchtern und radikal in Frage zu stellen.

Stimmt es für mich (noch) so zu leben, wie ich lebe?

Stimmen meine Beziehungen – zu meinem Partner, zu meinen Freunden zu meinem Beruf?

Stimmen heißt: Macht es mir Freude? Will ich so leben, wie ich lebe – oder habe ich das Gefühl, mir wird mein Leben aufgezwungen.

Wenn es nach mir ginge, dann würde ich ganz anders leben.

Anders ausgedrückt: Wie sehr fühle ich mich fremdbestimmt – und wie sehr lebe ich ein selbst bestimmtes Leben.

Selbstbestimmung aber nicht, ich lebe so, wie es mir gefällt. Wie es mir Spaß macht. Das ist ein verbreitetes Missverständnis. Ich glaube nicht, dass es irgend jemand Spaß macht, alt und gebrechlich zu werden. Dass es Spaß macht zu erleben, wie die eigenen Kräfte schwinden.

Selbstbestimmt leben ist die Fähigkeit, ja zu sagen zu dem wie es ist. Mich anzupassen an das, was ist und es nach eigenen Möglichkeiten zu gestalten.

Und dann wieder loszulassen und in einem tiefen Seufzer zu sagen:

„Dann ist das jetzt so.“

Diese Anerkennung der Wirklichkeit ist gleichsam der Nährboden, auf dem Freude gedeihen kann, Freude im Sinne von heiterer Gelassenheit. Für mich ist Freude eine Empfindung, die viel mit dem Erleben von Ganzheit zu tun hat. Sie ist wohltemperiert: Ihr fehlt die Hitze des Triumphs der Sieger und die Kälte des Hasses der Unterlegenen.

In diesem Erleben der Ganzheit oder der Wirklichkeit wächst die Kraft „danke zu sagen!“ In dieses Danke hinein münden die Bitten, mündet das Gebet und das Flehen. „Dein Wille geschehe …“ ist ein anderer Ausdruck für dieses „Danke“. Er führt heraus aus dem Gefängnis der Verbitterung, die davon lebt, immer wieder zu betonen: „Das hätte nicht passieren dürfen!“

Und damit endet auch unser heutiger Predigttext. Und damit endet meine Predigt. Es ist eine weitere Variation von „dein Wille geschehe!“

„Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, wird eure Herzen und Sinne in Christus Jesus bewahren.“

Der Friede Gottes wird unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus bewahren – wenn wir ihn in uns hinein lassen. Das wünsche ich Ihnen und mir: Die Kraft, diesen Frieden, der höher ist als unsere Vernunft, in uns hinein zu lassen, AMEN.

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Predigt über Lukas 17, 20-24 – „Das Reich Gottes ist inmitten von Euch!“ (07.11.2022)

Liebe Gemeinde,

„dein Reich komme“ so beten wir jeden Sonntag im Gottesdienst.

Es ist die zweite Bitte des Vaterunsers.

Es sind die Bitten, in denen es um das Leben Gottes selbst geht:

„Geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe …“

Danach kommen die Bitten, bei denen es um unser Leben geht:

„Unser tägliches Brot gibt uns heute“, „führe uns nicht in Versuchung“, „vergib uns unsere Schuld“.

Das vorhin gehörte Evangelium beschäftigt sich mit der Frage: Wann kommt denn dieses Reich?

Das ist zu der Zeit, als Lukas sein Evangelium schrieb, eine nahe liegende Frage. Dachte man doch, dass die Rückkehr des auferstandenen Messias nicht lange auf sich warten lässt. Und jetzt war doch längere Zeit verstrichen, die Menschen lebten weiter wie bisher, starben weiter wie bisher. Keine Zeitenwende, kein Umbruch war in Sicht. So machten sich Unglaube und Ungeduld breit. Die Protagonisten der jungen, der neuen Religion, die sich auf diesen Jesus aus Nazareth bezog, mussten sich also etwas einfallen lassen.

Für mich ist spannend, dass nicht danach gefragt wird, wie dieses Reich aussieht, wie es gestaltet wird oder sich selbst entfaltet. Das fände ich eigentlich interessanter, als die Frage nach dem „Wann“. (Nebenbei: Es wäre spannend zu hören, welche Bilder jeder Einzelne von Ihnen zum Reich Gottes hat.)

Auch Jesu Antwort lässt das „Wann“ des Reiches Gottes offen, wenn er sagt:

„Das Reich Gottes kommt nicht mit äußeren Zeichen; man wird auch nicht sagen: Siehe hier!, oder: Da! Denn sehet, das Reich Gottes ist mitten unter euch.“

Die Frage nach dem Wann richtet sich auf die unbekannte Zukunft. Dazu hat Jesus nichts zu sagen.

„Es ist schon da“, sagt Jesus. „Es ist inmitten von Euch.“ Und er könnte hinzufügen: „Wer Ohren hat zu hören, der höre!“ (vgl. Lukas 8, 8; 14,35).

Und was heißt das jetzt: „inmitten von uns ist das Reich Gottes!“

Wo ist denn das „inmitten“?

Na ja – es ist irgendwo hier; irgendwo und irgendwie „zwischen uns“. So genau kann man das nicht sagen.

Mir fällt der berühmte Satz von Augustinus über die „Zeit“ ein:

„Was ist also ‚Zeit‘?“, so fragt er sich. „Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht.“ (Confessiones IX. Buch, 14,17)

Wenn mich niemand fragt, was da inmitten von uns ist, weiß ich es, wenn ich es erklären soll, weiß ich es nicht!

Das Problem ist: Ich kann es nicht sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen – die mir vertrauten Sinne, die mir helfen, mich in der Welt zu orientieren, versagen an dieser Stelle.

Damit aber betreten wir einen „Bereich“, den der Heilige Johannes vom Kreuz „Die „dunkle Nacht der Sinne“ nennt.

Über das Reich Gottes reden heißt also zunächst einmal: „in der Dunkelheit tappen“. (Ohne mit einer Taschenlampe oder einem Suchscheinwerfer ausgestattet zu sein!)

Dies mach leider überhaupt keinen Spaß – im Gegenteil: Es macht Angst.

„Gott will im Dunkel wohnen“, sagt König Salomo bei der Einweihung des Tempels (1. Könige 8, 12b). Von daher ist es in sich logisch, dass sein Reich, dass das Reich Gottes ein Reich der Dunkelheit ist. Nun aber auch wieder nicht so, dass man gar nichts erkennen könnte. Wäre dem so, müsste man über Gott und sein Reich schweigen: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ (Wittgenstein)

Wir benötigen eine Sprache, die Licht in die Dunkelheit bringt – ohne dass sie die Dunkelheit zerstört. Wir benötigen eine Sprache, die selbst aus der Dunkelheit entsteht. Dies ist die Sprache der Mystik.

Sie ist nicht eingängig und es geht ihr nicht um Befriedigung.

Worum es ihr geht, das ist der Versuch, die Dunkelheit Gottes selbst abzubilden.

Dieses Abbild ist das „Licht“ des Sohnes, das in die Welt kam. (Johannesevangelium Kapitel 1)

Eine Sprache, die versucht, die Dunkelheit Gottes selbst abzubilden: Das ist eine Sprache, deren Eindeutigkeit und Klarheit aus dem Eingeständnis des eigenen Nicht-Wissens stammt. Es ist eine Sprache, die genau nicht darauf aus ist, das eigene (vermeintliche) Wissen zu zementieren und in vielen Wendungen zu wiederholen. Es ist eine Sprache, die sich öffnet für bislang Ungedachtes, Unbekanntes, eben Neues.

Von daher ist für mich alle Rede vom Reich Gottes ein Sprechen in Vorläufigkeit. Vor der Klammer steht stets: „Soweit ich sehe … und ich weiß, mein Blick, ist begrenzt, meine Sichtweise ist eine subjektive…“ Von daher heißt vom Reich Gottes reden sich in Bescheidenheit üben.

Und zugleich ist für mich alle Rede vom Reich Gottes ein Sprechen in Selbstbewusstheit. Vor der Klammer steht: „Dies ist MEIN Blick, MEINE Perspektive, MEINE Sicht der Dinge, MEIN Weg … Und dazu stehe ich auch, bis mich etwas Anderes mehr überzeugt!“ Und ich bin mir dessen sehr bewusst, dass es unendliche viele andere Wege, andere Perspektiven usw. gibt. Indem ich mir meiner Relativität bewusst bin, höre ich auf, meinen Standpunkt absolut zu setzen.

Dazu bedarf es eines starken und mutigen Ichs. Ein starkes und mutiges Ich zeichnet sich dadurch aus, dass es in gutem Einverständnis mit alledem ist, was es nicht weiß und nicht kann. Dass es nicht gekränkt ist, wenn offenbar wird, was es nicht weiß und nicht kann.

Wir leben in einer Zeit, die dem eigenen Gekränkt-Sein sehr viel Raum einräumt. Gekränkt-beleidigtes Sich-zurück-Ziehen aber verunmöglicht weiteres Lernen. Verunmöglicht Entwicklung und weitere Erkenntnis. Es ist derselbe Fehler, den Menschen mit Kreuzschmerzen machen: Sie meinen, sich etwas Gutes zu tun, indem sie in eine Schonhaltung gehen, sich wenig oder gar nicht mehr bewegen.

Das Gegenteil ist der Fall!

Es geht um ein gesundes, durchaus liebevolles sich Fordern. Andernfalls wird man körperlich wie seelisch immer schwächer, hält immer weniger aus. Es geht darum, die eigene Unlust zu akzeptieren ohne ihr allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken.

„Alt-werden ist nichts für Feiglinge!“ sagt die Hollywood-Diva Mae West.

Dasselbe gilt für das Reich Gottes: Es ist nichts für Feiglinge!

„Und wann kommt es jetzt?“

Diese Frage will oder kann sich von den Predigtgedanken nicht erreichen lassen.

Sie verweigert den Weg in die Dunkelheit.

Das Reich Gottes ist als Möglichkeit jederzeit mitten unter uns. Die einzige Frage ist, ob wir je und je stark und mutig genug sind, es auch zu verwirklichen.

Es wird dann Wirklichkeit, wenn wir es wagen, unsere vertrauten und uns Halt gebenden Muster und Strukturen in Frage zu stellen. Wenn wir es wagen, uns selbst ein wenig über die Schulter zu schauen. Wenn wir es wagen, neugierig auf uns selber zu werden. Das geschieht immer dann, wenn ich mich auf etwas einlasse, dem ich bislang ausgewichen bin. Nur so kann ich ja eine neue Erfahrung machen.

Und eine neue Erfahrung muss nicht immer angenehm sein. Auch das ist eine Täuschung, zu meinen, das Reich Gottes sei ein Schlaraffenland, in dem endlich meine Wünsche alle erfüllt werden. Es hat sich schon sehr viel verändert, wenn es gelingt, mir meiner eigenen Wünsche und Sehnsüchte ein wenig bewusster zu werden. Und natürlich auch meiner eigenen Enttäuschungen.

Das alles meine ich mit selbst-bewusst: sich seiner selbst bewusst sein.

Und all dies in einer liebevoll-neugierigen Haltung: zu mir selbst und zu allem, was mich umgibt. Denn „daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt“ sagt der Christus des Johannesevangeliums (13, 35).

Lieben aber heißt nicht verwöhnen. Weder sich selbst noch den Andern. Es ist schön, wenn mir ein Wunsch von meinen Augen abgelesen wird. Aber es muss kein Zeichen von Liebe sein.

Lieben heißt, mich selbst und den Anderen wahrnehmen, ernst nehmen, respektieren.

Und zwar an genau den Stellen, wo Verschiedenheit und Anders-Sein deutlich wird. Im Reich Gottes ist genug Platz: für mein Eigen-Sein und für das Eigen-Sein meiner Mitgeschöpfe. „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“, hat Albert Schweitzer gesagt. Das ist ein echter Reich-Gottes-Satz! Auch der Löwe will leben – und zu seinem Löwe-Leben gehört es, die Antilope zu jagen, zu töten und zu fressen. Das ist nicht böse – das ist das Eigen-Sein des Löwen.

So gesehen ist das Reich Gottes etwas sehr Nüchternes.

Und weit weg von der Vorstellung eines Paradieses, in dem Löwe und Lamm nebeneinander lagern. Das ist kein Reich Gottes, sondern Ausdruck einer tiefen Sehnsucht nach einer Harmonie, die auf und in dieser Welt nicht verwirklicht ist.

Und wenn wir nicht einer unrealisierbaren Sehnsucht hinterherlaufen wollen, bleibt uns ob wohl oder übel nichts anderes übrig, als diese unsere Welt so zu nehmen wie sie nun einmal ist. Und das Beste daraus zu machen.

Und am Naheliegendsten ist es, damit bei sich selbst anzufangen.

Denn, so wie es keine andere Welt gibt, so gibt es auch mich nur so, wie ich gerade bin. Und nicht so, wie ich (vielleicht) gerne wäre. Oder wie andere mich gerne hätten.

Ich bin … ein winziges Sandkorn im unendlichen Getriebe dieser Welt – damit beginnt der dunkle Weg zu Gott. AMEN.

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Predigt am 17. Sonntag nach Trinitatis über Jesaja 49, 1-7 (9. 10. 2022)

Heute geht es um Glauben.

Klar – irgendwie geht es in einem Gottesdienst immer um Glauben.

Aber heute steht er im Zentrum:

„Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.“ So lautet der Wochenspruch.

Wir haben also gesiegt!

„We are the Champions … “

Wirklich?

Sehen so Sieger aus?

Also – ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht – aber mir widerstreben derart vollmundige Sätze! Ich weiß aus persönlicher Erfahrung und aus meiner therapeutisch-seelsorgerlichen Arbeit: Ganz so einfach geht das nicht. Zum einen maße ich mir nicht an, zu wissen, unter welchen Bedingungen jemand gerettet, gerecht oder selig werden kann. Zum andern vermute ich, dass gerade solche vollmundigen Sätze es sind, die zur Unglaubwürdigkeit von Predigern und ihrer Verkündigung beitragen.

Die Unglaubwürdigkeit solcher Sätze hat direkt mit der Haltung derer zu tun, von denen sie ausgesprochen werden.

Je überheblicher – desto weniger glaubwürdig.

Und noch eines: Wo es Sieger gibt, gibt es notwendig auch Verlierer.

Es war unter anderem Martin Luther, der mit seiner „theologia crucis“ versuchte, die Unglaubwürdigkeit und Überheblichkeit seiner Kirche (Stichwort: ecclesia triumphans) in eine neue Glaubwürdigkeit zu verwandeln. Populär verkürzt könnte man Luthers Kirchenkritik mit den Worten von Heinrich Heine so zusammenfassen: Die Würdenträger „predigen Wasser und trinken Wein“. Etwas differenzierter: Nach den Maßstäben, in denen diese unsere Welt misst, war Jesus ein Verlierer. Oder mit Paulus: Es war eine Torheit, sich kreuzigen zu lassen.

Unser heutiger Predigttext handelt von einem Mann, der sich wohl auch als ein „Narr Gottes“ (1. Korinther 4, 10) gefühlt hat. Er stellt sich in dem zu predigenden Abschnitt selbst vor:

1 Hört mir zu, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne, merkt auf! Der HERR hat mich berufen von Mutterleibe an; er hat meines Namens gedacht, als ich noch im Schoß der Mutter war. 2 Er hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht, mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt. Er hat mich zum spitzen Pfeil gemacht und mich in seinem Köcher verwahrt. 3 Und er sprach zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, durch den ich mich verherrlichen will. 4 Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz. Doch mein Recht ist bei dem HERRN und mein Lohn bei meinem Gott. 5 Und nun spricht der HERR, der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht bereitet hat, dass ich Jakob zu ihm zurückbringen soll und Israel zu ihm gesammelt werde – und ich bin vor dem HERRN wert geachtet und mein Gott ist meine Stärke –, 6 er spricht: Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen, sondern ich habe dich auch zum Licht der Völker gemacht, dass mein Heil reiche bis an die Enden der Erde.“

Eine kurze Zwischenbemerkung zum Zusammenhang, in dem dieser Text steht. Es ist das zweite sogenannte „Lied vom Gottesknecht“. In ihm stellt sich der „Knecht Jahwes“ – so bezeichnet er sich selbst – vor, während er im ersten Lied von Jahwe vorgestellt worden ist. („Seht, mein Knecht, den ich stütze, mein Erwählter…“ (Jes. 42,1 – dieser Text ist dem 1. Sonntag nach Epiphanias zugeordnet.)

Die Selbstvorstellung des Knechtes beginnt mit dem Hammer-Satz: Jahwe hat mich von Mutterleibe an berufen, hat seinen Mund zu einem scharfen Schwert geformt; er selbst sei ein spitzer Pfeil im Köcher Gottes.

Das ist alles ganz schön kriegerisch! Und wozu das Ganze?

„Und er sprach zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, durch den ich mich verherrlichen möchte!“

„Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz.“

Dieser Satz erreicht mich. Oft denke ich mir: Wozu predigst du eigentlich? Oder wozu gibst du dir so eine Mühe, einigermaßen ökologisch verantwortungsvoll zu leben? Wozu? Und dann tauchen in meiner Fantasie „die Anderen“ auf – die in meinen Augen sich keine Mühe geben … Die ihre SUVs fahren, mit dem Flugzeug in aller Herren Länder fliegen, ihr Fleisch essen, und und und… Darauf angesprochen bekomme ich einen verständnislosen Blick und die Antwort: Das machen die Anderen doch auch. Und dann werde ich zornig, „erhebe“ mich über die Anderen, über meine Mitmenschen („Ich bin besser als ihr …!“) Und indem ich das tue, entferne ich mich immer weiter von dem Gott, den ich glaube, dem ich vertraue. Und dann stürze ich ab in Gefühle der Sinnlosigkeit: es hat doch eh alles keinen Sinn, und die Menschen sind doch gar nicht in der Lage, sich zu ändern.

 

Auf die Selbsterhöhung folgt der Absturz in die Selbsterniedrigung, auf die Manie folgt die Depression. Diese Bewegung findet sich auch sehr schön in unserem Text: Der Prophet versucht sich damit zu trösten, dass er sich von Gott berufen fühlt. In ihm, in seiner Botschaft will sich der Allmächtige verherrlichen. Seine Aufgabe ist nicht nur, das Volk Israel zu sammeln und die „Zerstreuten Israels wiederzubringen“ – seine Aufgabe ist viel universeller, viel großartiger:

„Ich habe dich auch zum Licht der Völker gemacht, dass mein Heil reiche bis an die Enden der Erde.“

Ich merke: Ich kann diesen Gedanken, dieser Botschaft, für mich persönlich keinen Trost abgewinnen. Sie hilft mir nicht, aus meinen Sinnlosigkeits-Löchern herauszufinden. Aber sie erinnert mich daran, wie nahe sie mir gewesen ist, als ich jung war. Genau mit diesen Gedanken habe ich versucht, meine depressiven Gefühle zu bekämpfen: Ich wollte mir einen Namen machen, ich wollte berühmt werden, indem ich mir z.B. einen berühmten Doktorvater suchte usw.

Und ich habe lange dafür gebraucht zu lernen: Das, was die Anderen, die Gesellschaft in mir sieht: es nährt mich nicht wirklich! Es macht mich nicht satt. Prestige, Status, Titel usw. das alles ist emotionales Junkfood. Man schlingt es gierig in sich hinein, für kurze Zeit wird die innere Leere zugedeckt, um sich dann umso hartnäckiger wieder zu melden.

Das ist der Suchtkreislauf: Junkfood macht nicht satt – Junkfood macht abhängig!!!

Sättigend ist allein die Verbindung zur eigenen Wahrheit, sättigend ist die Erkenntnis, dass ich so und nicht anders geworden bin.

„Die Wahrheit macht Euch frei“, sagt der Johanneische Christus.

Alle Ängste entstehen in der Täuschung, im Sich-selber-etwas-Vormachen.

„Ich aber dachte,ich arbeitete vergeblich und verzehrte mein Kraft umsonst und unnütz.“ (V. 4a) Ich vermute, diesen Satz kennt jeder, der mit Leidenschaft seinen Beruf ausübt: sei es der Lehrer/Erzieher, sei es der Pfarrer, es es der Therapeut. Wer in diesem Gefühl erstarrt, der wird verbittern: Ich habe so viel gegeben – und was habe ich bekommen?

Erst wenn ich mich selber finde in meinem Leben, wenn ich mir eingestehen kann, es gibt eine Tiefe, in der ich dies alles für mich tue, bzw. getan habe, erst dann werde ich wirklich frei. Jede einzelne Entscheidung meines Lebens, egal ob sie groß oder klein war, gut oder schlecht gewesen ist – es ist meine eigene Entscheidung gewesen!

„Der Herr hat mich berufen … “ stimmt – und: Ich habe mich berufen lassen.

Spirituelles Denken neigt dazu, sich freiwillig in eine Abhängigkeit hinein zu begeben. Und so weigert es sich, sich dem Strom des Lebens zu überlassen. Paulus hat mit seiner Idee, dass wir alle „Kinder Gottes“ sind, diese Art zu denken auf den Punkt gebracht.

Möglicherweise sind wir Menschen ja darin überfordert, erwachsen zu werden. Erwachsen sein heißt für mich, Verantwortung für das eigene Denken und Handeln zu übernehmen und nicht länger anderen eine „Schuld“ in die Schuhe zu schieben. Erwachsenes Denken hat gelernt, dass eigene „Fehler“ einzugestehen, eigene Schwächen anzuerkennen, mich nicht vernichtet. Im Gegenteil: Diese Fähigkeit macht stark.

Gesundes und verträgliches Miteinander-Leben in Gruppen, in Familien, in Gemeinden entsteht überall da, wo Menschen bereit sind, ihren eigenen Anteil an einem Konflikt auf sich zu nehmen. Das können Kinder nicht. Es setzt nämlich die Fähigkeit voraus, sich selbst ein wenig über die Schulter zu schauen, sich selbst ein wenig „von außen“ zu betrachten.

Es ist vor allem eine Frage des Mutes, an diesen Punkt zu kommen.

Und es ist eine Frage des Vertrauens, dass – wenn ich mich ehrlich kennen lerne und zu mir stehe – ich nicht verurteilt werde. Weder von mir selbst noch von Anderen.

Es ist das Gegenteil dessen, was ein französisches Sprichwort meint:

„Qui s’excuse, s’accuse.“

In dieser Haltung bleibe ich vereist.

 

Dahinter steht Luthers drängend Frage: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“

Seine Erkenntnis: Ich bekomme ihn geschenkt, kann ihn mir nicht machen. Dies hat Luther „Rechtfertigung“ genannt. Eine Rechtfertigung, die sich niemand von uns selber geben kann. Die ich nur im Vertrauen empfangen kann.

Und das ist für denjenigen, der versucht, aus seiner eigenen Stärke heraus zu leben, unerträglich.

So gesehen stimmt es: „Unser Glaube, unser Vertrauen ist der Sieg, der die Welt überwunden hat … “ AMEN.

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Predigt über Jesaja 12 am 14. Sonntag nach Trinitatis (Thomaskirche Grünwald)

Liebe Gemeinde,

„Sind nicht die zehn rein geworden? Wo sind aber die neun?“

So fragt Jesus in unserem vorhin gehörten Evangelium.

„Hat sich sonst keiner gefunden, um Gott die Ehre zu geben?“

Es geht um Dankbarkeit.

Indem ich ehrlichen Herzens „danke“ sage, erkenne ich an, etwas bekommen zu haben, das ich mir selbst nicht habe geben können. Ich habe mir etwas schenken lassen. Das setzt Offenheit voraus. Und die Anerkenntnis, dass ich nicht alles selber machen kann. Dass der Andere auch etwas weiß, etwas kann.

„Lehre mich Herr, an anderen Menschen unerwartete Talente zu sehen, sie zu fördern und verleihe mir die schöne Gabe, sie auch zu erwähnen“, heißt es in einem Gebet von Theresa von Avila.

Ich habe etwas bekommen, das ich mir selber nicht geben konnte. Damit stehe ich auch in der Schuld des Anderen. Ein weiteres unangenehmes Gefühl. Man bleibt nicht gerne etwas schuldig. „Ich werde mich revanchieren“, sagt man dann. So als müsste man sich dafür rächen, etwas geschenkt bekommen zu haben…

„Wo sind die neun?“ fragt Jesus. Ist er so bedürftig, so darauf angewiesen, dass man sich bei ihm bedankt?

Das gibt es auch. Das hieße: „In der Tiefe habe ich dir das und das gegeben, damit du siehst, wie gut ich zu dir bin! Mehr noch: Wie gut ich überhaupt bin!“ Das sind die Menschen, die sich für Andere aufopfern – aber bitte, es muss auch etwas zurück kommen. „Mama, ihm schmeckt’s nicht!“ So was geht gar nicht. Jetzt habe ich mir so eine Mühe gegeben, und dir schmeckt es nicht!

„Gott die Ehre geben!“ sagt Jesus. Nicht: Das Mindeste wäre doch, sich bei mir zu bedanken. Das ist die narzisstische Ebene: „Ich habe dir oder ihm oder der Institution Kirche so viel gegeben – und was ist der Dank dafür?“ Wer in dieser narzisstischen Ebene stecken bleibt, der steht in großer Gefahr zu verbittern. In der Tiefe geht es nicht um Gott, der immer der fremde Dritte ist („Ich bin, der ich bin …“) sondern um den eigenen Selbstwert. Um seine Stabilisierung.

In unserem heutigen Predigttext – aus dem Buch des Propheten Jesaja – geht es auch um Dankbarkeit, je er ist ein Danklied, ein Dankpsalm. Sein Kontext sind die katastrophalen Erfahrungen, die Israel gerade macht. Sein König Ahas biedert sich (mit viel Geld) bei den mächtigen Assyrern an, mit dem Erfolg, dass Israel zu einem Vasallen der Assyrer wird. Der König übernimmt sogar religiöse Praktiken der Assyrer, was ihm den Zorn des Propheten Jesaja einbringt. Jesaja ist der Meinung, Israel solle auf auf jede Form menschlichen Paktierens und Taktierens verzichten. Die einzige Hoffnung ist „Gott allein“. Und damit verbunden die Hoffnung auf das Kommen eines gerechten Königs. So heißt es kurz vor unserem Predigttext: „Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais (Isai ist der Vater von König David.) und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen“ (Jesaja 11, 1) Sie kennen diesen Text: Es ist die erste Strophe von: „Es ist ein Ros entsprungen, aus einer Wurzel zart …“

Jesajas Botschaft bewegt sich somit stets zwischen Hoffnung und Verzweiflung.

Und inmitten dieser Bewegung taucht nun unser heutiger Predigttext auf, ein Danklied:

Das Danklied der Erlösten

1 Zu der Zeit wirst du sagen: Ich danke dir, HERR! Du bist zornig gewesen über mich. Möge dein Zorn sich abkehren, dass du mich tröstest. 2 Siehe, Gott ist mein Heil, ich bin sicher und fürchte mich nicht; denn Gott der HERR ist meine Stärke und mein Psalm und ist mein Heil. 3 Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus den Brunnen des Heils. 4 Und ihr werdet sagen zu der Zeit: Danket dem HERRN, rufet an seinen Namen! Machet kund unter den Völkern sein Tun, verkündiget, wie sein Name so hoch ist! 5 Lobsinget dem HERRN, denn er hat sich herrlich bewiesen. Solches sei kund in allen Landen! 6 Jauchze und rühme, die du wohnst auf Zion; denn der Heilige Israels ist groß bei dir.

Im Grunde sind es zwei Danklieder: Das erste geht von Vers 1 – 3, das zweite von Vers 4 – 6.

Das erste beginnt mit einer merkwürdigen Verbindung: „Ich danke dir, Herr! Du bist zornig über mich gewesen.“

Ein Dank für den Zorn Gottes? Ist da nicht was verdreht?

Kann ich jemand dankbar sein, der sauer auf mich ist?

Der die Beziehung zu mir abgebrochen hat, kein Interesse mehr an mir hat?

Wohl eher nicht.

Aber gibt es auch einen anderen Zorn? Einen Zorn der mir die Augen öffnet?

Ich finde es zum Beispiel schwer auszuhalten, mit anzusehen, wie jemand seine Talente und Begabungen liegen lässt. Oder auch wie jemand sich gehen lässt. …

Wobei sich natürlich sofort die Frage stellt: Was halte ich denn da nicht aus?

Es ist doch nicht mein Leben. …

Und woher weiß ich, was für den Anderen gut und was für den Anderen schlecht ist?

Ich fürchte, in unserer unbewussten Tiefe ist es so, dass unser Zorn, auch der vermeintlich „gerechte Zorn“, sehr viel mehr über uns selbst aussagt und mit uns selbst zu tun hat, als wir wahrhaben wollen.

Dazu gibt es eine Geschichte von Rumi:

„Ein vernünftiger Mann sagte zu Jesus: ‚Was ist im Leben am Schwersten zu ertragen?‘

Der antwortete: ‚O mein Lieber, das Schwerste ist Gottes Zorn; die Hölle zittert ebenso davor wie wir.‘

Er sagte: ‚Wie kann man sich vor Gottes Zorn schützen?‘

Jesus sagte: ‚Wenn du deinen eigenen Zorn sofort aufgibst.'“

Und Rumi fährt überraschend aktuell fort:

„Wenn deshalb der Zorn sich im Polizisten niederlässt, übertrifft er in seiner Hässlichkeit sogar den Zorn eines wilden Tieres. Welche Hoffnung auf Gottes Gnade bleibt ihm, wenn sich dieser unbegabte Mensch nicht von seiner schlechten Eigenschaft trennt?“

Und dann differenziert er: „Obwohl die Welt nicht ohne solche Leute auskommt, ist diese Feststellung geeignet, die Hörer in die Irre zu führen.

Die Welt kann auch nicht ohne Urin auskommen, aber Urin ist kein quellendes Wasser.“

Ich verstehe das so: Unter den Bedingungen des Lebens in dieser unserer Welt, und wir haben keine andere, gibt es Zorn und muss es Zorn geben. Ein guter Polizist verwendet seinen Zorn dafür, die staatliche Ordnung und damit unser menschliches Zusammenleben zu schützen. Ich würde dafür eigentlich lieber Aggression sagen. ABER: Ein guter Polizist lässt sich von seinem Zorn nicht überfluten und nicht dazu hinreißen, Sätze zu sagen oder Sachen zu machen, die seine Mitmenschen entwürdigen. Wenn er selbst zuschlägt oder jemand aus Zorn erschießt, ist er gerade zu dem geworden, vor dem er uns, die Gesellschaft schützen sollte. (Dieses Beispiel lässt sich auch auf einen guten Politiker, einen guten Lehrer oder auf gute Eltern anwenden.)

Etwas unscharf ausgedrückt: Lass ich mich von meinem Zorn, schlimmer noch Hass „hinreißen“?. Dieses „Sich-Hinreißen-lassen“ ist Ausdruck davon, dass wir unerträgliche Ohnmachtsgefühle nicht länger ertragen können. Eine innere Stimme flüstert mir ins Ohr: Das musst du dir nicht bieten lassen! Endlich geht ein Ventil für den lange unterdrückten Zorn auf. Endlich stimmt meine Moral mir zu: „Jetzt darfst du zuschlagen …“

In der Geschichte gibt es unendlich viele Beispiele für diese Dynamik. Zunächst wird dem Anderen sein Wert, seine Würde, seine Daseinsberechtigung abgesprochen und damit wird die Erlaubnis gegeben, ihn zu quälen, zu foltern und am Ende zu vernichten …

„Wie man sich vor Gottes Zorn schützen?“

„Indem du deinen eigenen Zorn sofort aufgibst“ sagt Jesus bei Rumi.

Prostest!

Dann entwaffne ich mich ja freiwillig und stehe wehrlos da. Hätte die Ukraine ihren Zorn auf die russische Invasion sofort aufgegeben, wäre sie eingenommen worden. Ich muss mich doch verteidigen. Und es muss eine wachsame Polizei geben, die unsere Demokratie schützt.

Sie merken, das Thema ist ganz schön komplex.

„Was heißt das denn: „Sich von seinem Zorn trennen?“

Das heißt: Die Fähigkeit zu behalten, sich nicht von seinem Zorn hinreißen zu lassen. Wut macht dumm! Und dumm heißt in diesem Fall:

Der nüchterne Blick auf das „Ganze“ geht verloren. In meinem Zorn sehe ich nur mehr einen Ausschnitt des Ganzen und halten ihn aber für das Ganze.

Anders ausgedrückt: Ich nehme einen Teil für das Ganze. Ich setzte einen Teil absolut. Damit aber geht die gute und gerechte Ordnung, in der jeder und jede den für sie oder ihn passenden Platz hat, verloren. Als Menschen aber ist es unsere Aufgabe, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken. Dieser Blick bereichert meine Sichtweise und relativiert sie in einem.

Es ist letztlich eine Frage des Platzes, den mein Denken zur Verfügung stellt. Habe ich genug Denk-Raum, auch (für mich) sehr fremde Gedanken an mich heranzulassen? Und: Habe ich genug Trost-Raum, mich an meiner „Sicht der Dinge“ zu erfreuen, auch und gerade, wenn diese Sicht andere Menschen nicht interessiert? Je mehr Raum, je mehr Weite in meinem Denken entsteht, desto überflüssiger wird Zorn. Wenn mich das Anders-Denken, das Anders-Aussehen, das Anders-Sein des Anderen nicht bedroht, warum sollte ich dann zornig werden?

Und genau da kommt Gott ins Spiel. Gott ist unendliche Weite. Gott ist das Wort für die letzte, alles umfassende Ganzheit. Eine Ganzheit, zu der wesentlich gehört, dass sie unerkennbar ist, so wie Gott selbst unerkennbar ist. Wir Christen glauben aber, dass dieser unerkennbar weite Gott sich in ganz besonderer Weise in Jesus Christus bekannt gemacht, christlich „geoffenbart“ hat. Wir Christen glauben, dass Gott in diesem einmaligen und besonderen Menschen Jesus uns Menschen so nahe gekommen ist, dass wir es wagen, von seinem „Sohn“ zu sprechen. Mehr noch: Dass wir es wagen, ihn „unseren Bruder“ zu nennen.

Das ist der Trost, den unsere beiden Danklieder heute anbieten:

„2 Siehe, Gott ist mein Heil, ich bin sicher und fürchte mich nicht; denn Gott der HERR ist meine Stärke und mein Psalm und ist mein Heil.“

Indem ich dieses Danklied bete, erkenne ich meine Bedürftigkeit an. Und erkenne mein Angewiesen-Sein auf eine Kraft, auf eine Macht, auf eine Energie an, die ich mir nicht selbst geben kann. Wenn ich dies als „unannehmbar“ erlebe, wenn mein Anspruch an mich selbst und an mein Leben mir sagt, du musst aus dir heraus schöpfen, du darfst auf keine andere Kraft angewiesen sein, dann kann ich auch nicht dankbar sein. „Ich habe mir alles selbst aufgebaut. Wenn überhaupt, dann habe ich Grund, mir selbst dankbar zu sein“, sagt diese Stimme. Je mehr Denk-Raum ich dieser Stimme überlasse, desto verbitterter wird mein Leben werden.

Fehlende Dankbarkeit, Enttäuschung und Verbitterung gehören zusammen. Die gemeinsame Quelle, aus der heraus sie fließen ist Hass und aufs engste damit verbunden Neid. Genau hier kommt unsere Freiheit ins Spiel. Es stimmt: Das Erleben von Dankbarkeit lässt sich nicht machen. Genauso wenig, wie das Erleben von Freude oder Schönheit oder Zufriedenheit. Und doch sind wir nicht völlig hilflos und an unserem Hass ausgeliefert.

Denn: Ich kann Einfluss darauf nehmen, wovon ich mich leiten lasse. Wen oder was ich als Wegweiser meines Lebens anerkenne. Auch Jesus konnte nicht verhindern, in der Wüste verführt zu werden. Die Wüste ist der Ort der Leere, wo scheinbar nichts ist. (Was ja in Wirklichkeit gar nicht stimmt!) Im übertragenen Sinne: Wenn ich mich einsam, ungetröstet und unverstanden fühle – da hat die Stimme des Verführers die größte Macht. Ihn entmachten heißt, ihm die Möglichkeit zu nehmen, mein Leben zu beeinflussen. Seinen Einflüsterungen am besten gar nicht zuzuhören. Sie ins Leere laufen lassen. Das setzt eine starke Beziehung zu einem „guten inneren Objekt“ voraus. Jesus lebte aus der Unerschütterlichkeit seiner Vater-Beziehung. Sein Vater war nicht nur irgendwo „da draußen“. Er war tief verankert in seinem Inneren. In dieser liebevollen Vater-Mutter-Beziehung verlieren Hass, Neid und das Bedürfnis nach Rache ihre Macht.

An ihre Stelle tritt das „Reich Gottes“. In ihm gilt: „Siehe mein Gott ist mein Heil, ich bin sicher und fürchte mich nicht … mit Freuden schöpfe ich Wasser aus den Brunnen des Heils … und ich danke ihm und lobsinge ihm der da wohnt bei mir…“ AMEN.

(Dr. theol. Lothar Malkwitz, Pfarrer im Ehrenamt und psychoanalytischer Therapeut)

Predigt über Jesaja 12 am 14. Sonntag nach Trinitatis (Thomaskirche Grünwald) Weiterlesen »

„Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein auf sie!“ (Predigt am 4. Sonntag nach Trinitatis 2022)

Liebe Gemeinde,

ich bin froh und dankbar, dass Menschen vor ich weiß nicht wie viel 1000 Jahren auf die geniale Idee gekommen sind, die Schrift zu erfinden.

Sie entlastet mein älter werdendes Gehirn erheblich und grenzt meine zunehmende Vergesslichkeit ein.

Indem ich mir etwas aufschreibe, „steht es da“. D.h., ich kann darauf zugreifen – vorausgesetzt freilich, ich habe nicht vergessen, wo der Zettel oder das Notizbuch liegt, auf den ich es mir aufgeschrieben habe.

Schrift hat also was mit der Idee von Beständigkeit zu tun, mit Dauer. Und damit (auch) mit Verlässlichkeit.

Ich habe heute über die einzige Stelle im NT zu predigen, die uns erzählt, dass Jesus geschrieben habe. Es ist zu vermuten, dass er des Schreibens nicht mächtig gewesen ist. Inwieweit er lesen konnte, wissen wir nicht. Und auch in dieser Stelle erfahren wir nicht, was er geschrieben hat. Es bleibt ein Geheimnis. Oder auch eine Leerstelle. Ich vermute, damit will der Autor unserer Geschichte etwas hervorheben, etwas markieren.

Aber eines nach dem anderen: Ich lese Ihnen jetzt erst mal die Geschichte vor: Sie steht bei Johannes im 8. Kapitel, die Verse 3 bis 11.

Die Schriftgelehrten und die Pharisäer aber bringen eine Frau, die beim Ehebruch ergriffen worden war, und stellen sie in die Mitte 4 und sagen zu ihm: Lehrer, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. 5 In dem Gesetz aber hat uns Mose geboten, solche zu steinigen. Du nun, was sagst du? 6 Dies aber sagten sie, ihn zu versuchen, damit sie etwas hätten, um ihn anzuklagen. Jesus aber bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde. 7 Als sie aber fortfuhren, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie. 8 Und wieder bückte er sich nieder und schrieb auf die Erde. 9 Als sie aber dies hörten, gingen sie, einer nach dem anderen, hinaus, angefangen von den Älteren; und er wurde allein gelassen mit der Frau, die in der Mitte stand. 10 Jesus aber richtete sich auf und sprach zu ihr: Frau, wo sind sie? Hat niemand dich verurteilt? 11 Sie aber sprach: Niemand, Herr. Jesus aber sprach zu ihr: Auch ich verurteile dich nicht. Geh hin und sündige von jetzt an nicht mehr!

Liebe Gemeinde,

ich will Ihnen an ein paar Gedanken Anteil geben, die mir gekommen sind, als ich mich auf diese Predigt vorbereitete:

Erstens:

„Sie sagten das, um ihn zu versuchen, damit sie etwas finden, um ihn anklagen zu können.“

Es ist wesentlich zu erkennen, welche (verborgene) Absicht/Strategie der Andere mit dem, was er sagt und/oder tut, verfolgt. Wenn jemand damit eine Strategie verfolgt, ist der offene Dialog zerstört. Der Dialog wird für Manipulation missbraucht. Er dient nicht mehr dazu, miteinander einen vernünftigen dritten Standpunkt zu erarbeiten. Er dient dazu, etwas über den Anderen zu erfahren, ohne dass ich das, was ich erfahren will, offen anspreche. Die Grundlage für diese Art des Miteinanders ist Misstrauen. Ich denke, wir alle kennen dies. Umgangssprachlich heißt das: „Nicht mit offenen Karten spielen.“ In einer Diktatur ist die Grundlage sozialen Miteinanders Misstrauen. Aber leider nicht nur dort. Inwieweit kann ich dem Anderen glauben, mich auf ihn verlassen, ihm vertrauen? Inwieweit kann ich mich auf mich selbst verlassen und mir vertrauen? Wie verführbar bin ich selbst? Wer versucht zu manipulieren, der ist auch selbst anfällig für Manipulation. Der verführte Verführer.

Zweitens: In unserer Geschichte geht es um Moral. Die Pharisäer, also das damalige religiöse Establishment, versuchen Jesus zu überführen als einen, der sich nicht an das von Mose gegebene Gesetz hält. Das ist verständlich: Er und seine Jünger erregen immer wieder Anstoß, wenn sie z.B. am Sabbat Ähren ausreißen, oder wenn Jesus am Sabbat Kranke heilt. Die Pharisäer von damals wie die Pharisäer von heute denken, es genüge, mechanisch sich an irgendwelche Regeln zu halten. Zur Zeit versteckt sich unter der Überschrift „gendern“ viel pharisäisches Gedankengut. Pharisäische Moral ist eine selbstgerecht gewordene Moral. Ein wesentliches Kennzeichen ist ihre Überheblichkeit. Pharisäische Moral will sich selbst an die Stelle Gottes setzen, will selbst richten.“Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“ – von diesem Paulus-Wort hält pharisäische Moral nichts. Und sein Urheber, Paulus, hält sich selbst auch immer wieder nicht daran: Z.B. in seinen Hasstiraden im ersten Korintherbrief gegen jene, die in seinen Augen „Unzucht“ treiben.

Schließlich: Pharisäische Moral ist eine äußerliche Moral: Es genügt ihr, wenn jemand „von außen betrachtet“ nach bestimmten vorgegebenen Regeln lebt. Pharisäische Moral ist eine „Moral des schönen Scheins“.

Drittens: Von daher wird einmal mehr verständlich, wie anstößig ja skandalös Jesu Antwort gewesen sein muss – so Anstoß erregend, dass man übrigens unseren Text erst Jahrzehnte nach der Fertigstellung des Johannesevangeliums in das Evangelium eingefügt hat! Und was ist jetzt das Anstoß Erregende an Jesu Antwort?

Zunächst einmal antwortet Jesus überhaupt nicht! Er schweigt.

Er schreibt mit seinen Fingern in den Sand. Diese Geste unterbricht den Mechanismus der Verurteilung. Es ist ein break.

Aber – mehr noch – Es ist keine sinnlose Übersprungshandlung – sondern eine Handlung mit hohem Symbolgehalt:

Der schreibende Finger erinnert nämlich an den Gottesfinger, der auf dem Berg Sinai die beiden Tafeln beschrieben hat. Die 10 Gebote – von Gott eigenhändig geschrieben! Nur dass in unserer Geschichte nicht gesagt wird, was da geschrieben wird.

Und dann – nachdem die Pharisäer nicht aufhören Jesus zu bedrängen, fällt der berühmte Satz: ‘Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.’ Dadurch lenkt Jesus die Aufmerksamkeit von der Beschuldigten weg auf die Schuld der Beschuldiger. Denen, die meinen, den Gotteswillen genau zu kennen, wird klar, dass auch sie auf die Barmherzigkeit Gottes angewiesen sind. Mit diesem schlichten Satz läuft der Hass und das Richten der Pharisäer ins Leere. Das Geniale an diesem Satz ist, dass er weder Partei für die Frau noch für die Pharisäer ergreift. Stattdessen stellt er das moralisch-überhebliche Denken selbst in Frage.

Viertens: Ein persönlicher Einschub: Mir ist pharisäische Moral nicht fremd. Ich glaube, wer sich entscheidet Pfarrer – egal ob evangelisch oder katholisch – zu werden, den beschäftigt unausweichlich die Frage: „Was ist ein gutes Leben?“

Ich persönlich bin immer dann besonders gefährdet für moralische Überheblichkeit, wenn ich besonders empört bin über das Verhalten von jemanden Anderen. Und ich bin dann besonders empört, wenn dieses Verhalten meinen Idealen und meinen Werten nicht entspricht. Hinter meinen Idealen und meinen Werten aber ist meine Bedürftigkeit und meine Abhängigkeit versteckt. Genauer: Das Gefühl, dass der Andere durch ein bestimmtes Verhalten mich stabilisieren soll. Wenn er dies nicht tut, weil er in meinen Augen seinem Auftrag als Politiker oder Chef oder Pfarrer nicht gerecht wird, werde ich gehässig. Vor kurzem stieß ich auf den Satz:

„Sich über Andere aufregen ist so, wie wenn man selbst Gift trinkt und darauf hofft, daran würde der Andere sterben.“

Fünftens:

Am Ende unserer Geschichte bleiben die Ehebrecherin und Jesus übrig.

Augustinus sagt das so: „Nur zwei blieben zurück, die Erbarmenswerte und die Barmherzigkeit“ (misera et misericordia) sagt. Und damit bleibt die Frage übrig:

Kann die Erbarmenswerte die ihr gewährte Barmherzigkeit nehmen?

Dies klingt ganz einfach – und gehört doch zum Schwersten:

Im Letzten ist es die Fähigkeit, sich selbst zu vergeben.

Das Schwierigste ist nämlich nicht, dass Gott uns vergibt.

Gott ist die Vergebung – er kann gar nicht anders als zu vergeben.

Das Schwierigste ist, diese Vergebung an sich heran zu lassen.

Eben: sich selbst zu vergeben.

Und warum ist das so schwer? Weil es ein Angriff auf meine Identität ist. Auf meine Selbst-Definition.

Wenn ich mich als den oder die definiere, zu der oder dem wesentlich „betrügen“ gehört (oder lügen, oder stehlen, oder Gewalt anwenden…), dann werde ich dies auch tun. Und ich werde es mit schönreden: Steuerhinterziehung hat doch nichts mit Betrug zu tun – das machen doch alle. Eine Affäre haben: Wen verletze ich denn damit, solange es nicht aufkommt? Kann denn Liebe Sünde sein?

Unabdingbare Voraussetzung für die Möglichkeit, mich zu ändern, ist, dass ich mich erreichen lasse. Je narzisstischer ein Mensch ist, desto weniger lässt er sich erreichen. Für ihn ist jedes in Frage gestellt werden eine Kränkung seines Selbstwertes.

Sich in Frage stellen lassen heißt, bereit sein, Leiden auf sich zu nehmen.

Das ist der berühmte „Leidensdruck“, der Menschen in die Therapie führt. Ohne ihn ist therapeutisches, also auf Veränderung ausgerichtetes Arbeiten unmöglich.

Nur wer an sich selbst leidet, wird veränderbar.

Und nur wer veränderbar wird, wird vergebungsfähig.

Wichtig ist das „an sich selbst leiden“. Wer darunter leidet, wie die Anderen sind, und meint, die Lösung wäre es, dass sich die „Anderen“ ändern sollen – auch er ist nicht vergebungsfähig. Auch er kann mit dem Satz, „dir sind deine Sünden vergeben“, in der Tiefe nichts anfangen.

Sechstens:

Indem ich mir von Gott vergeben lasse, vergebe ich mir selbst. Blicke ich mit weichen barmherzigen Augen auf mich selbst, auf mein gelebtes Leben. Oder: Leuchtet in meinen Augen die Barmherzigkeit Gottes. Paulus hat das so gesagt: „Nun aber lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir!“ Und Dietrich Bonhoeffer hat gesagt: Christsein heißt, von der Auferstehung her zu leben.

Der Weg dorthin ist ein Leidensweg. Eine Passionsgeschichte, die mit der Kreuzigung des „alten Lebens“ endet. Die große Frage ist, ob damit auch der Lebensweg endet. Dann wäre die Kreuzigung keine Kreuzung, sondern eine Sackgasse.

Oder ob es ein danach, ein jenseits der Kreuzigung gibt.

Die große Frage ist, ob es eine Verwandlung meiner Erbärmlichkeit gibt.

Gott will nämlich nichts Anderes, als meine Erbärmlichkeit in seine Barmherzigkeit hinein verwandeln. Dieses Verwandelt-Werden fühlt sich an. Es hat nichts mit romantischer Harmoniesehnsucht zu tun. Es fühlt sich als ein schmerzhafter Transformationsprozess an.

In der christlichen Mystik wird dafür häufig das Bild des Feuers verwendet. Meister Eckhart z.B. beschreibt es so:

„Wenn das Feuer seine Wirkung tut und das Holz entzündet und in Brand setzt, so macht das Feuer das Holz ganz fein und ihm selbst ungleich und benimmt ihm Grobheit, Kälte, Schwere und Wässrigkeit und macht das Holz sich selbst, dem Feuer, mehr und mehr gleich; jedoch beruhigt, beschwichtigt noch begnügt sich je weder Feuer noch Holz bei keiner Wärme, Hitze oder Gleichheit, bis dass das Feuer sich selbst in das Holz gebiert und ihm seine eigene Natur und sein eigenes Sein übermittelt, so dass alles ein Feuer ist, beiden gleich eigen, unterschiedslos ohne Mehr oder Weniger. Und deshalb gibt es, bis es dahin kommt, immer ein Rauchen, Sich-Bekämpfen, Prasseln, Mühen und Streiten zwischen Feuer und Holz. Wenn aber alle Ungleichheit weggenommen und abgelegt ist, so wird das Feuer still und schweigt das Holz.“

Gebe Gott, dass wir den Mut und die Kraft aufbringen, uns immer tiefer hinein verwandeln zu lassen in Gottes Barmherzigkeit.

Gebe Gott, dass wir den Mut und die Kraft aufbringen, das göttliche Feuer seiner Liebe zu uns zu ertragen – solange, bis unser Herz in Liebe zu Gott erglüht und es keinen Unterschied mehr gibt zwischen Gott und uns, AMEN.

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Predigt an Trinitatis 2022 über die „dritte Dimension“ (Römer 11, 33-36)

Liebe Gemeinde,

Sonntag Trinitatis.

Wir feiern heute die Trinität Gottes.

Einer in Drei. Auch Drei in Einem.

Diese Idee eignet sich – wie so Vieles Spirituelle – für Spott und Häme.

„Mein Freund, die Kunst ist alt und neu.

Es war die Art zu allen Zeiten,

durch drei und Eins, und Eins und Drei

Irrtum statt Wahrheit zu verbreiten.

So schwätzt und lehrt man ungestört;

Wer will sich mit den Narrn befassen?

Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört,

Es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.“

So verspottet Mephisto in Goethes Faust die Trinitätslehre:

Sie würde „Irrtum statt Wahrheit verbreiten.“

Mephisto hätte genauso gut unseren heutigen Predigttext aus dem Römerbrief zur Veranschaulichung verwenden können:

„O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Denn „wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen?“ (Jes. 40, 13) Oder „wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm zurückgeben müsste?“ (Hiob 41,3) Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.“

Ist das nicht inhaltsleeres Geschwätz? Was soll denn bei solchen Worten gedacht werden?

„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“, sagt Ludwig Wittgenstein.-

Ich möchte heute versuchen, Ihnen die Idee des trinitarischen Gottes ein wenig näher zu bringen. Ich halte sie nämlich für zentral für das Verständnis menschlichen Denkens.

Für mich ist die Trinität oder „Dreiheit“ Gottes, die wir an diesem Sonntag feiern, der Ausdruck der Wiederherstellung, der Restauration Gottes.

Was heißt das?

Ich beginne mit einer Veranschaulichung:

Wir Menschen kommen selbst als Dritte auf die Welt!

Es gibt uns nur, weil „Zwei“ (Frau und Mann) es gewagt haben, sich hin zur Drei zu entfalten.

Wer Kinder hat, weiß, weshalb ich hier von „Wagnis“ spreche.

Denn: Es gibt kein zurück mehr! Man ist nie mehr nur Mann oder Frau.

Mutter oder Vater werden ist irreversibel – unumkehrbar.

Ein abstrakter Einschub:

In drei Dimensionen zu denken und zu leben viel viel anspruchsvoller ist, als nur in zweien.

In zwei Dimensionen bleibt alles überschaubar – eben zweidimensional.

Zweidimensional ist flach. Raum lässt sich nicht in zwei Dimensionen abbilden.

Es gibt links oder rechts, es gibt falsch oder richtig, es gibt schwarz oder weiß. Es ist so und nicht anders. Ich habe recht oder du hast recht.

Wenn Wittgenstein sagt, „alles, was überhaupt gedacht werden kann, kann klar gedacht werden“, dann lässt sich das auf die zweidimensionales Denken anwenden.

Was aber geschieht, wenn die dritte Dimension hinzukommt?

Dann entsteht Raum!

Beziehungs-Raum.

Falsch und richtig treten miteinander in Beziehung. Oder gut und böse.

Der große Nachteil:

Damit geht eine bestimmte vermeintliche Art von Klarheit und Eindeutigkeit verloren. Dreidimensionales Denken und Erleben beginnt mit Verwirrung!

Vorteil: Es entsteht etwas „Mittleres“, „Gemäßigtes“, eben „Drittes“ jenseits der beiden „harten“ Pole! So haben es auch jene Kinder viel leichter, die erleben dürfen, dass die „Beiden“, denen sie ihre Existenz verdanken, miteinander in lebendiger, liebevoller und sich gegenseitig bereichernder Beziehung sind.

Und entsprechend schwer haben es Kinder, wenn die Beziehung ihrer „beiden“ Eltern eine solche ist, in der Macht, Entwertung, Ablehnung und Ignoranz im Zentrum stehen. Oder auch: Wenn Eltern den Anspruch haben, immer derselben Meinung zu sein. Auch dann können Kinder nicht lernen, wie sich verschiedene Ansichten gegenseitig bereichern können, oder auch dass verschiedene Ansichten in der gegenseitigen Liebe des Elternpaares „gehalten“ werden können. 

Die geistige Matrix für eine liebevolle Dreier-Beziehung ist die Trinitätslehre: Aus der liebenden Beziehung zwischen Gott als Vater und Gott als Sohn geht der Heilige Geist hervor. Genauer: In der Kreuzigung, im Tod Jesu ist das Ende der Zweieinigkeit erreicht. Hier gibt es kein darüber hinaus. Die Möglichkeiten der Zwei (Vater und Sohn) sind erschöpft. Sie sind ohne Macht.

Der Karfreitag ist nichts anderes als die Anerkenntnis der Ohnmacht des Vaters im Angesicht seines sterbenden Sohnes.

Es bedarf eines „rettenden Dritten“, der „von außen“ hinzu kommt. Aber nun nicht so, dass er den beiden „äußerlich“ ist. Der rettende Heilige Geist, der „Tröster“ der Not des Vaters und des Sohnes, wohnt „versteckt“ in der Liebe zwischen Vater und Sohn. Er ist „in nuce“ – im Dunklen – immer schon da. Dies hat Augustinus gemeint, wenn er den Heiligen Geist als „vinculum caritatis“, als „Band der Liebe“ zwischen Vater und Sohn bezeichnet.

Mit der Auferstehung wird dieses Licht sichtbar. Es ist das Licht der Liebe, das die Dunkelheit erhellt. Dieses Geschehen ist die Dynamik des Heiligen Geistes. In ihm lodert das Feuer der Leidenschaft für die „verbindende“ Liebe! Im und mit dem Heiligen Geist, dem „Dritten im Bunde“, geschieht die Ver-Söhnung – die nichts mit Sohn, sondern mit Sühne zu tun hat – zwischen den „Beiden“. In ihr wird die Wunde der Spaltung „verbunden“. Spaltungen sind Ausdruck von Verzweiflung (wieder die „Zwei“!). Wenn die „Zwei“ sich nicht verbinden lassen, wenn sie jeden Verband ablehnen, bleibt es bei der Härte von „entweder du oder ich…“ Immer wenn Sie Gefühle ohnmächtiger Verzweiflung erleiden, können Sie sicher sein, dass Sie nicht eingebunden sind in das „Band der Liebe“. –

Liebe Gemeinde,

wir werden jetzt gleich das schöne Lied von Paul Gerhardt – „Geh aus mein Herz ….“ weiter singen.

Und in Strophe 14 wird es heißen:.

„Mach in mir deinem Geiste Raum,
daß ich dir werd ein guter Baum,
und laß mich Wurzel treiben.
Verleihe, daß zu deinem Ruhm
ich deines Gartens schöne Blum
und Pflanze möge bleiben.“

Diese Bilder fließen aus einem tief verinnerlichten trinitarischen Denken:

Damit „Raum“ entsteht, bedarf es der dritten Dimension, haben wir gesagt. Ansonsten bleibt es flach.

Ein guter Baum – der wächst nach oben, nach unten, nach links und nach rechts. Ein „guter Baum“ ist die Verbindung von horizontaler und vertikaler Dimension. So ist er verwurzelt in der Liebe Gottes. Er weiß, dass er nicht aus sich heraus leben kann. Seine Wurzeln sind ein „vinculum“ – eine „unsichtbare“ Verbindung zu dem Milieu, in dem er wächst und gedeiht. Und noch eines: Er weiß, dass er ein Baum, eine Pflanze ist inmitten von vielen anderen. Wer von Peter Wohlleben „Das geheime Leben der Bäume“ gelesen hat, weiß, wie sozial Bäume sind, wie intensiv sie miteinander kommunizieren und sich gegenseitig unterstützen. Und er weiß, dass es auch bei Bäumen eine von uns Menschen gemachte grausame „Massenbaumhaltung“, genannt „Plantagen“, gibt. In ihr gibt es kein Band der Liebe – an seiner Stelle stehen Profitinteressen. Ungehemmte, „unverbundene“ Quantität und Effizienz sind der Tod tritinitarischen Denkens.

Und was machen wir mit den Schnecken? Gibt es die nicht in Gottes Garten?

Doch. Die gibt es durchaus. In Gottes Garten gibt es alle Lebewesen, auch die, die wir für völlig sinn- und nutzlos erklären, wie Schnecken oder – noch weniger beliebt – Zecken. Und auch sie haben Empfindungen. Z.B. Können Zecken bis zu neun Monaten ohne Essen auskommen, um sich dann auf einen „Wirt“ fallen zu lassen, dessen Blut sie aufsaugen. Und sie haben einen Trieb, sich zu vermehren. Nach der Paarung sterben die Männchen sofort, die Weibchen nachdem sie bis zu zweitausend Eier abgelegt haben. Dann versterben auch die Weibchen. Vermenschlicht könnte man sagen: Sie opfern ihr Leben für ihren Nachwuchs!

Und trotzdem fällt es mir schwer, mich in Zecken einzufühlen. Ich denke, das ist auch nicht nötig: Es genügt, die geläufigen Schubladen von Nützlingen und Schädlingen nicht mehr zu verwenden. Die sind nämlich zweidimensional und anthropozentrisch. Heißt: Das alleinige Zentrum der Einordnung ist der Mensch.

Wer sich auf Gott einlässt, wer den zentralen Platz, das Zentrum für Gott frei macht, der kann gar nicht mehr in diesen geläufigen Schubladen von Nützlingen und Schädlingen denken. Der Satz: „Ihr werdet sein wie Gott“ wird ihn nicht mehr verführen. Er wird bescheiden und selbstbewusst antworten: Warum sollte ich wie Gott sein wollen? Mir genügt, das zu sein, was ich bin: ein Mensch. Mir genügt der Platz auf dieser Welt, auf den ich nun mal stehe. Von diesem Platz aus lebe ich mein alltägliches Leben, trage meine Verantwortung. Und von diesem Platz aus werde ich irgendwann wieder verschwinden, meinen ganz eigenen Tod sterben.

Und von diesem Platz aus kann ich nur staunen.

Staunend stehe ich vor dem großen Bogen, vor dem Regenbogen Gottes, in dem sich die Entwicklung Gottes hinein in diese unsere Welt abzeichnet.

Ein Ausdruck dieses großen Regenbogens Gottes ist ein Satz, den Sie alle gut kennen:

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen.“

Oder auch: „Die Dunkelheit des Vaters, das Licht des Sohnes und die liebende Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen.“

Wer alltäglich in dieser Dreiheit lebt, der hat die Trinitätslehre verstanden – auch wenn er keine Ahnung davon hat, was sie bedeutet, AMEN.

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Predigtgedanken über den „Heiligen Geist“ am Sonntag Exaudi 2022

Liebe Gemeinde!

Vor allem anderen sind wir Menschen Tiere.

Genauer: Wir sind Säugetiere.

Das bedeutet: Es gibt eine Zeit, in der können wir nur überleben, wenn wir von jemand Anderem genährt werden. Oder anders ausgedrückt: Wir waren alle zu Beginn unseres Lebens „schlechthin“ (Schleiermacher) abhängig. Und das waren nicht nur Tage oder Wochen; es waren Jahre!

Je schlimmer unsere Erfahrungen mit Abhängigkeit gewesen sind, je ohnmächtiger und ausgelieferter wir uns gefühlt haben, je hungriger und einsamer, desto stärker ist in uns der Wunsch gereift: Ich muss es schaffen, nicht mehr abhängig zu sein. Ich darf niemand mehr brauchen. Ich muss stark werden.

Die Gefühle der Hilflosigkeit haben damit zu tun, nichts im Griff zu haben, nichts kontrollieren zu können. Und genau so ist es am Anfang unseres Lebens auch gewesen: Ob und wann jemand gekommen ist, der uns Nahrung gegeben hat, uns gereinigt hat, sich uns einfach nur zugewendet hat: Wir hatten es nicht in der Hand. Aber wir haben gefühlt und gespürt. So schwach und wenig entwickelt unser Denken gewesen ist, so ausgeprägt ist unser Fühlen und Empfinden gewesen. Der in den 50ern verbreitete Rat an die deutschen Mütter hieß: Füttere nach der Uhr (alle 4 Stunden). Ansonsten lass dein Baby schreien. Sonst ziehst du dir einen Tyrannen heran. Eine Ur-Erfahrung des kleinen Menschenkindes war: Es geht um Mechanik – ich kann mein Leben, ob ich etwas bekomme, ob jemand kommt, in keiner Weise mitgestalten. Das kann so weit gehen, dass ein solcher Mensch seinen Körper eben für eine (seelenlose) Maschine hält.

Die Gefühle der Abhängigkeit und Hilflosigkeit entstehen im Kommen und Gehen, im Dasein und Wegsein der nährenden, lebensrettenden und

lebenserhaltenden Quelle. Die natürliche Quelle für Säugetiere aber ist die Milch gebende Brust. Daraus wurde im AT das „Land, wo Milch und Honig fließen“.

In der christlichen Liturgie ist die Zeit zwischen Ostern und Pfingsten die Zeit, in der es um die endgültige Trennung von Jesus geht. Oder, zurückübersetzt in unsere Zeit als Babys: Es geht um das endgültige Abgestillt-Werden.

Wie soll ich überleben, wenn du, die Quelle meines Lebens, weg bist?

Die Antwort, die wir heute hören, lautet: „Aber ich sage Euch die Wahrheit: Es ist ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, werde ich ihn zu euch senden. Und wenn er kommt, wird er der Welt die Augen auftun über die Sünde und über die Gerechtigkeit und das Gericht.“ (Johannes 16, 7-8)

Für kleine Kinder ist der Trost, wenn die Mama und mit ihr die Brust weg ist, ein „Ersatz“: ein Schnuller und/oder ein Stofftier. Winnicott hat das „Übergangsobjekt “ genannt: Ein „Objekt“, das den Übergang von der Mutter hin zu einem Leben in Getrenntheit von ihr, erleichtert.

Dazu bedarf es in der mentalen Welt des Kindes eines „mentalen Objektes“: Dass nämlich diese ursprüngliche seligmachende Quelle allen Lebens gar nicht verschwunden ist, sondern nur nicht mehr im Außen sichtbar. In der christlichen Theologie ist das die Geburtsstunde des Heiligen Geistes, den das Johannesevangelium durchgängig als „Tröster“ bezeichnet. Tröster heißt im Griechischen aber „Parakletos“ – und das heißt wörtlich: der Herbeigerufene. Und so passt es, dass unser heutiger Sonntag „Exaudi“ heißt, entlehnt aus einem Psalmwort (Ps. 27, 7): „Herr, höre meine Stimme, wenn ich rufe!“ Und weiter heißt es: „Sei mir gnädig und antworte mir!“ Dies ist die eigentliche Gnade, das eigentliche Geschenk – eine gnädige, also liebevolle und barmherzige Antwort auf den Ruf unserer Seele zu bekommen. Und wenn es weiter im Psalm heißt: „Verbirg dein Antlitz nicht vor mir, verstoße nicht im Zorn deinen Knecht“ (V. 9) – so wird klar worum es geht: Es geht um die Hölle des Verlassen-Werdens, des Aus-der-Gemeinschaft-ausgestoßen-Werdens. Es ist nämlich so, dass wir in frühen Zeiten die Abwesenheit der nährenden Quelle als Zorn auf uns erleben. So wird auch verständlich, dass der Paraklet ins Lateinische mit Advocatus übersetzt worden ist: Der Beistand also bei Gericht.

„Sei mir gnädig und antworte mir …!“ Antwort ist etwas ganz anderes als ein Echo, in dem mein eigener Ruf auf mich selbst zurück fällt und meine gefühlte Einsamkeit mal um mal verstärkt. Der vereinsamte Mensch hat sich in seine Einsamkeit zurück gezogen, weil die Antworten, die er bekommen hatte, unbarmherzige und verständnislose gewesen sind. Er geht zutiefst davon aus, etwas falsch gemacht zu haben, ja falsch zu sein. Antworten heißt: Dem Anderen zum Gegenüber zu werden. Erst so und nur so ist das Wahrnehmen des Anderen als eines Anderen möglich.

Nicht nur aber auch in kirchlichen Kreisen wird gerne ehrliche Auseinander-Setzung zu gedeckt mit einer vereinheitlichenden Harmonie-Sauce. Dann muss ich meine Ängste nicht spüren:

Hält der Andere mein Eigen-Sein aus? Wie steht er zu mir, wenn ich anderer Meinung bin als er? Wie steht er zu mir, wenn mein eigener Standpunkt deutlich wird? Lässt er mich dann fallen wie eine heiße Kartoffel? Der demokratische Diskurs sei es in der Politik, in der Familie und nicht zuletzt in der Kirche, lebt von dem Vertrauen, dass Lebendigkeit erwünscht ist. Und von dem Mut, sich selbst in seiner eigenen Lebendigkeit auch zuzumuten. Je diktatorischer ein Gemeinschaft ist, je mehr sie zum „Regime“ geworden ist, desto mehr Mut bedarf es, sich in seinem Eigenen zuzumuten. Es ist viel leichter, hinter dem Rücken „Dampf“ abzulassen, zu „motzen“, als direkt für das Eigene einzutreten. So ist z.B. mein Eigenes, nur einen der beiden Sonntags-Gottesdienste in Solln zu halten. Ich weiß, dass es einfacher und „verdienstvoller“ wäre, würde ich beide übernehmen. Ist mir aber zu viel. Ich kann dann nicht so Gottesdienst halten, wie ich es gerne möchte. Sein Eigenes auf die Welt bringen und zumuten bedeutet auch, einen gesunden Egoismus zu leben!

Und riskieren, sich unbeliebt zu machen. Es kann sein, dass ich dann nicht mehr gebraucht werde. Und dann brauche ich meine Freiheit, aus der heraus ich sagen kann: Ja, dann halt nicht!

Sich zumuten hat mit Mut zu tun.

Für Paulus ist es der Heilige Geist, der diesen Mut uns schenkt:

„Der Geist hilft unserer Schwachheit auf …“, heißt es am Anfang des heutigen Predigttexts. Es ist ein Abschnitt aus dem Römerbrief, Kapitel 8, 26 – 30.

Und weiter: „… denn wir wissen nicht, was wir beten sollen“. Genau dies wird im autoritär-diktatorischen Denken vermieden: Unwissenheit gibt es nicht. Der diktatorische Führer weiß alles!

Wir aber wissen nicht.

Das Christentum ist (nicht in seiner Verwirklichung, aber von seiner Idee her) eine Gemeinschaft der Nicht-Wissenden. In diesem Nicht-Wissen sind wir angewiesen auf eine Kraft, die „von außen“ kommt. Denn das wissen wir: An unserem eigenen Schopf können wir uns nicht aus dem Sumpf unserer Ängste ziehen.

Erst über das Eingeständnis des eigenen Nicht-Wissens, der eigenen Schwäche hat der Heilige Geist eine Chance. Wer immer schon alles weiß, der bedarf keines Heiligen Geistes. „Selig sind die Armen im Geiste …“ sagt Jesus.

Und wie tritt der Heilige Geist für uns ein? “ … mit unaussprechlichem Seufzen …“ Der Heilige Geist wirkt nicht in und über unseren wissenden Verstand. Er wirkt da, wo keine Sprache hinkommt, im Dunkel des Vorsprachlichen, da wo es zugeht wie vor aller Schöpfung, vor aller Strukturbildung. „Und die Erde ward wüst und leer, und Finsternis lag auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser“ (1. Mose 1, 2)

Indem wir uns diesem Geist überlassen, bekommen wir einen Begleiter, der uns nicht mehr verlässt. Einen, der „mit uns geht, der’s Leben kennt und uns versteht …“

Verstehen, Zusammenhänge dort sehen, wo wir bislang keine Verbindungen erkennen konnten – dies alles ist Wirken des Heiligen Geistes. Er bringt ein Licht in unsere Ahnungslosigkeit in unser „keine Ahnung haben“. Dies kann sehr schmerzhaft sein – aufs Ganze gesehen aber dient es unserer Gesundung.

S. Freud bezeichnet an einer Stelle den Gott der von ihm so genannten „Psychoanalyse“ als „Logos“. „Logos“ ist aber nichts anderes, als die Übersetzung des hebräischen Wortes für Geist (ruach) ins Griechische. In dieser Übersetzung hat er das Sinnliche, Vorsprachliche, das er im Alten Testament hat, eingebüßt. An seine Stelle ist die Verstandes-Logik der griechischen Philosophie getreten.

Unser Geist, der Heilige Geist wirkt aber nicht nur im Denken – er beginnt mit „unaussprechlichem Seufzen!“ Und in dieser Finsternis und in diesem ganzen Un-Wissen, gibt es doch etwas, was wir wissen: „Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach seinem Ratschluss berufen sind“ (Vers 28).

Entscheidend ist der Einschub: „… nach seinem Ratschluss …“

Es ist Gottes „Ratschluss“ oder auch „Vorsatz“, uns Menschen dahin zu bringen, dass wir lieben lernen. Und genau das meint unser Wochenspruch: „Wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich alle zu mir ziehen.“ Übrigens steht hier „alle“ und nicht: die Frommen, die Kirchgänger, die Katholiken, die Protestanten …

Paulus, der Intellektuelle, nimmt diesen Gedanken zum Ausgangspunkt für ein Nachdenken darüber, wer von Gott auserwählt ist, – er nennt das „Vorherbestimmung“. Damit entsteht das Problem der Nicht-Auserwählten. Dahinter steht die Frage nach der Verdammnis: die Auserwählten sind die „Gerecht-Gemachten“, die Nicht-Auserwählten sind die Verdammten. Dies ist ein Denken, das gefangen bleibt in Gut-Böse-Spaltungen.

Mir hilft da ein Satz von Rumi weiter:

„König, Dieb, Heiliger, Verrückter – Die Liebe ist wie ein Hund. Sie packt uns alle beim Genick. Und schleppt uns zappelnd zu Gott auf manchem Schleichweg.

Wie hätte ich es jemals ahnen können, dass sich auch Gott nach uns verzehrt?“ (Rumi)

Das Problem ist nicht, dass sich Gott, der die Liebe ist, von uns abwendet, uns im Stich lässt.

Das Problem ist, dass wir verführbar sind, uns von der Liebe, die Gott ist, abzuwenden.

Die Verführung ist dann am wirksamsten, wenn es uns schlecht geht. Ein Baby, ein kleines Kind, das wirkliche Armut erlebt hat, das sich ausgeschlossen fühlte vom Wohlstand der Anderen, für das ist es naheliegend, seine Haltung zum Leben auf das Axiom: „Nie wieder arm sein!“ zu setzen. Es erlebt jede Form von Bedürftig-Sein als Schwäche, die unter allen Umständen zu vermeiden ist. Schwäche aber vermeide ich am sichersten, indem ich mich und meine Umwelt kontrolliere. Dazu aber brauche ich Macht.

Das ist – sehr vereinfacht – die Dynamik der Machthaber*innen, die sich in allen Gemeinschaften, gerade auch religiösen, findet.

Sich von der Liebe leiten zu lassen heißt zunächst einmal, sich seine eigene Ohn-Macht, sein eigenes Ohne-Macht-Sein eingestehen zu können. Ich sage absichtlich: sich eingestehen zu können, denn es bedarf einer starken Kraft, die mir dazu verhilft, dass ich schwach sein darf. Noch einmal: „Der Geist hilft unserer Schwachheit auf!“

Diese Botschaft kann nur diejenigen erreichen, die um ihre Schwäche wissen. Sie sind die „Berufenen der Liebe“. Berufene der Liebe heißt, ein offenes Ohr für den Ruf der Liebe haben. Sie und nur sie können auch getröstet werden. Die bekannten Seligpreisungen bezeichnen sie als „selig“.

Oder, frei nach Rumi: „Selig, wer die Kraft hat, sich von der Liebe beim Genick packen zu lassen und sich zu Gott schleppen zu lassen.“ Der Weg ist dabei nicht so wichtig: Es kann ein Umweg, es kann ein Schleichweg, es kann ein Holzweg sein. Alles aber hängt davon ab, wirklich zu glauben, dass sich der Gott, der die Liebe ist, danach sehnt, dass du zu ihm kommst.

Alles hängt davon ab, dass du beginnst zu glauben, gerade so, wie du bist, bist du liebenswert, erwünscht und willkommen. AMEN.

Predigtgedanken über den „Heiligen Geist“ am Sonntag Exaudi 2022 Weiterlesen »

Predigt über Johannes 21, 15-19 am Sonntag Miserikordias (1. Mai 2022)

Liebe Gemeinde,

Hirtensonntag hat man den heutigen 2. Sonntag nach Ostern genannt. Im Mittelpunkt steht das Bild des guten Hirten, der bei seiner Herde bleibt, auch wenn es gefährlich wird.

Auf der anderen Seite steht der „schlechte Hirte“, der „Mietling“, der Taglöhner, der die Herde im Angesicht der „Wölfe“ – der Gefahr – verlässt.

Dahinter steht die Idee, dass sich Menschen für ihr „ganz Eigenes“ anders verantwortlich fühlen, als für Fremdes. Meine eigene Wohnung, mein eigenes Geld, mein eigener Körper. Deshalb sehen „öffentliche“ Räume einschließlich Straßen oder Plätze oft so aus, wie sie aussehen.

Von der Idee des Eigenen geht eine andere Kraft aus als von der Idee des „Gemeinschaftlichen“. „Es gehört mir ja nicht – also warum sollte ich mich darum kümmern?“ Es setzt eine hohe soziale Kompetenz voraus, – die nicht vom Himmel fällt, sondern erlernt werden muss – sich für etwas, das einem nicht gehört, gerade so einzusetzen, als wäre es das Eigene.

Mit und in Jesus sind die Gedanken der Bedeutung des „Eigenen“ auf der Welt. Er versteht sich selbst nicht als Mietling sondern als guten Hirten: „Ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich!“

Dies wiederum ist ein Abbild seiner ganz eigenen Beziehung zu seinem Vater.

(Nebenbei: Diese Welt sähe ziemlich anders aus, wenn die Menschen in führenden Positionen sich als „gute Hirten“ verstehen würden. Dem guten Hirten ist eine gute, glaubwürdige Autorität zu eigen, dem sich seine „Herde“ freiwillig und nicht aus Angst anvertraut. Die schlechten, autokratischen Hirten wissen in der Tiefe ganz genau, dass ihre Position davon lebt, dass ihre Herde genügend Angst vor ihnen hat. Sie führen über Strafandrohung – und nicht über Liebe.)

Klammer zu.

Diese Gedanken umrahmen den heutigen Predigttext, bei dem es um die Frage geht: Wie geht es weiter, wenn Jesus nicht mehr sichtbar anwesend sein wird, wenn er „zurückkehrt zu seinem Vater“?

Es geht um die „Nachfolge“ genauer die „Nachfolger“ Jesu!

Wir wissen: Die Kirche gilt als Nachfolge-Organisation des Predigers Jesus aus Nazareth. Ein Theologe hat das so formuliert: „Jesus wollte das Reich Gottes, gekommen aber ist die Kirche!“

Und während sich alle vier Evangelien darin einig sind, dass der von Jesus selbst berufene Nachfolger Simon, der „Fels“ (Petrus) heißt, wird nur im Johannesevangelium sein Auftrag explizit als Hirten-Auftrag formuliert. Bei Matthäus ist er der „Fels“, auf dem Jesus seine Kirche bauen will. Sie merken schon vom Bild her: Fels ist ein statisches Bild.

Ganz anders und viel dynamischer wird der Auftrag des Petrus im Johannesevangeliums benannt: Da heißt der Auftrag: „Weide meine Lämmer!“

Doch hören Sie selbst:

15 Da sie nun das Mahl gehalten hatten, spricht Jesus zu Simon Petrus: Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr, als mich diese lieb haben? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Lämmer! 16 Spricht er zum zweiten Mal zu ihm: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Schafe! 17 Spricht er zum dritten Mal zu ihm: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb? Petrus wurde traurigzu, weil er zum dritten Mal zu ihm sagte: Hast du mich lieb?, und sprach zu ihm: Herr, du weißt alle Dinge, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Schafe! 18 Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Als du jünger warst, gürtetest du dich selbst und gingst, wo du hinwolltest; wenn du aber alt bist, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und führen, wo du nicht hinwillst. 19 Das sagte er aber, um anzuzeigen, mit welchem Tod er Gott preisen würde. Und als er das gesagt hatte, spricht er zu ihm: Folge mir nach!

Nachfolger Jesu sein, heißt: dienen – nicht herrschen.

Heißt führen – nicht verführen.

Heißt liebevoll sorgen – nicht missbrauchen.

„Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.“ (Joh 13, 35) Eine weiterer Nachfolgesatz aus dem Johannesevanglium. Und die Überschrift des Ganzen findet sich auf den Punkt gebracht im ersten Brief des Johannes:

„Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm …“

(1. Joh. 4, 16)

So weit, so gut. Ich weiß schon: Das ist schön und leicht gesagt – aber lässt es sich auch leben, ist das alltagstauglich?

Für die vielen Menschen, die der Kirche inzwischen den Rücken kehren, ist es das offensichtlich nicht. „Lebt erst mal das, was ihr predigt…!“

Zu ihrer Verteidigung könnten die Nachfolger Petri vorbringen, dass Petrus selbst niemand ist, der vorbildlich gelebt hat. Er neigte zu Zornesausbrüchen, hieb dem Soldaten das Ohr ab, er wollte Jesus davon abhalten, von seinem Leiden zu sprechen – so dass ihn Jesus als „Satan“ bezeichnete (Matthäus 16, 22b) … und er hat seine Beziehung zu Jesus drei Mal verraten!

Mit einem Wort: Petrus war ein „sündiger“ Mensch – gerade so wie wir alle.

Und eben diesem Petrus spricht Jesus sein Vertrauen aus – allerdings nicht, ohne ihn vorher zu prüfen.

Und diese Prüfung ist nun eine sehr merkwürdige:

Dreimal stellte er ihm ein und dieselbe Frage: „Petrus, liebst du mich?“

Im Griechischen gibt es zwei Wörter für „lieben“:

„agapao“ und „phileo“.

Phileo ist die mit Begehren verbundene Liebe. Es ist mehr ein „ich habe lieb“ als ein „ich liebe“. „Phileo“ ist immer eine begrenzte Liebe.

Es ist die Liebe zu einem Hobby, zu einem Beruf, zu einem konkreten Menschen.

Das Gegenteil von „phileo“ ist „phobeo“ – wörtlich erschrecken.

Phileo drückt Hinwendung aus – Phobeo Abwendung.

In der Psychologie werden damit konkrete Befürchtungen ausgedrückt: Hundephobie, Klaustrophobie … usw.

Demgegenüber ist „Agapao“ eine „allumfassende“ Liebe. Das meint eine ganzheitliche Haltung zum Leben, die aus dem Vertrauen, der radikalen Hinwendung an das Leben stammt. In ihr sind die Befürchtungen und Ängste gebunden und verwandelt. Sogar die Todesangst. In ihr hat selbst der Tod seinen Schrecken verloren. In dieser Haltung habe ich mich fallen gelassen in die Hände eines gütigen Gottes. Und aus dieser Haltung heraus entstehen (neue) Gedanken wie:

Ich verstehe zwar nicht, was ich gerade erlebe, aber es wird schon für irgend etwas gut sein.

Oder: Ich überlasse mich dem, was gerade ist. Ich gebe mich ganz hin.

Und in dieser Hingabe gebe ich meinen Trotz, mein Murren, mein „Motzen“ aus.

In dieser Haltung drückt sich eine gesunde Resignation aus. In ihr gebe ich die große Täuschung auf zu meinen, ich bin der Architekt und Lenker meines Lebens.

Ich hätte mein Leben im Griff. (Gerade für uns Männer ist das eine große Herausforderung, da wir doch so gern alles im Griff haben …)

Es ist ein Missverständnis, diese Haltung als Sünde zu deklarieren. In der ersten Hälfte unseres Lebens ist die natürliche, gesunde Haltung ein:

„Ich entwerfe mein Leben selbst!“

Hierher gehört der Satz Jesu: „Als du jünger warst, gürtetest du dich selbst und gingst, wo du hinwolltest; wenn du aber alt bist, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und führen, wo du nicht hinwillst.“

Erst im Übergang zur zweiten Lebenshälfte wächst die Erkenntnis: Es gibt eine „Vorgängigkeit“, in die ich hineingeboren bin. Und es gibt eine Ohnmacht, ein Ohne-Macht-Sein. Wer damit nicht umgehen kann, tut sich schwer damit, alt zu werden.

Jesus also fragt Petrus drei Mal, ob er ihn „lieb habe“. Zweimal verwendet er „agapao“ beim dritten Mal „phileo“. Und Petrus antwortet dreimal mit „phileo“.

Anders ausgedrückt: Zu diesem Zeitpunkt hat Petrus (noch) keinen Zugang zu „Agape“ – zu dieser umfassenden Lebenshaltung.

Die mit Agape gemeinte Liebe kann man sich nicht erarbeiten. Man kann sie sich nur schenken lassen – und dazu bedarf es eines „Bereit-Seins“.

Die Schwierigkeit ist, dass Agape vertraute Sicherheiten gefährdet.

Sie unterläuft mühsam errungenen Strukturen menschlichen Zusammenlebens. In Agape zerfällt die Welt nicht länger in falsch und richtig, gut und böse. Und das verunsichert. Die Repräsentanten eines Establishments, – sei das eine Gemeinschaft, eine Kirche, eine Firma, ein Staat – wollen diesen Zerfall nicht. Sie sind wesentlich „konservativ“ – wörtlich: „bewahrend“. Sie sind die Gegenspieler von „agape“ und von solchen Predigern der Liebe wie Jesus. „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, sagen sie.“ Und so wird die Liebe ein um das andere Mal getötet. In Liebe hat sich jede Kontrolle erübrigt.

Petrus wird vor dem religiösen Establishment, dem „Hohen Rat“ (Synhedrium) sagen: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. Der Gott unserer Väter hat Jesus auferweckt, den ihr ermordet habt, indem ihr ihn ans Holz hängtet …“

Und die Mitglieder des Hohen Rates „ergrimmten als sie es hörten und beratschlagten, Petrus und Johannes umzubringen“ (Apg. 5, 29-33)

Hier begegnen wir einem mutigen Petrus, einem Petrus, der sich, seinen Glauben und seine Überzeugungen nicht mehr verleugnet. Als Petrus dies sagt, ist das Christentum noch „jung“ und „flüssig“. Es finden sich noch keine hierarchischen Strukturen, es gibt noch kein Establishment. Dies geschah erst im Übergang von der Reich-Gottes-Predigt Jesu hin zur Kirche. Und dieser Übergang war dadurch erzwungen, dass die Erwartung, Jesus werde in unmittelbarer Zukunft zurückkehren „zu richten die Lebenden und die Toten“, dass diese Erwartung unerfüllt blieb.

Und so wurde aus der jesuanischen Idee des Reiches Gottes die Kirche.

Innerhalb derer immer wieder Menschen aufgestanden sind, die ihre dogmatische Verkrustung kritisierten. Das waren insbesondere die Mönche. Und so ist es kein Zufall, dass der große Kirchenreformer Martin Luther ursprünglich Augustiner-Mönch gewesen ist.

Unsere Kirche braucht keine „makellosen Menschen“, die ihre reine Weste pflegen. Sie braucht „Hirten“, die diesen Mut ausstrahlen, den Petrus damals predigte:

„Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen!“

Und sie braucht „Lämmer“, die sich nicht blindlings von ihren Hirten führen lassen. Die eine Freude daran haben, selbstständig zu denken, und den Mut besitzen, sich selbst und ihre Gedanken dem/den Anderen zuzumuten.

Die verbreitete Harmoniesehnsucht ist tödlich für lebendige Beziehungen. Dies gilt auch und gerade in kirchlichen Kreisen.

Unsere Kirche braucht Menschen, wie jene russische Journalistin, die ein Plakat in der Nachrichtensendung hochhält, wo darauf hingewiesen wird, wie sehr diese Nachrichten auf Propaganda fußen. Ein guter Hirte ist ein mutiger Hirte. AMEN.

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Predigt an Karfreitag 2022

Liebe Gemeinde,

meine heutige Predigt besteht aus zwei Teilen.

Im ersten Teil denke ich über die eigenartige Beziehung zwischen Jesus und seinem Gegenspieler nach.

Im zweiten Teil will ich versuchen, diesen Gegenspieler selbst zu Wort kommen zu lassen.

Erstens:

Von Anfang seines Wirkens an hatte Jesus, hatten seine Gedanken und sein Tun, einen Gegenspieler: den Diabolos, auch Teufel oder Satan genannt. Wörtlich bedeutet Diabolos: „Jemand, der Verwirrung stiftet“. Er taucht erstmalig in der Wüste am Ende von Jesu vierzigtägigem Fasten auf und weist ihn darauf hin, dass es für ihn – als Sohn Gottes – doch viel besser ist, allmächtig zu sein.

Sage den Menschen, dass du Steine in Brot verwandeln kannst!“

Zeige den Menschen, dass du fliegen kannst!“

Verbünde dich mit mir, und du bekommst als Lohn ganz viel Macht!“

Kurzum: Lebe nach dem, was ich dir sage, lebe nach dem Prinzip „All-Macht“ – und du wirst so richtig gut sein, so richtig Karriere machen.

Die Kraft von Jesu Antworten liegt darin, dass er NICHT dagegen hält. Er verteidigt sich nicht. Kein: ja aber… Er setzt dem teuflischen Verführer scheinbar nichts entgegen. Und gerade so lässt er ihn ins Leere laufen. Alles, was Jesus tut, ist, auf seine von tiefem Vertrauen getragene Beziehung zu jenem Gott zu verweisen, den er liebevoll abba – Papa nennt. Der Quell dieser Beziehung ist Jesu Bibel: Das Alte Testament. Jesus hegt also nicht die Illusion, sich „neu erschaffen“ zu müssen.

Darauf fällt dem Teufel offenbar nichts mehr ein. Und so „wich er von ihm bis zur bestimmten Zeit“, wie es bei Lukas so schön am Ende der Versuchungsgeschichte Jesu heißt.

Der Zeit seines öffentlichen Wirkens bleibt es ruhig um den Teufel. Einmal nur taucht er bei Petrus auf (Mk. 8,33) :“Geh‘ hinter mich, Satan! Denn du meinst nicht was göttlich ist, sondern was menschlich.“ Der Zusammenhang ist, dass Jesus sein bevorstehendes Leiden ankündigt. Das will Petrus nicht hören. Spannend, dass Jesus diese Taubheit gegenüber Schmerz und Leid (des Petrus) als satanische bezeichnet.

Erst am Beginn der Passionsgeschichte heißt es dann bei Lukas: „Es fuhr aber der Satan in Judas.“ (Lukas 22, 3) Bei Johannes fährt der Satan in Judas im Rahmen der Fußwaschung – sie ersetzt bei ihm die Erzählung des „Letzten Abendmahls“ Joh. 13,27).

Der Satan oder Teufel, oder eben Diabolos erscheint erst wieder, wo es um das wirkliche Leben geht. Wo es ernst wird. In der Wüste hatte er versucht, Jesus davon zu überzeugen, dass es das beste wäre, mit einem Gefühl der Allmacht durchs Leben zu gehen. Dann nämlich muss man sich auf Vieles, Unangenehmes, Leidvolles gar nicht erst einlassen. Dann hat man stets die Kontrolle. Und Kontrolle ist Macht. „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!“ Deshalb ist es wichtig, den Anderen auszuspionieren, auch wenn er „nur“ die Opposition im eigenen Land darstellt.

Nur Kontrolle schenkt eine bestimmte Art von Sicherheit. Von scheinbarer Sicherheit.

Völlig anders ist die Sicherheit, die Jesus predigt. Er spricht vom Reich Gottes, von der Gegenwärtigkeit dieses Reiches, dass es ein Netzwerk liebevoller und vertrauensvoller Verbindungen ist. In der Liebe gibt es keine Kontrolle – sie ist überflüssig. Liebe erträgt es, ohnmächtig zu sein. Da Liebe den Anderen frei lässt, kann und will sie ihn gar nicht kontrollieren. Liebe und Freiheit sind Geschwister – es gibt sie nur zusammen.

Und noch etwas: Erst in der Liebe wird es möglich, sich in das Fremde, Andere wirklich hineinzufühlen. Empathie nennt man das heutzutage. Aus der Liebe fließt die Empathie, das Mitgefühl für meine Mitmenschen und Mitgeschöpfe. Aus dem Hass wird dafür Empathie verwendet, dem Anderen besonders viel Leid zuzufügen. Wir nennen das sadistisch. Die gegenwärtigen Greueltaten gegenüber unschuldigen Zivilisten können nur so verstanden werden.

Jesu revolutionäre Predigt von der Liebe konnte gut ignoriert werden.

Und sie wird bis heute ignoriert.

Es sind die Gedanken eines harmlosen Spinners, wie es viele gibt. Die man nicht ernst nehmen muss.

Weniger harmlos wird es erst dann, wenn Jesus sich mit den Mächtigen, mit dem religiösen Establishment seiner Zeit – im Neuen Testament heißen sie Pharisäer – anlegt. Und gar nicht mehr harmlos ist es, wenn er die Mächtigen der Wirtschaft brüskiert. Als er die Händler aus dem Tempel warf, hatte er die rote Linie der Geduld des Establishments überschritten. Es ist nicht gut, sich mit den herrschenden (Wirtschafts-)Mächten anzulegen. Das gilt damals – das gilt heute.

Als er dann auch noch behauptete, hinter seinem Tun stehe die höchste Autorität, steht Gott selbst, hatte er im Grunde genommen sein eigenes Todesurteil gefällt.

Und damit komme ich zum zweiten Teil meiner Predigt: Jesu letzter Weg.

Schwer trägt er an seinem Kreuz. Es war damals nicht unüblich, dass die Verbrecher ihren Galgen selber tragen mussten. Jesus war erschöpft und fühlte sich schwach – ähnlich wie am Ende seiner vierzigtägigen Fastenzeit.

Wie gut hätte ihm eine tröstende Stimme getan. Eine Stimme, die zur Einfühlung in der Lage ist. Eine Stimme, die mitfühlt. Und tatsächlich taucht eine ihm bekannte Stimme auf.

Du Idiot“, hörte er sie sagen. „Hättest du auf mich gehört, dann könntest du dich jetzt in Behaglichkeit zurücklehnen. Aber nein – du kannst dich ja an die Gesetze dieser Welt nicht anpassen. Money makes the world go round. Und nicht dein Schwachsinn von wegen Schaden nehmen an der eigenen Seele. So leicht hättest du die Welt gewinnen können! Und diese ganze Plackerei hier wäre dir erspart geblieben. Und schau doch – alle, aber wirklich alle, haben dich verlassen. Einer deiner sogenannten Freunde – du hast ihm den Namen Felsen, Petrus, gegeben – der war kein Fels, sondern ein riesengroßer Angsthase. Um sich selbst zu retten, hat er seine Freundschaft mit dir gleich drei Mal in dieser Nacht verleugnet.

Kurze Reflexion in Klammern: (So ist das: Unsere Panik greift unsere Fähigkeit zu Empathie, zu mitfühlendem Denken an. In Panik kreise ich nur mehr um mich und um die Frage, wie ich überlebe. Ich bin zu sozialem Denken nicht mehr fähig. Mein Denken unterwirft sich meinem Hass. Es ist der Hass auf die Angst. Der Hass aber hat nur eine Botschaft: Du musst deine Macht dafür verwenden, um dich durchzusetzen. Um jeden Preis. Koste es, was es wolle. Ohne Rücksicht auf Verluste. Das kriegen wir gerade hautnah in Russland mit. In der Tiefe wird Putins Hass auf den Westen geschürt von seiner Panik, dass die Freiheit, die Demokratie ihn und sein Regime vernichten. Sein Hass aber sagt: Du musst aus der Ohnmacht raus kommen. Es ist allemal besser, den anderen zu vernichten, als sich von ihm vernichten zu lassen. Diese Dynamik gilt übrigens für alle Diktatoren, im Kleinen wie im Großen!)

Einschub Ende – zurück zu Jesu Kreuzweg – die Stimme, die Jesus begleitet, ist nämlich noch nicht fertig.

Du bist völlig allein, Jesus! Kapierst du das?

Einsam, neben zwei Verbrechern, wirst du als Gotteslästerer sterben. Und du wirst nach deinem Vater schreien – und du wirst keine Antwort bekommen. Auch er hat dich nämlich längst im Stich lassen!

Hättest du doch auf mich gehört!

Ich hätte dich nicht im Stich gelassen. Ich hätte dir geholfen, berühmt zu werden. Ich weiß, wie das geht. Du musst den Menschen genau das sagen, was sie hören wollen. Dass sie super sind. Dass sie ein großartiges Volk, eine tolle Gemeinschaft sind. Dass sie stolz darauf sein können, zu diesem Volk, zu dieser Gemeinschaft dazu zu gehören. Und dass du sie zu einem noch größeren Volk machst. Und dass es völlig falsch ist, auf andere Rücksicht zu nehmen.

Einfühlung in den Anderen macht schwach. Wenn du nicht erschossen werden willst, musst du erschießen. Dafür kannst du keine Einfühlung brauchen. Du darfst dir nicht vorstellen, dass dein Feind vielleicht genauso Familienvater ist, wie du. Du darfst dir nicht vorstellen, dass dein Feind genauso ein Mensch ist wie du, der genauso leben will, wie du.

Der Andere ist dein Feind und er gehört vernichtet. Sonst vernichtet er dich. Das ist alles, woran du denken musst.

Der einzige, der das wirklich verstanden hat, war dein Freund und Mitstreiter Judas. Nicht nur euer Leben ist eng miteinander verbunden – auch euer Sterben. Er hat dich auch nicht verraten – wie es so oft heißt. Nein – er hat dich übergeben: in die Hände derer, die dich und dein Leben beurteilen. Und vor allem verurteilen. Er hat dich zunehmend gehasst für deine Botschaft von einem liebenden, einfühlsamen Gott. Er wollte eine Revolution. Er wollte Israel zurück erobern. Von der Besatzung durch die Römer befreien. Und er dachte, mit dir als Führer ginge das. Und so seid ihr am Ende beide gestorben.

Judas aus Enttäuschung und Selbsthass. Er hat sich selbst gerichtet. Anders als du hielt er nichts davon, ohnmächtig zu sein.

Und du stirbst jetzt – weil du ein Idiot bist! Weil du doch wirklich glaubst, es ist gut, bis zuletzt in der Liebe zu bleiben.

Ganz ehrlich – wie kann ein einziger Mensch nur so blöd sein wie du? Schau sie dir doch an, deine Menschen, denen du die bedingungslose Liebe deines Vaters gepredigt hast. „Das Reich Gottes ist mitten unter Euch!“

Von wegen.

Es ist noch keine Woche her – da haben sie dir ihr Hosianna zugejubelt. Als wärst du ein König, so haben sie dich gefeiert. Natürlich musstest du auch da wieder quer denken und quer handeln und ihre Erwartungen brechen: Auf einem Esel musstest du einziehen!

Du hättest dich mal fragen können, was es ist, dass du derart provozieren musstest. In deinem Predigen wie in deinem Handeln.

Aber egal. Jetzt ist eh alles zu spät. Jetzt siehst du, was du wirklich erreicht hast, du König der Juden. Schau dir doch deine speziellen Freunde an, die Pharisäer. Ihre Münder triefen nur so voll Schadenfreude. Ja, ja: Schadenfreude ist die schönste Freude. Schadenfreude über die Hilflosigkeit des großen Predigers der Liebe!

Die Quelle der Schadenfreude ist nichts alsHass. Und der hat am Ende eben doch gesiegt.

Der Hass auf dich und auf deine Liebespredigten.

Wenn du den Mund nicht gar so voll genommen hättest.

Du Retter!

– Rette dich selbst schreien sie. Du sagst doch, du wärst Gottes Sohn. Also: beweise es. Steig doch herab von deinem Kreuz …

Und Jesus?

Jesus schweigt. Er hat nichts mehr zu sagen.

Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!“

Das war’s.

AMEN.

Predigt an Karfreitag 2022 Weiterlesen »

Predigt über 2. Korinther 1, 3-7 an Sonntag Lätare 2022

Weicht ihr Trauergeister, denn mein Freudenmeister, Jesus, tritt herein…“

So haben wir gerade gesungen an diesem Sonntag Lätare – „Freut Euch!“

Und das mitten in der Passionszeit!

Und das mitten in einem Krieg auf europäischem Boden.

Der heutige Sonntag wird auch „Kleiner Ostersonntag“ genannt.

Jesu meine Freude.“ Wer das singen, wer das Erleben kann – der muss sich nicht mehr vor den Widrigkeiten des Lebens fürchten. Er ist nicht länger der Sklave von Trauergeistern … Nur: Wie geht das? Wie kann ich das erleben, spüren, was Paulus schreibt: „… der Gott allen Trostes … er tröstet uns in aller unserer Bedrängnis…“ (2. Korinther 1, 4a)

Es geht offenbar nicht so, dass dann alles Leid verschwindet. Ganz im Gegenteil: „So wie auch die Leiden Christi reichlich über uns kommen, so werden wir auch reichlich getröstet werden durch Christus.“ (V.5)

Ja schon – das haben wir jetzt verstanden. Aber es bleibt die offene Frage: Wie denn?

Wie kann ich getröstet werden? In meinem Leiden, in meinen Ängsten, in meinem Hass und meiner Verzweiflung?

Nun – zunächst einmal brauche ich die Fähigkeit, mich trösten zu lassen.

Ich brauche eine Bereitschaft, mich dem Trost auch zu öffnen.

Der Gegenspieler dieser Bereitschaft ist Verbitterung.

Der verbitterte Mensch ist ein trostloser Mensch. Trostlos heißt: Er ist für keinen Trost zugänglich. Der verbitterte Mensch ist eingekapselt in seiner Verbitterung.

Alle Versuche des Trost-Spendens zerschellen an dieser seiner Kapsel.

Sie wird erlebt als Schutzkapsel. Die Verbitterung ist der Panzer, die uneinnehmbare Festung.

Der Trost-Spender wird abgewiesen: „Du hast ja keine Ahnung!“ „Das verstehst du nicht!“ „Da kannst du dich nicht einfühlen!“

Der verbitterte Mensch ist ein einsamer Mensch. Jeder Versuch, ihn zu erreichen fällt in ein schwarzes Loch des Schweigens. Er gleicht dem Weizenkorn, das sich weigert, in die Erde zu fallen. So bleibt er allein.

Das heißt: Was ich jetzt und im Folgenden sage werde, kann verbitterte Menschen nicht erreichen. Dies ist eine wesentliche Einsicht für jeden, der Trost spenden will. Seine Grenzen werden von der Verbitterung gesetzt. So lange er dies nicht einsieht, arbeitet sich daran ab, den Anderen zu erreichen. Und in der Tiefe ist der Andere immer auch ein Aspekt von einem selbst.-

II.

Schauen wir uns doch einmal an, was Trost wörtlich heißt:

Trost“ bedeutet laut Duden „innere Festigkeit“. Etwas, auf das man sich wirklich verlassen kann, etwas, das stark und fest steht wie ein Baum. (In englisch „tree“ ist diese Wortverwandtschaft erhalten.) Es ist derselbe Stamm, aus dem heraus auch das Wort „treu“ entstanden ist und das Wort „Vertrauen“.

Insofern leben wir in einer „trostlosen“ Zeit: Wo man hinsieht, gibt es Lüge und Betrug. (Dies gilt keineswegs nur, wenn man nach Osten sieht. Ich erinnere an den letzten amerikanischen Präsidenten, der ein Inbegriff von Lüge und Betrug gewesen ist. Und natürlich auch an die Macht der Werbung …)

Trost beginnt also mit Verlässlichkeit. Dass jemand das, was er sagt, auch lebt. Dass ein Wort gilt, Bestand hat. Dass Versprechen, die gegeben worden sind, auch gehalten werden.

Es geht um Zuverlässigkeit.

Es geht nicht darum, perfekte Antworten zu haben. Überhaupt nicht.

(Perfektion ist auch so eine Kapsel, mit der man sich unberührbar gemacht hat.)

Es genügt, dass jemand da ist. Mir aufmerksam zu hört. Damit beginnt Trost.

Und indem er mir aufmerksam zuhört, fühle ich mich ernst genommen.

Für mich persönlich gibt es nichts Unangenehmeres als die „Vertröstung“.

Komm, war doch nicht so schlimm!“ Ich kenne jemanden, dem ist noch viel Schlimmeres passiert. Jetzt stell dich nicht so an …

Oder, ich laufe mit dem, was ich auf dem Herzen habe, ganz einfach ins Leere. Ich merke, wie der Andere durch mich hindurch schaut. So als gäbe es mich gar nicht. Es ist für Kinder entsetzlich, Eltern zu haben, die schweigen. Die sich nicht an der Lebendigkeit ihrer Kinder erfreuen können. Die nicht mit dem Leid ihrer Kinder mitfühlen, mitleiden können. Kinder wissen ja nicht, und können es nicht wissen, dass in ihren Eltern etwas zerbrochen, etwas erstarrt ist. So versuchen sie verzweifelt, ihre Eltern zu erreichen, ihnen eine Freude zu machen, für sie eine Freude zu sein …

Martin Luther ist so ein Kind gewesen. Und ich vermute, gerade in seelsorgerlichen Berufen finden sich nicht wenige, ehemals solche Kinder gewesen sind.

Schließlich gibt es noch die Vertröstung, die K. Marx als Opium für das Volk bezeichnet hat: Warte, bis du erst gestorben bist. Dann kommst du in den Himmel. Dann wird dir Gerechtigkeit widerfahren… Dann werden die Bösen endlich bestraft werden. Das Gefühl, das hierzu gehört, lautet: Genugtuung.

Es ist mir ein Trost, dass der Täter nicht ungeschoren davon kommt…

Wirklich? Ist das ein Trost? Kann Genugtuung in der Tiefe trösten?

Selbst wenn Putin als Kriegsverbrecher verurteilt würde: Es macht nicht einen einzigen im Krieg getöteten Menschen wieder lebendig.

Ich bin auf der Suche nach einem stärkeren Trost. Ich glaube, der stärkste Trost ist der, zu sich selbst und zu anderen wahrhaftig zu sein. Und wahrhaftig hat etwas mit ganzheitlich zu tun.

Trost beginnt damit, dass ich immer klarer im Sinne von ganzheitlicher die Wirklichkeit sehen lerne. Der einzige Boden nämlich, der mich trägt, ist: die Wahrheit! Er ist der einzige wirkliche Trost, der nicht täuschen kann.

Ich begleite als Psychoanalytiker Menschen dabei, dass sie allmählich den festen und sicheren Boden der Wirklichkeit ihres eigenen Lebens finden. Sehr oft gibt es auf diesem Weg Träume, die von steinigen oft auch gefährlichen Abstiegen im Gebirge handeln. Es ist eine Bewegung von oben nach unten, in die „Niederungen“ hinein.

Die Gegenbewegung dazu sind Träume, abheben, ja fliegen zu können. Zumeist sind diese Träume mit Glücksgefühlen, mit Gefühlen von großer Freiheit und Leichtigkeit verbunden. („Über den Wolken zu schweben, muss die Freiheit wohl grenzenlos sein!“) Das macht sie so verführerisch.

Das Verführerische ist, dass die Abstiegsträume, dass der Weg zur Wirklichkeit untrennbar mit Gefühlen von Angst und Unsicherheit einhergeht. Es ist der „steinige Weg“. Indem jemand sich dieser Wirklichkeit und diesen Gefühlen nicht stellen kann und/oder will, haust er sich immer weiter in seinen (Selbst-)Täuschungen ein. Die Wirklichkeit und die Boten der Wirklichkeit sind seine Feinde. Für ihn ist der größte Trost ein allmächtiger Gott, der alles im Griff hat. Zu dem er kommen wird nach seinem Tode. Für ihn ist der größte Trost ein Denken, das von der Spannung aus Allmacht und Ohnmacht lebt. „Ich glaube an Gott, den Allmächtigen …“ Dann ist die „Ohnmacht des Kreuzes“ nur ein Durchgangsstadium. Wie Jesus Christus in „Geduld“ sein Leiden ertragen hat, so sollt auch Ihr das tun. Denn dann – irgendwann – bekommt Ihr Anteil an der Herrlichkeit des Auferstandenen.

Ich persönlich glaube weder an Gott den Allmächtigen – dann kann ich nämlich nicht verstehen, wie Gott das ganze Leid zulässt.

Und ich glaube auch nicht an Gott den Ohnmächtigen – dann kann ich nicht verstehen, warum ich überhaupt irgendetwas machen sollte, mich für irgendetwas einsetzen sollte.

Ich vertraue der liebevollen Verbindung in dem, was das Wort „Gott“ versucht zu beschreiben, was ich mir nicht mehr vorstellen, worauf ich aber vertrauen kann: Die liebevolle Verbindung zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist. Dieser trinitarische Gott ist für mich „der Gott allen Trostes, der uns tröstet in aller unserer Bedrängnis…“ Aus diesem Trost gewinne ich die Kraft, andere, die in Bedrängnis sind, wirklich zu trösten – ohne sie zu vertrösten.

Dieser Trost ist sehr wirkkräftig – aber er ist nicht allmächtig. Wer seine Seele verschlossen hat, wer seine Fenster zu seiner Innen- und in Folge davon zu seiner Außenwelt verschlossen hat, den kann dieser Trost nicht trösten. Er kann sich nicht mehr in Verbindung erleben – weder zu sich noch zu seiner Umgebung. Echter Trost benötigt einen „Friedens-Korridor“, durch den er „hineinkommen“ darf. Je totalitärer ein Regime ist, je totalitärer die Grundstruktur eines Menschen ist, desto unwahrscheinlicher ist die Akzeptanz eines solchen Korridors.

Echter Trost kann nur den erreichen, der bereit ist, noch einmal den Weg durch den (alten) Schmerz zu gehen. Nicht, um sich zu quälen; vielmehr um sich und sein So-und-nicht-anders-geworden-Sein zu verstehen. „Die Leiden Christi werden reichlich über uns kommen“, schreibt Paulus. Die Leiden Christi sind die Leiden meiner Seele, die Leiden des Nicht-verstanden-worden-Seins, die Leiden des Falsch-Seins, die Leiden, nur über Leistung Anerkennung zu bekommen, die Leiden des Im-stich-gelassen-worden-Seins usw. Auf diesem Leidensweg kommt als erstes die alte Wut, ja der alte Hass darüber wieder hoch, was mir alles angetan worden ist. In dieser Wut erlebe ich mich verständlicherweise als Opfer.

Der Weg in die Freiheit aber – und da wird es dann so richtig schmerzhaft – ist, mir einzugestehen, dass ich selbst auch Täter geworden bin, dass ich selbst Seiten in mir habe, die ich so sehr verabscheue. Die ich versuche, mit Gewalt in anderen Menschen unterzubringen. Das ist das bekannte „Sich-empören-über-Andere“. Der Weg in die Freiheit führt darüber, sich mit seinen eigenen dunklen Seiten, die mich an Anderen so empören, vertraut zu machen: den eigenen Hass, den eigenen Neid, die eigene Überheblichkeit, die eigene Missgunst, die eigene Gier, die eigene Bemächtigung von Schwachem, die eigene Faulheit, das eigene Desinteresse usw.. Dieser Weg ist nur in enger Verbindung mit einem „Gott der Barmherzigkeit“ begehbar. Wie Paulus schreibt: Der Gott des Trostes ist zugleich der „Vater der Barmherzigkeit“.

Es bedarf dieser Barmherzigkeit, um nicht in den Erstarrungen der Täter-Opfer-Spaltungen stecken zu bleiben. Es bedarf des Verständnisses auch für die andere, für die Täter-Seite. Für meine eigene Täter-Seite. In dem über Jahrhunderte wirksamen Dogma, Gott habe seinen eigenen Sohn geopfert, da nur dieser Gottes Zorn tilgen konnte, wird noch einmal Täter und Opfer zementiert.

Im Johannesevangelium wird der Tod Jesu mit dem Sterben des Weizenkorns verglichen. Es ist ein Sterben für das Leben. Das verbitterte Weizenkorn kann nicht sterben: es kann nicht loslassen, nicht absehen von sich selbst. Und so „bleibt es allein“. Das verbitterte Weizenkorn ist einsam. Das sich hingebende Weizenkorn, das sich dem Leben öffnende Weizenkorn aber „bringt viel Frucht“.

Oder, weniger poetisch ausgedrückt: Das einsame Weizenkorn ist in sich selbst, in seinem Narzissmus gefangen. Es kreist in unendlichen Schleifen um sich selbst. Das sich dem Leben öffnende Weizenkorn lässt sich selbst und die Anderen sein. In aller Unvollkommenheit! Ihm genügt es, da zu sein und sich an seinem eigenen und am Dasein der Anderen zu freuen. So kommt das Frucht-Tragen von ganz alleine. Indem es aufhört, um sich selbst zu kreisen, richtet sich sein Leben auf das Wohl der Gemeinschaft aus, als dessen Teil es sich erlebt. Diese Gemeinschaft ist im Letzten die Gemeinschaft des Lebens. Und dies ist nichts anderes als die Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott. Den „Vater der Barmherzigkeit“, den „Gott des Trostes.“ Dass wir alltäglich in fester Verbindung mit ihm bleiben mögen, dazu verhelfe uns Gott, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist, AMEN.

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Jenseits von gut und böse

Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem!“

Dieses Wort von Paulus in Römer 12 wäre doch, so dachte ich, ein gutes Leitmotiv für ein Friedensgebet.

Doch dann kamen mir Zweifel: Geht das so einfach: Hier Gutes – dort Böses?

Zweifellos: In ein Land einmarschieren ist böse. Es ist empörend. Es schürt Gefühle von Wut und Hass. Diese Gefühle polarisieren. Und Polarisierungen helfen nicht zum Verstehen.

Sie helfen nur dazu, den eigenen Hass unterzubringen.

So habe ich mich entschieden, Ihnen Gedanken mitzuteilen, die sich nicht für derart polarisierendes Denken eignen. Angeregt wurde ich durch eine alte chassidische Geschichte.

Sie handelt davon, was einen guten Lehrer ausmacht.

Sie handelt von den Grenzen des Rat-Gebens, die ein guter Lehrer kennt und an die er sich hält.

Ich habe die Geschichte auch ausgesucht in einer Zeit, in der die Angst umgeht, in der guter Rat teuer ist.

Grenze des Rats

Die Schüler des Baalschem hörten von einem Mann als von einem Weisen reden. Einige unter ihnen verlangte es, ihn aufzusuchen und seine Lehre zu erfahren. Der Meister gab ihnen die Erlaubnis; sie aber fragten weiter: ‚Und woran sollen wir erkennen, dass er ein wahrer Zaddik ist?’ ‚Erbittet von ihm’, antwortete der Baalschem, ‚einen Rat, wie ihr es anzufangen habt, damit die unheiligen Gedanken euch nicht mehr beim Beten und Lernen stören. Gibt er euch einen Rat, so wisst ihr, dass er der Nichtigen einer ist. Denn das ist der Dienst des Menschen in der Welt bis zur Todesstunde, Mal um Mal mit dem Fremden zu ringen und es Mal um Mal einzuheben in die Eigenheit des göttlichen Namens.’“ (Martin Buber, Chassidische Geschichten, Zürich 1949, S. 151. )

Das Leben des Menschen ist kein: Ich will. Auch kein: Man gönnt sich ja sonst nichts, oder: Das steht mir zu!

Das Leben des Menschen ist ein Dienst.

Ein Dienst, der zu tun ist gerade und genau an der Stelle, an der ein Mensch gerade steht.

Ein Dienst in dem Rahmen, in dem jemand in der Lage ist, ihn zu tun.

Und was ist sein Dienst-Auftrag?

Mal um Mal mit dem Fremden zu ringen… bis zur Todesstunde!“

Also: bis zuletzt!

Was heißt das?

Schnell und oft ist das Fremde eine Bedrohung des Eigenen. Das Fremde ist das mir Unbekannte, das Neue, das Unerhörte. Das Fremde löst in mir etwas aus: Es befremdet mich. Instinktiv und intuitiv versuche ich es einzuordnen, einzugemeinden. Misslingt dies, werde ich es ausstoßen, von mir wegschieben, abschieben. Gelingt auch das nicht, werde ich versuchen, es zu vernichten. Dies erleben wir zur Zeit: Den Diktatoren ist Demokratie fremd und bedrohlich. Sich darauf einlassen würde bedeuten, sich von der Diktatur zu verabschieden. Es würde das vernichten, was mühsam aufgebaut worden ist.

Für mich als Kind einer über siebzigjährigen Friedensepoche sind die grausamen Bilder des Ukraine-Krieges, die Verzweiflung der Menschen, die unmenschliche Kälte der Mächtigen fremd. Sie stören, verstören, passen nicht hinein in meine eigene Sehnsucht nach Wärme, Harmonie und Geborgenheit. Ich erlebe sie als aufdringlich – wie ein Bettler, dessen bloße Anwesenheit mich stört. Ich will nichts mit ihm zu tun haben, erinnert er mich doch daran, wie gut es mir. Sein Betteln ist ein Angriff auf mein Leben.

Lieber schaue ich mir etwas Erbauendes an. Einen Krimi, wo ich von Anfang an weiß, der Böse wird gefasst werden. Er wird nicht davon kommen, Das beruhigt meine Seele.

In der Wirklichkeit ist es so anders: Der oder das Böse, die Lüge und der Betrug, die Täuschung haben die Oberhand. Sie tragen weiße Hemden und Krawatten und sehen sehr gepflegt aus. Zum Zerstören, zum Metzeln haben sie ihre Helfer. Es greift zu kurz, zu sagen, wir sind die Guten, die Anderen sind die Bösen.

Die Frohe Botschaft, das Evangelium ist die gute Nachricht von der Anwesenheit Gottes in dieser Welt – und nicht die schlechte Nachricht von seiner Abwesenheit. Aber wo ist Gott im Grauen? Wo ist er in den eingekesselten ukrainischen Städten? Wo ist er in der Seuche von Corona? Wo ist Gott im Mittelmeer, wo die Flüchtenden ertrinken?

Ich glaube, es ist gut, sich daran zu gewöhnen, dass Gott nicht so da ist, wie ich mir das wünsche. Wie ich meine es zu brauchen.

Gott ist kein Medikament, das ich bei Bedarf nehmen kann.

Gott ist keine Droge, die mir Gelassenheit und Ruhe schenkt.

Und vor allem: Der Gott, dem ich vertraue ist kein Gott der Macht und kein Gott des Sieges.

Die unheiligen Gedanken, die mich beim Beten stören, sind mein Hadern mit der Wirklichkeit, wie sie gerade ist. Sie soll anders sein – Gott, der doch allmächtig ist, soll sie anders „machen“. Er soll meinen Polarisierungen entsprechen, er soll meine Vorstellungen von gut und böse verwirklichen.

Einheben“ heißt: Dieses Hadern in mir Halten und Aushalten. Das ist etwas Anderes, als mich meinem „Genervt-Sein“ zu überlassen.

Akzeptieren, dass ich nicht die Kraft habe, die Wirklichkeit zu verändern. Alles, was ich kann, ist, meine Haltung zu dem, was ich vorfinde, zu verändern. Ich kann mit einem harten, abweisend verbitterten Blick meine Tage leben. Und ich ich kann mit einem weichen, freundlich barmherzig-zugewandten Blick meine Tage leben.

Ich kann mich zerstreut, gehetzt und genervt fühlen – dann ist alles „viel zu viel“ –

und ich kann mich eingerahmt von der Kraft der Liebe fühlen – dann ist zu tun, was eben zu tun ist.

In dem kleinen Rahmen, der mir eben möglich ist.

Es ist diese unscheinbare Kraft der Liebe, die es möglich macht, den Dienst des Menschen, den Dienst von uns Menschen, mal um mal, Tag für Tag, zu erfüllen.

Für die Ausübung selbst gibt es keinen Rat, sagt Baalschem. Ja – wer meint, er hätte einen Rat, eine Handlungsanweisung, der ist kein wirklicher Lehrer. Denn jeder von uns steht in der Tiefe auf seinen eigenen Füßen und hat seinen ganz eigenen, einmaligen Weg durch sein eigenes Leben zu finden.

Und jeder von uns Menschen hat die Freiheit, sich auf diesem Weg von seinem Hass oder von Gottes Liebe leiten zu lassen, AMEN.

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Predigt über Markus 8, 31-38 am Sonntag Estomihi (27.2.22) gehalten unter dem Eindruck des Ukrinekonfliktes

Liebe Gemeinde,

ich beginne mit einer persönlichen Vorbemerkung:

In den Religionen wird Sprache dazu verwendet, zu überzeugen. Ziel ist, dass dem, der etwas mitteilt, geglaubt wird. Im AT wird dafür die Autorität Gottes selbst ins Spiel gebracht: „So spricht Gott …“ heißt es bei den Propheten. „Wahrlich, ich sage Euch …“, heißt es im NT. Und „Predigen“ heißt wörtlich: „praedicare“, zu deutsch. „ausrufen“, „preisen“, „rühmen“. Es kann aber auch heißen: „festsetzen“, „befehlen“.

So gesehen sind meine Predigten allesamt eine Themaverfehlung.

Ich rühme niemanden und ich setze nichts fest. Es gibt auch keine Befehle im Sinne von: mach das – oder lass das! Und schon gar nicht würde ich ein „so spricht Gott…“ voran stellen. (Auch wenn ich dazu manchmal größte Lust hätte. Und zwar v.a. dann, wenn ich mich über etwas empören möchte!)

Meine Predigten sind ein Versuch, meinen Hörern Anteil zu geben an Gefühlen und Gedanken, die ein religiöser Text in mir auslöst. Nicht mehr aber auch nicht weniger. Es ist mein subjektives Verständnis eines Textes – auf dem Hintergrund meines Theologiestudiums und meines Psychoanalysestudiums.

Dies ist der Hintergrund, auf dem sie meine nun folgende Predigt hören mögen!

Liebe Gemeinde,

der heute zu predigende Text löst bei mir als erstes Abneigung aus. Ich glaube, das hat damit zu tun, dass er sich sehr gut als Magna Charta, als Fundament für die Gründung einer religiösen Sekte oder eines totalitären Staates eignet. Da ist von den Schriftgelehrten die Rede, die Jesus töten werden, da wird Petrus, einer der engsten Freunde Jesu, als Satan beschimpft, um schließlich in dem hässlich-hassvollen Satz zu gipfeln: „Denn wer sich meiner und meiner Worte schämt unter diesem ehebrecherischen und sündigen Geschlecht, dessen wird sich auch der Sohn des Menschen schämen, wenn er kommen wird in der Herrlichkeit seines Vaters mit den heiligen Engeln.“ (Vers 38) Das könnten Sätze eines Diktators sein, dem jegliche Empathie abhanden gekommen ist. „Denken Sie doch an die unschuldigen Menschen, die vom Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine betroffen sind, die im schlimmsten Fall getötet werden“, hatte unsere Außenministerin fast flehentlich gesagt. Für einen empathischen Menschen ist es nicht leicht, sich vorzustellen, wie gefühllos Menschen sein können. Und noch schwerer ist es, darauf nicht mit eigenem Hass zu reagieren. Sich nicht vom Hass, den ich spüre, infizieren zu lassen.

Liebe und Hass – das sind emotionale Grundbausteine des Lebens. Und je mehr wir unsere eigenen „hässlichen“ Seiten verleugnen, desto mehr Macht über uns erlangen sie. „Lass dich nicht vom Bösen überwinden; überwinde das Böse mit Gutem“, schreibt Paulus im Römerbrief. Übrigens derselbe Paulus, der im ersten Korintherbrief seiner Wut auf die Korinther freien Lauf lässt. Im selben Brief, in dem er auch das sogenannte Hohe Lied der Liebe schreibt, das wir vorhin gehört haben.

Für mich heißt „Jesus nachzufolgen“ nichts anderes, als die eigene Liebefähigkeit zu stärken. Damit wird automatisch die eigene Bereitschaft zum Hassen geschwächt. Wenn wir die einfühlende Liebe verlieren, sind wir schutzlos unserem eigenen Hass ausgeliefert.

In der neu revidierten Lutherbibel trägt unser Predigttext die Überschrift:

Von der Nachfolge“. Ich werde im Folgenden neun Punkte benennen, die meiner Meinung nach eine „Nachfolge in Liebe“ ermöglichen. Ich erhebe damit keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit.

Erstens: Nachfolge in Liebe bedeutet, dass die Existenz eines Satans, eines „Verwirrung-Stifters“ und eines Feindes meiner Fähigkeit zu lieben, nüchtern anerkannt wird. Erst dann nämlich kann ich mich mit ihm auseinander setzen und ihn in nüchterner Liebe auf den richtigen Platz stellen. Er muss sich hinten anstellen. „Geh hinter mich, du Satan!“ „Du meinst nicht, was göttlich ist, sondern was menschlich ist.“ Menschlich ist, dem Leiden, den Schmerzen und den damit verbundenen vermeintlich unerträglichen Gefühlen auszuweichen. „Ich will das nicht haben“, sagt der Mensch. „Du musst das auch nicht aushalten“, sagt Satan!

Nüchterne Antwort:

Du stellst dich hinten an. Nicht länger bestimmst du meinen Weg. Nicht länger lasse ich mich von dir in die Irre führen bzw. verführen.“

Zweitens: „Das eigene Kreuz zu sich zu nehmen und zu tragen, ja zu ertragen“ – das hält Satan für völlig überflüssigen Unfug. Satan wirbt für maximalen Lustgewinn. Man könnte auch sagen, er macht Propaganda für Lust. Solche Propaganda-Sätze können heißen: „Das hast du dir jetzt echt verdient!“ Oder: „Man gönnt sich ja sonst nichts!“ Auch: „Das musst du dir nicht bieten lassen!“ „Wenn du stark bist, schlägst du zurück.“ (In Klammern: Wussten Sie übrigens, dass der Begriff „Propaganda“ in unserer Bedeutung, nämlich durch Werbung für die Ausbreitung von irgend einer Botschaft zu sorgen, erstmals im kirchlichen Bereich Verwendung fand? Im Jahr 1622 wurde in Rom eine „päpstliche Gesellschaft zur Verbreitung des Glaubens“ gegründet. Die hieß auf lateinisch: „congregatio de propaganda fide“. Klammer zu.)

Drittens: Der Weg der Nachfolge in Liebe beginnt mit Verleugnung. „Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst.“ „Verleugnen“, griechisch „aparneomai“, bedeutet wörtlich: „sich lossagen“.

Lossagen heißt sich lösen von all den Selbst-Täuschungen, denen ich aufgesessen bin. Alle Betrüger dieser Welt betrügen sich in der Tiefe selbst. Machen sich selbst etwas vor und verbringen ihr Leben damit, sich diese Täuschungen schön zu reden. Sie fliehen vor dem Blick in den Spiegel; sie weichen der Frage: „Wer bist du in Wirklichkeit?“ aus. Das Prinzip Satan erklärt diese Frage als uninteressant. Da, wo Selbst-Erkenntnis geschehen könnte, findet Selbst-Ablenkung statt.

Viertens: Menschen wie Jesus ist es möglich geworden, einen Blick hinter die Kulissen des Schauspiels Selbst-Täuschung zu werfen. Und er hatte den Mut, diesen Blick mitzuteilen und zu sagen: Ihr seid doch alle Schauspieler. Das ist doch nicht echt, was ihr da treibt. Ihr redet von Gott – und lasst Euch leiten von Satan. Dass jemand mit einer derartigen Botschaft gekreuzigt wurde, ist da nicht weiter verwunderlich.

Fünftens: An Jesus glauben, seine Botschaft verinnerlichen, mit und in ihr zu leben, führt keineswegs ins Paradies unbegrenzter Lusterfüllung. Zunächst einmal führt seine Botschaft in die Öde und Kargheit des Verzichts. Des Verzichtes darauf, sich weiterhin etwas vor zu machen. Ein notwendiges Gefühl am Beginn dieses Weges ist das Erschrecken über sich selbst. „Oh Gott, wie konnte ich mich nur so täuschen?“ Es gehört viel Mut und Kraft dazu, sich seine eigenen Täuschungen einzugestehen. Dieses Eingeständnis wird nämlich noch von einem weiteren, sehr unangenehmen Gefühl begleitet: Der Angst, verrückt zu werden. Und dieses Gefühl ist absolut angemessen: Auf dem Weg in die Nachfolge werde ich ver-rückt. Alles, was ich bislang für sicher hielt, wird nämlich in Frage gestellt und neu geordnet, neu aufgestellt.

Sechstens: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er sich selbst gewönne und doch Schaden nähme an seiner Seele?“

Die Abwehr dieses Satzes ist einfach und verbreitet. Da ich nicht weiß, was Seele ist, muss ich mich auch nicht mit ihr beschäftigen. Aber ich weiß, wie es geht, in dieser Welt Anerkennung und Ruhm zu bekommen. Und das hilft mir was. „Haste was, bist du was!“

Was bringt demgegenüber die Beschäftigung mit sich selbst?“ – „Eben: nichts!“

Siebtens: Jesus predigte das Reich Gottes – gekommen aber ist die Kirche.

Und die Kirche musste kommen, weil Jesu Predigt sich nicht dafür eignet, mit ihr eine Gemeinschaft oder gar einen Staat zu etablieren. Im Urchristentum lebte man wohl in einer Art Kommune. Die Hippie-Bewegung der Sechziger-Jahre des letzten Jahrhunderts mit ihrem Slogan: „All you need is love“ ist – glaube ich – sehr nahe diesem urchristlichen Gedankengut. Es ist eine wunderschöne Vision – nur nicht dafür geeignet, menschliches Zusammenleben zu ordnen. Nebenbei: Wir wissen, dass es auch im Urchristentum einen erheblichen Streit zwischen Petrus und Paulus gab, der im sogenannten „Apostelkonzil“ beigelegt worden ist. Menschliches Zusammenleben benötigt einen klaren und verlässlichen Rahmen. Wie schwer es uns Menschen fällt, sich an einem Rahmen zu halten, hat der Missbrauchsskandal der katholischen Kirche gezeigt. Und zeigt aktuell das Handeln Putins.

Achtens: Deshalb ist es auf dem Weg liebevoller Nachfolge unabdingbar, dem eigenen Hass, der eigenen Bereitschaft zu zerstören, ins Auge zu blicken – um ihr Einhalt zu gebieten zu können. Das setzt aber voraus, Zerstörerisches als Zerstörerisches überhaupt erst Mal zu erkennen. Putin sagt, er schützt und sichert die Ukraine und damit Russland vor den westlichen Feinden. Sein Krieg ist „eine Friedensmission“. Die Schriftgelehrten damals wollten ihr religiöses System vor einem vermeintlichen Gotteslästerer schützen. Deshalb musste er vernichtet werden.

Neuntens: Es bleibt uns nicht erspart, eine eigene Position zu beziehen. Ich versuche alltäglich meiner Fähigkeit zu lieben Raum zu geben. Und ich scheitere alltäglich und lasse mich verführen zu hassen. In dem Ganzen brauche ich einen barmherzigen vergebenden Gott. Einen Gott, der die Liebe ist.

Und mein Gebet an ihn ist sehr kurz:

Gott, sei mir Sünder gnädig! AMEN.

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Predigt über Matthäus 14, 22 – 33 am 4. Sonntag vor der Passionszeit 2022

Liebe Gemeinde,

heute geht’s um’s „Bewundern“.

„Kommet her und sehet die Werke Gottes, der so wunderbar ist in seinem Tun an den Menschenkindern!“

Mit diesem Psalmvers wurde unser Gottesdienst eingeläutet, er möge uns in dieser Woche begleiten.

Das Evangelium handelt von der „wunderbaren Stillung des Sturms“.

Nun scheint zum Bewundern unabdingbar Angst dazu zu gehören: „Und sie fürchteten sich sehr und sprachen untereinander: ‚Wer ist der, dass ihm Wind und Meer gehorsam sind?’“

In der anderen bekannten Geschichte, bei der die Jünger ebenfalls in einem Boot sitzen, freilich alleine, ohne ihren „Meister“, geht es auch um Angst. Um die Angst eines besonderen Jüngers mit Führungsqualitäten – um die Angst von Petrus. Doch hören Sie selbst, aus dem Evangelium des Matthäus im 14. Kapitel:

22 Und alsbald drängte Jesus die Jünger, in das Boot zu steigen und vor ihm ans andere Ufer zu fahren, bis er das Volk gehen ließe. 23 Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg er auf einen Berg, um für sich zu sein und zu beten. Und am Abend war er dort allein. 24 Das Boot aber war schon weit vom Land entfernt und kam in Not durch die Wellen; denn der Wind stand ihm entgegen. 25 Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem Meer. 26 Und da ihn die Jünger sahen auf dem Meer gehen, erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst!, und schrien vor Furcht. 27 Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht! 28 Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser. 29 Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu. 30 Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, rette mich! 31 Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? 32 Und sie stiegen in das Boot und der Wind legte sich. 33 Die aber im Boot waren, fielen vor ihm nieder und sprachen: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!“

Bewundern und Angst gehören offensichtlich zusammen. Und das Bewundern ist eine Möglichkeit, Angst los zu werden. „Idealisieren“ wird das in der Psychologie genannt.

Es ist die Angst vor der „nüchternen“, vor der „wirklichen“ Wirklichkeit.

Indem ich jemand bewundere, ihn oder sie auf seinen Sockel stelle, muss ich mich nicht mehr mit der Wirklichkeit beschäftigen. Jemand, den ich bewundere, der „steht für sich“. Er befriedigt meine Sehnsucht nach Allmacht, Allwissenheit, ewigem Leben usw. Und indem ich ihn/sie/es bewundere werde ich selbst herausgehoben aus der alltags-grauen Wirklichkeit, in der ich gerade stecke. Wer anfällig für Bewunderung ist, der befindet sich notwendig in einer Wirklichkeit, die ihn nicht befriedigt. Und versucht mit aller Macht, die Bewunderung aufrecht zu erhalten. Wenn es dann überhaupt nicht mehr geht, ist die Enttäuschung um so größer, der Fall des ehemals Bewunderten um so tiefer.

Diese Dynamik muss gerade die katholische Kirche erleben und v.a. erleiden.

Der Jesus, der uns in unserem heutigen Predigttext vorgestellt wird, soll bewundert werden. Whow – er kann auf dem Wasser gehen, er kann direkten Einfluss auf das Wetter nehmen. …

Dieser Jesus, oder besser die Fantasien über solch einen Jesus, stammen aus der Kindheit. Zur gesunden Entwicklung eines Kindes gehören „Gestalten“, die es bewundert. Das können Tiere sein (Das Pferd Fury, der Hund Lassie, der „König der Löwen“ usw.) und das können Menschen sein. Bei mir waren es eine Zeitlang Winnetou und Old Shatterhand. Oder – moderner – Harry Potter. Natürlich können das auch grausame Machthaber sein. Sie alle sind „Helden der Kindheit“: sie leben so, wie ich als Kind auch gerne leben würde. Auf dem Weg der Entwicklung zum Erwachsenen, wird aus diesen „Bewunderungen“ ein Ideal. Ideal heißt: „So würde ich gerne sein!“

Je „abgehobener“ dieses Ideal von der Wirklichkeit ist, desto schwerer habe ich es. Wenn ich erst dann mit mir zufrieden bin, wenn ich auch auf dem Wasser laufen kann, werde ich sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne „absaufen“. Die Bemerkung: „Wenn du untergehst, dann war dein Glaube halt noch nicht groß genug“, ist in diesem Zusammenhang das zynische Festhalten an einem unrealistischen Ideal.

Nun gibt es Berufe, die sich in ganz besonderem Maße dafür eignen, höchste Ideale zu realisieren. Es sind die „rettenden“ Berufe. Dies sind allesamt soziale Berufe: Ärzte, Therapeuten, Priester, Politiker – sie alle umgibt die Aura von Größe, von Macht und eben auch von Rettung. Anfällig für solche Berufe sind Menschen, die als Kinder, erlebten, dass ihr Auftrag es ist, Vater und/oder Mutter zu stabilisieren, zu stützen, ja zu retten …

Wenn ich dich nicht hätte“, hat es geheißen.

Oder: „Du bist mein Retter!“ Oder: „Du bist genial (für mich)!“

Eigene (Trieb-)Regungen wurden brutal unterbunden oder abgeschnitten oder gewaltsam „heraus geprügelt“.

Daraus erwuchs in der kindlichen Seele die Überzeugung, mein Lebenssinn, meine Existenzberechtigung besteht darin, für den Anderen da zu sein, für ihn nützlich zu sein! Etwas platt formuliert: Ich soll so sein, dass ich von meinem Vater, meiner Mutter, meinem Chef gut gebraucht werden kann. Dann bekomme ich die ersehnte Anerkennung. Das ist die Schwester des sexuellen Missbrauchs: Es ist der narzisstische Missbrauch.

Solche Kinder haben verinnerlicht, dass das ganz eigene Leben, die ganz eigene Kreativität, die ganz eigenen Gefühle unerwünscht sind. Sie sind böse. Wenn man sie fühlt, hat man den Platz in der Gemeinschaft verloren. Für den katholischen Priester geht dieses Ideal so weit, dass er auch die Kraft seiner ureigensten Lebendigkeit – seine Sexualität – dem opfern soll, was „Gott“ genannt wird. Dies ist sowohl ein Missbrauch an Gott („Ich will Eure Opfer nicht!“ heißt es bei Hosea.) als auch ein Missbrauch an dem jungen Mann, der Priester werden will. Der zur Zeit zurecht beklagte Missbrauchsvorwurf vieler katholischer Priester ist psychodynamisch nur der Ausdruck dieser Missbrauchsbeziehung. Wer seine Identität auf Missbrauch aufgebaut hat, kann nicht anders als sich selbst und ihm Anvertraute missbrauchen.

Soweit – so gut. Nur: Wenn wir unsere Geschichte nicht als Super-Helden-Geschichte lesen, was bleibt dann noch von ihr übrig?

Ergibt sie dann noch Sinn oder sollte man sie nicht – wie Vieles andere was in der Bibel steht – auf den Müll der Geschichte ablegen? Ist sie nicht genauso veraltet, wie unser ganzer Glaube, wie unser ganzes Christentum? Stehen wir nicht weiß Gott vor anderen Aufgaben: Stichwort Klimawandel, Stichwort Corona, Stichwort Ukraine.

Es kann durchaus sein, dass wir als Menschheit allesamt untergehen. Ohne dass es eine rettende Hand gibt, die uns da herauszieht.

Aber darum geht es m.E. in der Geschichte auch gar nicht. Ich lese unsere Geschichte als Veranschaulichung. Sie veranschaulicht die „Überwindung“ der Zeit. Wie damals, als sich das Schilfmeer teilte und die Israeliten trockenen Fußes ans andere Ufer kamen. Auch sie wurden nicht von der Zeit verschlungen. Aber dieses Wunder führte sie nicht in das Paradies oder Schlaraffenland, sondern – in die Wüste. Und immer wieder „murrte“ das Volk, wollte zurück zu den „alten Zeiten“, zu den „Fleischtöpfen“ Ägyptens, zu den „Brüsten der Mutter“.

Der auf dem Wasser wandelnde Jesus veranschaulicht die Möglichkeit, in der Zeit die Zeit zu „vergessen“. Die Verwirklichung dieser Möglichkeit nennen wir „in der Gegenwart sein.“ Nicht mehr – aber auch nicht weniger.

In der Gegenwart sein heißt: da sein. Mit allem, was mich ausmacht. In der Gegenwart sein heißt wahrnehmen, was gerade wahrzunehmen ist. Die Modeworte „Achtsamkeit“, „Aufmerksamkeit“ usw. sind Ausflüsse des „In-der-Gegenwart-Seins“.

Auf der einen Seite gilt: Unser Leben spielt sich in der Zeit ab. In ihr kommen wir auf die Welt, in ihr werden wir groß, in ihr machen wir unsere Erfahrungen, in ihr werden wir alt und in ihr sterben wir. Diese Zeit lässt sich als Pfeil, als gerichtete Linie visualisieren.

Auf der anderen Seite gibt es das „Verlassen“ oder „Vergessen“ dieser Zeit. Dies findet z.B. regelmäßig in Träumen statt, wo wir mühelos von Situationen sogar von Menschen träumen können, die es längst nicht mehr gibt. Das ist die vertikale Dimension des Erlebens.

Es gibt Menschen – insbesondere spirituelle Menschen -, die meinen, die „Lösung“, die „Erleuchtung“, wäre es, die Zeit zu „überwinden“. Ganz und gar gegenwärtig zu leben, „reine Präsenz“ zu erleben. Sie können sehr lange meditieren, bewusst atmen usw. Was sie aber nicht können, ist, die meditative oder kontemplative Erfahrung in ihr Alltags-Leben zu integrieren. So bleibt es bei einer „Spaltung“ oder „Aufteilung“ zwischen Alltag und Kontemplation. Aus dieser Spaltung heraus wird z.B. verständlich, dass hoch spirituelle Menschen gleichzeitig massiv abwertend, ja böse sein können. Wenn z.B. ein Bernhard von Clairvaux zum Heiligen Krieg gegen die Muslims aufruft, scheint seine spirituelle Lebenshaltung völlig verloren gegangen zu sein. Ähnliches gilt für die antisemitischen Äußerungen von Martin Luther. Und natürlich auch für die Position der Kirche – evangelisch wie katholisch – im III. Reich.

Es geht also um die gute, dem Leben dienende Verbindung zwischen dem schnöden alltäglichen Leben in der Zeit und einem spirituell-meditativen Leben „jenseits“ der Zeit.

Ich möchte dies abschließend mit einer Geschichte veranschaulichen, die ich bei A. de Mello gefunden habe:

Das Geheimnis der Zufriedenheit

Es kamen ein paar Suchende zu einem alten Zenmeister.

„Herr“, fragten sie „was tust du, um glücklich und zufrieden zu sein? Wir wären auch gerne so glücklich wie du.“

Der Alte antwortete mit mildem Lächeln: „Wenn ich liege, dann liege ich. Wenn ich aufstehe, dann stehe ich auf. Wenn ich gehe, dann gehe ich und wenn ich esse, dann esse ich.“

Die Fragenden schauten etwas betreten in die Runde. Einer platzte heraus: „Bitte, treibe keinen Spott mit uns. Was du sagst, tun wir auch. Wir schlafen, essen und gehen. Aber wir sind nicht glücklich. Was ist also dein Geheimnis?“

Es kam die gleiche Antwort: „Wenn ich liege, dann liege ich. Wenn ich aufstehe, dann stehe ich auf. Wenn ich gehe, dann gehe ist und wenn ich esse, dann esse ich.“

Die Unruhe und den Unmut der Suchenden spürend, fügte der Meister nach einer Weile hinzu: „Sicher liegt auch Ihr und Ihr geht auch und Ihr esst. Aber während Ihr liegt, denkt Ihr schon ans Aufstehen. Während Ihr aufsteht, überlegt Ihr wohin Ihr geht und während Ihr geht, fragt Ihr Euch, was Ihr essen werdet. So sind Eure Gedanken ständig woanders und nicht da, wo Ihr gerade seid. In dem Schnittpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft findet das eigentliche Leben statt. Lasst Euch auf diesen nicht messbaren Augenblick ganz ein und Ihr habt die Chance, wirklich glücklich und zufrieden zu sein.“

So einfach ist das – und zugleich so schwer!

Gott ist ein Gott der Gegenwart, sagt Meister Eckhart.

Gebe dieser Gott, dass wir mit der Fülle oder auch Leere dessen, was uns je und je umgibt, einverstanden sind. So wird Zufriedenheit und Glück von selber in unsere Seele einziehen, AMEN.

Predigt über Matthäus 14, 22 – 33 am 4. Sonntag vor der Passionszeit 2022 Weiterlesen »

Predigt über Jesaja 42, 1-9 am 1. Sonntag nach Epiphanias 2022

Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.“ (Römer 8,14)

Diese einfache und einprägsame Aussage aus dem Römerbrief – der heutige Wochenspruch – bündelt die Texte des Gottesdienstes am ersten Sonntag nach Epiphanias. Man könnte ihn auch den „Sonntag der Kinder Gottes“ nennen. Und diesen Kindern Gottes ist eben eines gemeinsam: Sie sind vom Geist Gottes Getriebene. Ihr Antrieb ist Gottes Geist. Was das heißt und wie sich das lebenspraktisch auswirkt, davon handelt ein prophetisches Wort aus dem alttestamentlichen Buch des Propheten Jesaja.

Kapitel 42

Siehe, das ist mein Knecht, den ich halte, und mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat. Ich habe ihm meinen Geist gegeben; er wird das Recht unter die Heiden bringen. Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen. Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. In Treue trägt er das Recht hinaus. Er selbst wird nicht verlöschen und nicht zerbrechen, bis er auf Erden das Recht aufrichte; und die Inseln warten auf seine Weisung.

So spricht Gott, der Herr, der die Himmel schafft und ausbreitet, der die Erde macht und ihr Gewächs, der dem Volk auf ihr den Atem gibt und Lebensodem denen, die auf ihr gehen: Ich, der Herr, habe dich gerufen in Gerechtigkeit und halte dich bei der Hand. Ich habe dich geschaffen und bestimmt zum Bund für das Volk, zum Licht der Heiden, dass du die Augen der Blinden öffnen sollst und die Gefangenen aus dem Gefängnis führen und, die da sitzen in der Finsternis, aus dem Kerker.

Ich, der Herr, das ist mein Name, ich will meine Ehre keinem andern geben noch meinen Ruhm den Götzen. Siehe, was ich früher verkündigt habe, ist gekommen. So verkündige ich auch Neues; ehe denn es sprosst, lasse ich’s euch hören.

Sie merken schon am Beginn: Hier wird etwas ganz Besonderes besser jemand ganz Besonderes vorgestellt: Siehe, das ist mein Knecht, den ich halte, und mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat.

Kind Gottes zu sein bedeutet Knecht und Auserwählter in einem zu sein. Auserwählt zu dienen.

Auf ihm liegt Gottes Geist – und aus dieser Kraft heraus wird sich seine Wirksamkeit entfalten:

Er wird das Recht bringen – zu allen Völkern der Erde. Das ist die Überschrift.

Und wie wird er das anstellen?

Durch Nicht-Tun!

Nicht durch Geschrei – „seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen“ (Vers 2).

Nicht durch Gewalt – „das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.“ (Vers 3a)

Und was wird er „tun“ – indem er nicht tut?

Er trägt das Recht in Treue hinaus.“ (Vers 3b)

Er öffnet „die Augen der Blinden“ (Vers 7a).

Er führt „die Gefangenen aus dem Gefängnis“ und „die da sitzen in der Finsternis aus dem Kerker“ (Vers 7b).

Und woher weiß der Knecht Gottes, dass dies seine Aufgabe ist?

Er wurde von Gott, dem Schöpfer des Himmels und der Erde, genau dafür „gerufen“, ja „geschaffen“ (Vers 6). Nichts anderes ist seine Existenzberechtigung, ist seine Identität.

So weit – so gut. Spüren Sie die unglaubliche Wucht dieser Sätze! Da ist ein Prophet seiner Sache, seiner Verkündigung sehr sicher. Er spricht in prophetischer Vollmacht. Er spricht als einer, der Gott, den Allmächtigen, im Rücken hat: „Ich der Herr habe dich gerufen in Gerechtigkeit und halte dich bei der Hand.“ Er wurde der „Zweite Jesaja“ (Deuterojesaja) genannt, der das Volk Israel aufrütteln, ihm Mut einhauchen möchte gleich dem Gott, der den Menschen seinen Lebens-Atem in die Nase bläst.

Wer so viel Mut benötigt, der liegt wohl ziemlich am Boden. Der fühlt sich wie ein „glimmender Docht“, wie ein „geknicktes Rohr“. Und so ist es wirklich. Deuterojesaja spricht zu Gefangenen, zu Deportierten. Es ist die babylonische Gefangenschaft, in der sich das Volk Israel, in der sich „Gottes eigenes Volk“ befindet. Von daher ist zunächst einmal der Zuspruch des Propheten als Zuspruch für Israel zu lesen. Dies anzuerkennen und nicht vorschnell seine Worte auf unseren „Herrn Jesus Christus“ hin zu deuten, tut uns Christen sehr gut. Und wenn wir sie dann in den weihnachtlichen Kontext der Geburt Jesu Christi stellen, so bitte nicht in der selbstgerecht-überheblichen Weise einer „Judenmissionierung“ nach der Art: „Ihr ward ja zu dämlich dafür, euren eigenen Messias zu erkennen!“ Es ist zu bekennen: Das Christentum ist als Bemächtigungs-Religion groß und erfolgreich geworden. „In diesem Zeichen wirst du siegen!“ Auch wenn es sich so wohl historisch nicht zugetragen hat – so wurde doch im Zuge des Sieges von Kaiser Konstantin das Christentum zur Staatsreligion. Tragische Ironie: Gottes Knecht ist genau kein Bemächtiger! Ganz im Gegenteil: „Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.“ Gottes Knecht ist ein Beschützer und Bewahrer!

Dieses beschützende und bewahrende Nicht-Tun ist Kennzeichen derer, die wirklich vom Geist Gottes getrieben sind. Sie haben nämlich verinnerlicht: Wirkliche Veränderung geschieht im Stillen, geschieht gewaltlos! Und: wirkliche Veränderung lässt sich nicht machen. Um dies auszuhalten bedarf es Fähigkeiten, die allesamt mit Bescheidenheit zu tun haben: „In Treue trägt er das Recht hinaus“ (Vers 3b). Er macht kein großes Geschrei, nicht mit Pauken und Trompeten verkündet er das Recht. Er „richtet (es) auf!“ (Vers 4a) Aufrechter Gang, diese spezifisch menschliche Fähigkeit, hat mit „aufrichtig“ zu tun. Aufrechten Hauptes den eigenen Lebensweg gehen: Das ist die Bestimmung des Gottesknechtes, das ist die Bestimmung derer, die sich vom Geist Gottes treiben lassen. Gemeint ist dies durchaus auch im moralischen Sinne. Aber die Quelle dessen, aus der heraus wir als Kinder Gottes leben, sprudelt jenseits der moralischen Aufteilung in gut und böse.

Ich bin der Herr dein Gott, der dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt hat …“ (2. Mose 20, 2) – das ist die Überschrift über alle Moral. Moral ist sekundär; sie ist abzuleiten aus der Beziehung zu jenem befreienden Gott, dessen Repräsentanten, dessen Gesandter und dessen Knecht uns heute vorgestellt wird. In der sicheren Vertrauens-Beziehung zu jenem befreienden Gott hat alles Sollen ein Ende. Für uns, die wir zum Gottes-Kind-Sein befreit sind, ist alles Sollen belanglos. Wir werden nicht mehr töten, nicht mehr stehlen, nicht mehr huren usw. Nicht, weil uns jemand vorschreibt, dass wir das alles nicht tun sollen. Eher schon so, dass wir es aus uns selbst heraus nicht mehr tun wollen. Mehr noch: Wer vom Geist Gottes getrieben ist, der kann nicht mehr anders. Das ist das Verrückte! Es ist verrückt, weil das Kind Gottes ver-rückt geworden ist: Es wurde hinein gerückt in die Beziehung zu einem barmherzigen, liebevollen Gott. Hesekiel hat das in seinen Worten so ausgedrückt: „Ich will ihnen ein anderes Herz geben und einen neuen Geist in sie geben und will das steinerne Herz wegnehmen aus ihrem Leibe und ihnen ein fleischernes Herz geben.“ (Hesekiel 11, 19) Wer sich traut, sich ein „fleischernes Herz“, das zu Einfühlung fähig ist, schenken zu lassen, der kann gar nicht anders, als aus einem neuen Geist heraus zu leben. Es ist der Geist der Liebe: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.“ (Galater 2, 20a) Wer den Mut zu dieser „Herz- und Geist-Transplantation“ aufbringt, ließ sich von Gott fangen und vernichten – und gerade so zu Gott hin befreien. Oder in den Worten des islamischen Mystikers Rumi:

Die Liebe ist wie ein Hund. Sie packt uns alle beim Genick und schleppt uns Zappelnde zu Gott.“

Und es ist unsere Angst verbündet mit unserem Hass, die uns dazu treiben, vor diesem Hund zu fliehen!

So entsteht die entscheidende Frage:

Wie geschieht echte Verwandlung? Wie wird aus einem „Kind der Angst“ ein „Kind Gottes“?

Wie geht das: Die Augen der Blinden öffnen, die Gefangenen aus dem Kerker zu führen?

Noch einmal: Ganz sicher nicht durch Gewalt. Mit Gewalt, im Zwang, Elemente, die leider oft zur Missionierung (und Erziehung) gehörten, geschieht keine wirkliche Veränderung. Es bedarf einer radikalen Freiwilligkeit. Aber woher den „freien Willen“ nehmen, solange er gefesselt im Kerker der Angst liegt?

Ausgangspunkt ist nicht, was sein sollte, oder – schlimmer noch – wie der Andere sein sollte. Ausgangspunkt ist das, was ist. Das, was ist, aber ist die Wirklichkeit: die eigene, wie die des Anderen. Dies gilt in gleichem Maße in der Seelsorge wie in der Psychotherapie. Die große Verführung für Seelsorger/Therapeuten/Pfarrer ist, aus Harmoniesehnsucht und Konfliktscheu mit den Selbsttäuschungen des Patienten/der Gemeinde eine Komplizenschaft zu bilden. Oder anders ausgedrückt: Anstatt das Erleben von Enge und Gefangenschaft ernst zu nehmen, wird gemeinsam so getan, als säße man auf einer lichtdurchfluteten grünen Wiese. Erst wenn ich anerkennen kann, dass ich im Gefängnis sitze und darunter leide, entsteht in mir eine Sehnsucht nach Freiheit. Für diese Anerkenntnis aber bedarf ich eines Begleiters, der den Weg aus seinem eigenen Gefängnis heraus gefunden hat. Sitzt er selbst in seinem eigenen Gefängnis, entsteht eine Compliance der Gefangenen – aber keine Entwicklung zur Freiheit hin. Einfacher ausgedrückt: Gefangene reden über Freiheit – anstatt darum zu kämpfen, frei zu werden!

Der Weg in die Freiheit führt Schritt für Schritt hinein in die Unsicherheit. Dies macht diesen Weg so steinig. Gefängnisse sind nämlich die sichersten Orte auf dieser Welt! Ist die Angst vor Unsicherheit zu groß, ist der Hass auf Freiheit zu groß, dann kann auch Rumis Hund der Liebe nichts ausrichten. Er kann nur diejenigen am Genick packen, die bereit sind, sich auch packen zu lassen. Und das geht nicht ohne Leiden daran, wie es ist. Es ist der berühmte „Leidensdruck“, der möglicherweise zu Veränderungen führt. Damit hängt zusammen, dass wirksame Seelsorge/Therapie schmerzhaft ist und schmerzhaft sein muss. Die Taufe, bei der in der Alten Kirche der Täufling unter Wasser gedrückt worden ist, damit er Todesangst verspürt, symbolisiert wirkliche Veränderung. Es ist das Ahnen, dass das Erhalten eines „Neuen Herzens“ und eines „Neuen Geistes“ nur über den Weg des Ertragens von und irgendwie Zurecht-Kommens mit Todesangst führt. Das ist der Preis für wirkliche Veränderung.

Und das ist die Schwäche allen Predigens: Es ist notgedrungen ein „Reden über“!

Die entscheidende Frage lautet: Wie kann ein „Reden über“, das der Verstand versteht, so zu Herzen gehen, dass ein neues, ein „fleischernes Herz“ wachsen kann?

Antwort: Überhaupt nicht.

Rabbi Dow Ber, der Maggid von Mesritsch sagte einmal: „Kein Ding der Welt vermag aus einer Wirklichkeit in eine andere zu kommen, wenn es nicht vorher zum Nichts, das ist zur Wirklichkeit des Dazwischen kam. Da ist es Nichts, und niemand kann es begreifen; denn es ist zur Stufe des Nichts gelangt, wie vor der Schöpfung. Und da wird es zu einem neuen Geschöpf erschaffen, vom Ei zum Küchlein. In dem Augenblick, nachdem die Vernichtung des Eis vollendet ist, und ehe das Werden des Küchleins begonnen hat, ist das Nichts.“ (M. Buber, Die Erzählungen der Chassidim, Zürich 1949, S. 200)

Das Frühere, siehe es ist eingetroffen und Neues verkündige ich. Bevor es sprosst, lasse ich es euch hören.“ Die Rede des Propheten als Gottesrede (Vers 8: „Ich bin Jahwe, das ist mein Name…“) macht deutlich: Diese Rede ist weder den Sinnen noch dem Verstand zugänglich. Es geht um ein radikales Sich-Einlassen in Blindheit, das der Heilige Johannes vom Kreuz als „dunkle Nacht“ bezeichnet. Ein Sich-Einlassen, gegen das sich unsere sinnliche Erfahrung und unser Verstand mit aller Macht sträuben. „Bevor das Neue sprosst …“ – es gibt nichts zu sehen, nichts zu denken. Das Erleben von „bevor es sprosst“ ist das Erleben einer Leere, die Hass und Angst umgibt: Es ist das Entsetzen im Angesicht des Nichts, der „horror vacui“! Der wirkliche und wirksame Gott, der Ich- bin-da-Gott – er ist nicht bei den Götterbildern der Babylonier (Vers 8b) zu finden. Genauso wenig, wie er in dieser Predigt zu finden ist. Er ist nirgends auffindbar. Und gerade so wirkt er: Als „Stimme verschwebenden Schweigens“ (1. Könige 19,12b). Oder als Klang vor allem Werden, allem Sprießen. In der Kabbala ist es der Klang von Aleph, dem unhörbar ersten Buchstaben des hebräischen Alphabetes. Aus diesem Nichts heraus werden Gottes Kinder – getrieben von jenem Geist, der „über dem Wasser schwebte.“ (1. Mose 1, 2b)

Gebe Gott, dass wir den Mut finden, die Klänge der geisterfüllten Stille in dunkler Nacht zu hören, in uns aufzunehmen und nach ihnen uns formen zu lassen, AMEN.

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Predigt über 2. Korinther 5, 1-10 am vorletzten Sonntag des Kirchenjahres 2021

Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen!“ Sie kennen dieses geflügelte Wort aus Aschenputtel: Mit Hilfe der Tauben gelingt es Aschenputtel, die quälend-sadistische Aufgabe ihrer Stiefmutter zu lösen. Diese hatte Linsen in die Asche geworfen und Aschenputtel sollte sie heraus holen und dabei die guten Linsen von den schlechten unterscheiden. Um etwas auszulesen, muss es vorher unterschieden sein: Eben die schlechten Linsen werden von den guten Linsen unterschieden. Wir könnten hier auch „Auslesen“ vornehmen: Alle, die an einem Tag, mit einer ungeraden Zahl Geburtstag haben. Oder alle, die im November Geburtstag haben usw.

Es gibt also eine „Ordnung“, nach der die Auslese vorgenommen wird. Eine Unterscheidungs-Ordnung. Eine Diskriminierung. Diskriminierung heißt – neutral, ohne emotionalem Beigeschmack – nur „Unterscheidung“. Unterscheidungen sind nötig, um irgend etwas erkennen zu können. Ohne Diskriminierungen sind wir im Nebel des Gleich-Gültigen: und wenn alles gleich-gültig ist, dann ist es beliebig. „Das ist mir gleichgültig“ heißt: Ich habe keine eigene Meinung, keine Position dazu. Erst wenn mir etwas nicht gleich gültig ist, entsteht meine eigene Haltung, die sich von der Anderer unterscheidet.

Dies alles ist solange einfach, solange nicht unsere Emotionen dazu kommen. Und die kommen notwendig dazu, wenn es um Unterscheidungen im Bereich der Moral, der Lebensführung geht. Da gibt es nämlich dann die Guten und die Bösen, die „Gesegneten“ und die „Verfluchten“, die „Böcke“ und die „Schafe“, die Umweltbewussten und die Umweltsünder usw. Und – spannend – sogar Orientierungsangaben können für moralische Kategorien verwendet werden: Rechts ist „recht“, also gut, links ist „link“, also nicht gut.

(Kleiner biographischer Einschub: Gib deine „schöne Hand“ – sagte mir meine Mutter als Kind. Die schöne Hand war natürlich die rechte Hand. Tragische Ironie: Meine Mutter ist Linkshänderin gewesen!)

Gleichzeitig einen klaren und präzisen Standpunkt einzunehmen und offen zu bleiben für seine Relativität: Diese Kunst bildet das Fundament demokratischen Denkens und Handelns.

Der Wochenspruch für die vor uns liegende Woche ist ein Wegweiser für diese Art zu denken: „Wir müssen all offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi“ 1. Korinther 5, 10a) heißt es da.

Wer seine eigenen Unterscheidungen, seine eigene Matrix von gut und böse, von falschem und richtigem Leben, absolut setzt, der hält nicht aus, dass in dieser Welt der Richterstuhl Christi, oder Allahs, oder Jahwes unbesetzt, also leer bleibt.

Stattdessen setzt er sich selbst auf diesen Stuhl. Die dazugehörige Haltung ist eine selbstgerechte und überhebliche. Einfühlung, Mitgefühl und Verständnis für anders Denkende ist auf diesem Wege verloren gegangen. An ihre Stelle ist Macht und die Durchsetzung von Macht getreten. In der Erziehung nennt man das „Schwarze Pädagogik.“ Sie ist nicht an Wachstum und Veränderung interessiert, sondern an Unterwerfung und Gehorsam. Auf dem Richterstuhl sitzt ein sadistisch-grausamer Richter.

Ich vermute, dass Paulus – trotz und mit all seinen Versuchen über die Liebe – einen grausamen und hasserfüllten Richter verinnerlicht hatte. Der nicht bereit war, sich an die Natürlichkeit, den organischen Verlauf von Leben anzupassen. Der Tod ist für Paulus sein Tod-Feind. Und er tut alles dafür, diesem seine Macht zu nehmen. Dies macht er im Namen seines Christus – seines Helden. (So bleibt er in der Tiefe dualistischem Denken verhaftet!)

In unserem heutigen Predigttext (2. Korinther 5, 1-10) wird dies gleich am Anfang deutlich.

Wenn das irdische Zelt, in dem wir jetzt leben, nämlich unser Körper, abgebrochen wird, hat Gott eine andere Behausung für uns bereit: ein Haus im Himmel, das nicht von Menschen gebaut ist und das in Ewigkeit bestehen bleibt.“ (Vers 1)

Paulus kann offenbar nicht denken, dass mit seinem Tod sein individuelles Leben zu einem hoffentlich guten Ende gekommen ist. Er kann den Tod nur als „Durchgang“ denken. Und das hört sich dann so an:

„Weil wir das wissen, (dass uns ein Haus im Himmel erwartet), stöhnen wir und sehnen uns danach, mit dieser himmlischen Behausung umkleidet zu werden; denn wir wollen ja nicht nackt dastehen, wenn wir den irdischen Körper ablegen müssen. Ja, wir sind bedrückt und stöhnen, solange wir noch in diesem Körper leben; wir wollen aber nicht von unserem sterblichen Körper befreit werden, sondern in den unvergänglichen Körper hineinschlüpfen. Was an uns vergänglich ist, soll vom Leben verschlungen werden. Wir werden auch an dieses Ziel gelangen, denn Gott selbst hat in uns die Voraussetzung dafür geschaffen: Er hat uns ja schon als Anzahlung auf das ewige Leben seinen Geist gegeben.“ (Verse 2-5)

Was Paulus hier schreibt, kann ich zunächst einmal sehr gut nachvollziehen: Eine tiefe Sehnsucht nach einer Behausung, die ich nicht mehr verlassen muss. Quasi eine letzte Häutung – und dann ist es gut. Ein letztes tiefes Ausatmen. Ein endlich, endlich Zuhause-Ankommen. Eine Heimat. Ich vermute, nicht wenige unter uns kennen diese Sehnsucht auch. Diese Sehnsucht ist besonders stark bei Menschen ausgeprägt, deren Grundgefühl ist, etwas verloren oder gar nicht erst bekommen zu haben. Es ist ein Gefühl, dass irgendwas nicht stimmt. Sie fühlen sich in der Tiefe nicht wirklich zugehörig, nicht wirklich da. Und so baut sich die Sehnsucht nach einem Ort auf, wo alles richtig ist und vor allem: Wo sie selbst richtig und erwünscht sind. Und weil diese Sehnsucht so heftig ist, erscheint es als unerträglich, dass es keinen „unvergänglichen Ort“ auf dieser Welt gibt. Daraus entsteht der Wunschtraum des Paulus von einer himmlischen Behausung, einem unvergänglichen Körper:

„Wir wollen aber nicht von unserem sterblichen Körper befreit werden, sondern in den unvergänglichen Körper hineinschlüpfen.“ Es soll keine Trennung geben, stattdessen einen direkten Übergang von diesen vergänglichen in jenen unvergänglichen Körper.

Der Nachteil dieses Denkens: Alles was ich habe und bin bleibt irgendwie vorläufig. Je mehr Energie in dieser Sehnsucht steckt, desto weniger Energie bleibt für mein Leben in der Gegenwart. (Dieses Geschehen ist im übrigen ein wesentlicher Baustoff für Depressionen. Franz Schuberts Liederzyklus: Die Winterreise hat sehr berührend diese Sehnsucht komponiert: „Fremd bin ich eingezogen – fremd zieht ich wieder aus …“)

Aber zurück: Je mehr ich in die Sehnsucht auf Künftiges investiere, desto weniger Kapital steht mir für die Gegenwart zur Verfügung. Die Gegenwart wird zu einer „Anzahlung auf das ewige Leben“, wie Paulus schreibt. Er verbindet das mit dem „Geist“. Der Geist ist auch und gerade für den Juden Paulus zunächst einmal unser Atem, die Ruach. Wenn und indem ich mich meinem Atem überlasse, kann ich spüren, wie „es“ in mir atmet. Weder atme ich – noch werde ich beatmet. Genau dazwischen geschieht dieses „ES“, das da atmet. Und je stärker und je tiefer ich mich damit verbinde und verbünde, desto näher komme ich dem ewigen Leben. Ewiges Leben heißt für mich, das Leben oder die Lebendigkeit schlechthin, die es seit Milliarden von Jahren auf diesem Planeten Erde gibt. Und welch ein Glück, welch ein Geschenke, dass ich im Rahmen meiner individuellen Lebensspanne daran Anteil haben darf. Ich weiß schon: Wer so denkt, dem bleibt nichts anderes übrig, als den Schmerz der Vergänglichkeit irgendwie zu ertragen. Nur und auf der anderen Seite: Damit hat das Warten auf eine bessere Zukunft ein Ende, und ich bin frei für meine Gegenwart geworden. Und damit wird auch der Teil meiner Lebensenergie frei, der im Warten gebunden gewesen ist.

Oder dasselbe nochmal in einem Bild: Wenn das ewige Leben das Meer ist, so ist jeder von uns ein Wassertropfen in diesem Meer. Nicht mehr aber auch nicht weniger.

Und Leben heißt, an diesem Geschehen teilhaben zu dürfen. Das wird zur Quelle der Freude – unter der Voraussetzung, dass ich mein eigenes Werden und Vergehen und mein gerade so und nicht anders Geworden-Sein bejahen kann. Das ist die eigentliche Herausforderung: Ja zu sagen zu dem, der ich bin.

Eine winziger Wassertropfen im Ozean unendlichen Seins.

Paulus formuliert das so:

„Deshalb bin ich in jeder Lage zuversichtlich. Ich weiß zwar: Solange ich in diesem Körper lebe, bin ich vom Herrn getrennt. Wir leben ja noch in der Zeit des Glaubens, noch nicht in der Zeit des Schauens.

Ich bin aber voller Zuversicht und würde am liebsten sogleich von meinem Körper getrennt und beim Herrn zu Hause sein.

Weil ich mich danach sehne, setze ich aber auch alles daran, zu tun, was ihm gefällt, ob ich nun in diesem Körper lebe oder zu Hause bin beim Herrn. Denn wir alle müssen vor Christus erscheinen, wenn er Gericht hält. Dann wird jeder Mensch bekommen, was er verdient, je nachdem, ob er in seinem irdischen Leben Gutes getan hat oder Schlechtes.“

Ich stimme diesen Gedanken inhaltlich sehr zu. Nur verlege ich sie nicht in eine ferne Zukunft, in ein „danach“, sondern in die Gegenwart. „Die wichtigste Zeit ist der Augenblick“, sagt Meister Eckhart.

Der Augenblick selbst ist ewig! Niemand kann sagen, wann er beginnt und wann er wieder aufhört. Das einzige, was möglich ist, ist, mich dem, was gerade ist mit allem, was ich habe, hinzugeben. Damit relativiert sich mein Leid, das aus meiner Vergangenheit stammt und das mich aus der Gegenwart wegzieht.

Je tiefer ich im Augenblick bin, desto tiefer bin ich da. Einfach so. Mit allem, was mich gerade ausmacht. Das kann Freude sein, das kann Trauer sein, das kann Angst sein, das kann Wut sein. Das kann Trostlosigkeit sein und Verzweiflung.

Im Augenblick ist alles so, wie es gerade ist.

So gesehen hat der Augenblick etwas unendlich Reines, ist er doch befreit von den Wünschen an die Zukunft und dem Hadern über die Vergangenheit.

Im „Augenblick“ gibt es auch keine Diskriminierungen mehr. Die Stimme des Augenblickes ist ein tiefes Einverstanden-Sein: „Es ist, was es ist.“

Es ist auch ein Verstanden-Sein mit den eigenen unvermeidlichen Spaltungen, die zu unserem menschlichen Denken hinzugehören.

Dazu möchte ich Ihnen abschließend eine Geschichte erzählen, die ich bei Anthony de Mello gefunden habe. Sie lautet:

Ein Schäfer weidete seine Schafe, als ihn ein Spaziergänger ansprach. „Sie haben aber eine schöne Schafherde. Darf ich Sie in Bezug auf die Schafe etwas fragen?“ – „Natürlich“, sagte der Schäfer. Sagte der Mann: „Wie weit laufen Ihre Schafe ungefähr am Tag?“ – „Welche, die weißen oder die schwarzen?“ „Die weißen.“ – „Die weißen laufen ungefähr vier Meilen täglich.“ – „Und die schwarzen?“ „Die schwarzen genauso viel.“ „Und wie viel Gras fressen sie täglich?“ – „Welche, die weißen oder die schwarzen?“ – „Die weißen.“ – „Die weißen fressen ungefähr vier Pfund Gras täglich.“ – „Und die schwarzen?“ – „Die schwarzen auch.“ „Und wie viel Wolle geben sie ungefähr jedes Jahr?“ – „Welche, die weißen oder die schwarzen?“ – „Die weißen.“ – „Nun ja, ich würde sagen, die weißen geben jedes Jahr ungefähr sechs Pfund Wolle zur Schurzeit.“ – „Und die schwarzen?“ – „Die schwarzen geben genauso viel.“

Der Spaziergänger war erstaunt.

„Darf ich Sie fragen, warum Sie die eigenartige Gewohnheit haben, Ihre Schafe bei jeder Frage in schwarze und weiße aufzuteilen?“

„Das ist doch ganz natürlich“, erwiderte der Schäfer, „die weißen gehören mir, müssen Sie wissen!“ – „Ach so! Und die schwarzen?“ – „Die schwarzen auch“, sagte der Schäfer.

Lieber Gott, schenke uns die befreiende Einsicht in die Dummheit unserer menschlichen Kategorien. Und verleihe uns die Kraft, uns nicht von ihnen, sondern von der unmittelbaren Schönheit des Augenblicks leiten zu lassen, AMEN.

Predigt über 2. Korinther 5, 1-10 am vorletzten Sonntag des Kirchenjahres 2021 Weiterlesen »

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