Predigt über die Geburt von Johannes dem Täufer

Predigt über Lukas 1, 57 – 80 am 4. Sonntag nach Trinitatis (27. 6. 2021)

Liebe Gemeinde,

die Geburt Johannes des Täufers ist eine merkwürdige Geschichte. Der ersehnte Nachkomme des in die Jahre gekommenen Ehepaars Elisabeth und Zacharias – beide Nachfahren priesterlichen Geschlechts – will sich nicht einstellen. Sie sind ein hoch religiöses Paar, Zacharias ist Priester „von der Ordnung Abija“, gehört also zu den Leviten, Elisabeths Stammbaum geht direkt zurück auf den durch Moses von Gott selbst eingesetzten Hohepriester Aaron. Und so leben sie „beide gerecht und fromm vor Gott … in allen Geboten und Satzungen des Herrn untadelig.“ (Vers 6b). Und doch wird ihre Beziehung nicht fruchtbar. Um ein Kind zu bekommen, bedarf es der Bereitschaft zu „Unordnung“. Zu viel Kontrolle in Verbindung mit krampfhaft-nötigendem Bemühen („Es muss klappen!“) verhindert liebevolle Hingabe an das, „wie es gerade geschieht“. Hinzu kommen die besonderen Schwierigkeiten, wenn ein Kind in ein vorhandenes „(Familien-)System“ hinein geboren werden soll. Der ersehnte Thronnachfolger, der ersehnte Nachfolger des Firmeninhabers, oder eben der ersehnte Nachfolger in der Dynastie des Priestergeschlechtes zu werden, ist eine besondere Bürde für Eltern wie Kind. Die Gefahr ist groß, dass es von vorne herein wenig um das Kind als solches in seinem Neu- und Eigen-Sein geht, sondern darum, einer Rolle, einer Erwartung für Andere (die Eltern, Großeltern, Verwandtschaft, das Volk …) gerecht zu werden. Anders ausgedrückt: Das Kind ist bereits vor seiner Zeugung gefährdet, ein Mittel für die Befriedigung von Erwartungen zu sein. Sensible Frauen, die dies in ihrem Unbewussten spüren, die vielleicht selbst als Kinder in der gesunden Entwicklung ihres Selbstwertes durch an sie gestellte Erwartungen beeinträchtigt worden sind, reagieren darauf mit psychischer – nicht physiologischer – Unfruchtbarkeit und schützen so sich und ihr potentielles Kind davor, wiederum nur „Mittel zum Zweck“ zu werden.

In Klammern: Die Gedanken können dazu anregen, einmal der Frage nach zu gehen: Welche Bedeutung hatte ich eigentlich für meine Eltern? Was wollten sie von mir?

Was sollte ich in ihren Augen werden?

Und was sollte ich nicht werden?

Zacharias und Elisabeth scheinen sich einerseits damit abgefunden zu haben, dass ihnen kein Kind und Nachfolger beschieden ist; sie sind aus dem Alter raus, in dem man Kinder kriegt, ähnlich Abraham und Sara (Genesis 18). Andererseits haben sie wohl doch – wider alle Vernunft – um das Geschenk eines Kindes gebetet. Die Erfüllung ihres Wunsches, die Erhörung ihres Gebetes, geht mit „Bestürzung und Erschrecken“ (Vers 12) einher. Dies ist ein merkwürdiges, gar nicht seltenes Phänomen, dass die Nicht-Erfüllung gerade von Herzens-Wünschen beruhigend wirkt.

S. Freud hat dies auf dem Hintergrund einer anderen, freilich tragisch endenden Vater-Sohn-Geschichte, der von König Laios und seinem Sohn Ödipus, damit erklärt, dass der Wunsch des Kindes nach der Vereinigung mit einem Elternteil in der Fantasie-Welt des Kindes sich abspielt und nötig ist für gesundes seelisches Wachstum. Zur seelischen Katastrophe (Trauma) kommt es, wenn der kindliche Wunsch durch narzisstischen oder gar sexuellen Missbrauch durch eine Autoritätsperson „in Erfüllung“ geht, also Realität wird. Die Katastrophe besteht im Verschwinden (in der Ödipusgeschichte der Tötung) des „anderen“ Elternteils. Das seelische Erleben (des Kindes) ist nicht länger aufgespannt in der Raum gebenden und schützenden Dreiheit von Vater-Mutter-Kind. In der Geschichte des Christentums gibt es viele schlimme Beispiele dafür, dass die Erfüllung des Wunsches nach der „Vereinigung“ mit Gott zur Kehrseite die Liquidierung des Anderen, des Fremden hatte. Es ist ebenfalls ein verbreitetes menschliches Phänomen, dass in der liebevollen Hinwendung zu dem „Einen“ die hässliche – im Sinne von hasserfüllt – Abwendung von dem „Anderen“ geschieht. Unser menschlicher Verstand neigt dazu, „Unterscheidung“ mit „Aus-Scheidung“ und nicht mit „Hinein-Nahme“ im Sinne von Integration zu verbinden. (Aus-Scheidung: lateinisch Exkommunikation!)

Diese Art des Verstandes-Denkens wird radikal in Frage gestellt, wenn wahrhaftig Gott selbst ins Denken einfällt. Dazu gehören Gefühle von „Angst und Schrecken“. Zacharias hat die Kraft, diese zu ertragen. So kann er da bleiben und hören, was zu hören ist. Allerdings so, dass er verstummt. Die ihm vertrauten, Sicherheit gebenden Möglichkeiten seines Erkennens – „Woran soll ich das erkennen?“ (Vers 18a) – sind am Ende. Der ihm vertraute Verstand verstummt. Das Neue beginnt mit dem neuen Namen.

Natürlich – so ist es gute Tradition – erhält der männliche Erstgeborene den Namen seines Vaters. Gabriel, traditionell der Überbringer göttlicher Visionen, durchbricht dies: „Du sollst ihm den Namen Johannes geben“ (Vers 13b). Johannes heißt: „Gott ist gnädig, barmherzig“. Es geht um die liebevolle Zuwendung Gottes zu seinen Geschöpfen! Weshalb aber ist diese mit „Angst und Schrecken“ verbunden? Liebe ist viel schwerer auszuhalten als Hass. Zuwendung ist viel gefährlicher als Abwendung. Ja zu sagen ist um so viel schwieriger als Nein zu sagen. Dies hat wohl damit zu tun, dass ich im Nein meine vermeintliche Sicherheit behalte, während ich mich im hingebungsvollen echten „Ja“ ausliefere. Je jünger Kinder sind, desto verletzlicher, desto ausgelieferter sind sie an ihre Umwelt – ganz einfach deshalb, weil sie noch nicht selbst für ihr Überleben sorgen können. Waren die Erfahrungen aus dieser frühen Zeit schmerzhaft oder gar demütigend, wird den Erwachsenen ein harter Panzer des Schutzes umgeben. Was sich in Beziehung als kalt, abweisend oder bemächtigend anfühlt, ist Ausdruck jenes Schutzraumes, der einst das Überleben sichern sollte. Sein Aufgeben ist lebensgefährlich, weckt die alten Todesängste.

Sich (auf Gott) einlassen bedeutet, diesen Schutzraum zu verlassen. „Adam, wo bist du?“ ist die erste Frage, die Gott an Adam, den Menschen schlechthin, richtet. Der Mensch, wir Menschen neigen dazu, uns zu verstecken und reagieren auf den Anruf Gottes mit „Angst und Schrecken“. Unser Vertrauen auf einen gnädigen und barmherzigen Gott ist brüchig: Allzu oft haben wir erfahren, wenn wir unser Versteck verlassen, stoßen wir auf kein Verständnis, stattdessen werden wir abgelehnt und bestraft. In dieser moralischen Verdrehung wird die „Vertreibung aus dem Paradies“ als Strafe Gottes verstanden, ebenso wie das Verstummen des Zacharias als Strafe missverstanden wird: „Weil du meinen Worten nicht geglaubt hast.“ (Vers 20b)

Durch die chronische Verwendung von Religion für moralische Ge- und Verbote hat sie ihr Ansehen verloren, gilt sie bei ihren Gegnern als reaktionär und entwicklungsfeindlich. Der Weg Adams ist in Wahrheit einfach der Weg des sich entwickelnden Menschen, der notwendig heraus führt aus der kindlichen Sehnsucht nach dem Paradies. Der Weg wahrhaftigen Erlebens Gottes, wie es Zacharias widerfuhr, führt in die Stille, in das Schweigen hinein. Dies hat nichts mit Strafe zu tun. Dabei ist zu ertragen, dass die „Gesellschaft“ sich wundert. Zweimal heißt es in unserem Text: „… und sie wunderten sich.“ Einmal, als Zacharias „so lange im Tempel bleibt“ (Vers 21a), das andere Mal, als deutlich wird, dass Elisabeth und der stumme Zacharias darin übereinstimmen, ihren neugeborenen Sohn – entgegen aller Tradition – nicht nach dem Namen des Vaters sondern Johannes zu nennen (Vers 63b).

Sich wundern“, thaumazo, drückt ein Kontinuum aus, das auf der einen Seite in Richtung Bewunderung, auf der anderen Seite in Richtung Ablehnung geht: „Ich bin schon sehr verwundert …!“ Die Befreiung religiösen Denkens aus dem Korsett der Moral führt in das Erleben eines existentiellen Alleinseins, das allen Mystikern und Mystikerinnen bekannt ist – auf das die „Außen-Stehenden“ (die religiösen Institutionen) mit idealisierender Bewunderung (Heiligsprechung) einerseits, mörderischer Verwunderung (Scheiterhaufen) andererseits reagierten. Dem entspricht das Schicksal des Johannes, das sein Vater etwas einseitig vorhersagt: „Und du, Kindlein, wirst ein Prophet des Höchsten heißen Denn du wirst vor dem Angesicht des Herrn hergehen, seine Wege zu bereiten, um seinem Volk Erkenntnis des Heils zu geben in der Vergebung ihrer Sünden, durch die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes…“ (Vers 76ff.). Was Zacharias weglässt, das ist die dunkle Seite des prophetischen Lebens seines Sohnes: Sein Allein-sein in der Wüste, seine Gefangenschaft und schließlich seine Enthauptung durch König Herodes, um eine Laune seiner Tochter zu befriedigen.

Echte Propheten sind keine Schön-Wetter-Propheten. Sie stellen eine reale Gefahr für die Institution (das „Establishment“) dar, da sie die mühsam gewonnene und geronnene Struktur, innerhalb derer die Institution „funktioniert“, bedrohen. Ihre Kraft und ihren Mut beziehen diese Menschen allesamt aus der Tiefe ihrer Gottesbeziehung. Diese entsteht – auch darin besteht prophetische Einigkeit – durch ein Sich-leer-Machen. Neun Monate hatte Zacharias geschwiegen. So wurde sein Denken von den ihm bekannten und vertrauten Gedanken entleert. Der Ort der Leere aber ist die Wüste: Er wird zur Heimat seines Sohnes werden. Zacharias hat im Schweigen seine „innere Einöde“ aufgesucht. Und als das „Neue Leben“ in Gestalt seines Sohnes Johannes, in Gestalt des Erlebens: „Gott ist barmherzig!“ auf die Welt gekommen ist, bekam Zacharias eine neue Fülle geschenkt, entstanden und gewachsen in eben dieser Leere: „Und Zacharias, sein Vater, wurde mit Heiligem Geist erfüllt und weissagte“ (Vers 67).

Im berühmten „Benediktus“ (Verse 68 – 79) bereitet sich der Heilige Geist selbst den Weg. Er spricht aus Zacharias heraus. Sein Sohn Johannes wird genau dieses Geschehen in den Mittelpunkt seiner Predigt stellen: „Bereitet den Weg des Herrn, macht seine Pfade gerade!“ (Lk. 3,4b). Beide, Vater wie Sohn, stehen mit dieser Botschaft unmittelbar in der Tradition prophetischer Heils-Verkündigung. Der Weg dorthin führt notwendig in die Wüste, dem Ort des Nicht, hinein. Der Weg der Erlösung ist ein Weg des Verzichts und der Entbehrung. Nicht so, dass der Verzicht als solcher einen Wert hätte. Das wäre der Missbrauch von Askese für vertrautes um sich selber kreisendes Erleben. Es geht um freiwilliges Sich-arm-Machen für einen ganz anderen Reichtum, der nicht „von dieser Welt“ ist. „Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat besucht und erlöst sein Volk …“ (Vers 68). Das griechische Verb für „besuchen“ (episkeptomai) bedeutet wörtlich: „ansehen“ im Sinne von „auf etwas oder jemanden schauen, etwas oder jemandem Mitleid, Wohlwollen oder Beachtung schenken.“ (Elberfelder Bibel) Nur nebenbei: Es ist auch der Stamm für das Wort „Bischof“!

Den Anderen „ansehen“ bedeutet, den Anderen als fremden Nächsten „ansehen“ und sein Eigen-Sein und seine Eigen-Art zu „respektieren“. In der einseitigen Verwendung des Anderen für das eigene Begehren und die eigenen Begehrlichkeiten wird das Anderssein des Anderen gerade nicht gesehen. Er wird ignoriert. Den Anderen als Anderen sehen und kennen lernen bedeutet aber, von sich selber absehen zu können. Da dies mit Gefühlen der Selbst-Aufgabe verknüpft ist, löst das Beschreiten dieses Weges (alte) Vernichtungsängste aus. Allein das tiefe Vertrauen in die „herzliche(n) Barmherzigkeit unseres Gottes“ (Vers 78a) verleiht auf dem Weg durch die Wüste die notwendige Sicherheit und Freiheit für das von Gott gemeinte wahre Eigen-Sein. Aus diesem Vertrauen heraus leben Elisabeth, Zacharias, Johannes und nicht zuletzt Jesus.

Mögen auch wir aus diesem Vertrauen heraus unseren Weg zu Gott und so zu uns selbst finden, AMEN.

 

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