Predigt an Pfingsten 2021 über 1. Mose 11, 1-9

Liebe Gemeinde,

unser heutiger Predigttext ist einer der ganz großen Mythen der Menschheitsgeschichte. Er lautet missverständlicher Weise „Der Turmbau zu Babel“. In Wirklichkeit geht es um die Gründung einer Stadt und den Bau eines Turms. Der Mythos findet sich im 1. Buch Mose im 11. Kapitel.

„111Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. 2Als sie nun von Osten aufbrachen, fanden sie eine Ebene im Lande Schinar und wohnten daselbst. 3Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, lasst uns Ziegel streichen und brennen! – und nahmen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel 4und sprachen: Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, dass wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut über die ganze Erde.

5Da fuhr der Herr hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. 6 Und der Herr sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. 7Wohlauf, lasst uns hernieder fahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe!

8So zerstreute sie der Herr von dort über die ganze Erde, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen. 9Daher heißt ihr Name Babel, weil der Herr daselbst verwirrt hat aller Welt Sprache und sie von dort zerstreut hat über die ganze Erde.“

Die Struktur der Geschichte ist einfach: Da gibt es eine Gruppe – genannt Menschen – die wollen sesshaft werden. Von Osten kommen sie her und planen, eine „Stadt und einen Turm“ zu bauen. Dieser Plan wird von einer Gegenkraft vereitelt. Das Motiv der Gegenkraft: Wenn sie das tun, „wird man ihnen nichts mehr verwehren können“. Heißt: Dann sind sie allmächtig. Man hat diesen Mythos – wie viele Geschichten der Bibel – für schwarze Pädagogik verwendet. Der sich seiner selbst, seiner Möglichkeiten bewusst werdende Mensch wird für sein Denken und Handeln bestraft. Diese Pädagogik ist der Grund des Bündnisses von Religion mit reaktionärem Denken und der daraus folgenden Ablehnung neuer (natur-)wissenschaftlicher Erkenntnisse. Zu dieser Ablehnung gehört, dass dem wissbegierig-forschenden Menschen narzisstische Motive unterstellt werden: Er „will sich „einen Namen zu machen!“ Die Begründung freilich ist ganz und gar un-narzisstisch: „Wir werden sonst zerstreut über die ganze Erde“.

Zerstreuung ist ein merkwürdiger Zustand: „Eben hatte ich doch noch meinen Wohnungsschlüssel – und jetzt ist er weg! Und wo ist eigentlich meine Brille? Was wollte ich noch mal aus dem Keller holen?“

Ich vermute, viele von uns kennen diese Art von Zerstreutheit – ohne dass sie das Gefühl haben, dement zu werden.

Gegen Zerstreutheit hilft die Definition.

Eine Definition beschränkt (finis) – und indem sie beschränkt, bestimmt sie. Die ersten 7 Schöpfungstage mit ihren 10 Schöpfungswerken sind lauter Definitionen: Himmel – Erde; Licht – Finsternis; festes Land – Wasser … usw.

Bei uns Menschen ist unsere Definition unsere Identität. Auch sie beginnt mit dem Namen und führt dann weiter. Unsere Idenität gibt Auskunft auf die Frage: „Wer bin ich?“

Sich einen Namen machen heißt so gesehen: Sich eine Identität schaffen. Identität hat mit dem Wissen zu tun, wer man ist und wo man hingehört.

I bin der Lothar, und do bin i dahoam!“

Für ein erfülltes, sinnvolles Leben brauchen wir wenigstens eine Ahnung davon, wer ich bin und wo ich hin gehöre. Andernfalls erlebe ich „Zerstreuung“ und „Verwirrung“.

Nun erzählt uns der Mythos, dass das Tun dieser Menschen gerade nicht zur Erfüllung dessen führt, was sie sich wünschen. Ganz im Gegenteil. Es tritt genau das ein, was befürchtet wurde: „8So zerstreute sie der Herr von dort über die ganze Erde, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen.“ In der Psychologie heißt das: self fulfilling prophecy (Merton 1946) – eine Vorhersage, die sich selbst erfüllt. Dies ist ein machtvolles, verbreitetes und empirisch nachweisbares Geschehen: So ist z. B. erwiesen, dass Senioren, die Angst davor haben zu stürzen, auch wirklich häufiger stürzen.

Die befürchtete „Zerstreuung“ ist zunächst eine sprachliche, in der Folge davon auch eine räumliche. Sie wird auch als „Verwirrung“ bezeichnet. Was bedeutet das?

Die dahinter liegende Idee ist, dass es „einheitliche“ Sprache gibt, die das Wesen dessen, was sie benennt, ausdrückt. Eine wesentliche Sprache.

Eine wesentliche Sprache ist klar und eindeutig. Es wird gesagt, was zu sagen ist – nicht mehr und nicht weniger. Un-wesentliche Sprache ist „zerstreut“. In ihr drückt sich Beliebigkeit aus. Es kann das gemeint sein, es kann auch etwas ganz anderes gemeint sein. Oder es kann auch gar nichts gemeint sein. Unwesentliche Sprache ist in sich selbst verliebt, sie kreist um sich selbst. Eine wesentliche Sprache hingegen versucht dem Ausdruck zu verleihen, was ihr Sprecher wahrnimmt. Sie ist der Aufdeckung von Wahrheit verpflichtet. Unwesentliche Sprache will nichts aufdecken; sie will verschleiern – insbesondere dies, dass ihr Sprecher nichts zu sagen hat. Unwesentliche Sprache ist hohl.

Nicht selten werden Predigten in unwesentlicher Sprache verfasst.

Liebe Gemeinde,

vielleicht fragen Sie sich jetzt zurecht, was das ganze mit Pfingsten zu tun hat.

Die verbindende Klammer ist die Sprache:

Und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und begannen zu predigen in anderen Sprachen, wie der Geist ihnen zu reden eingab“, heißt es in der Apostelgeschichte des Lukas.

Wie geht das? Welches ist das Werk des Heiligen Geistes? „Er wirkt zweierlei im Menschen; das eine: er entleert ihn; das andere: er füllt das Leere, soviel und soweit er es leer findet.“ So predigte der Dominikaner Johannes Tauler vor ungefähr 700 Jahren an Pfingsten. Und er fährt fort:

Diese Entleerung ist die erste und größte Vorbereitung für den Empfang des Heiligen Geistes. Denn ganz so weit und ebensoviel der Mensch entleert ist, so viel mehr wird er auch fähig, den Heiligen Geist zu empfangen. Denn will man ein Fass füllen, so muss zuvor heraus, was drinnen ist. … Alles Geschöpfliche muss heraus, es sei von welcher Art auch immer; es muss alles weg, was in dir ist und was du empfangen hast. … So muss der Mensch sich fassen lassen, sich leeren und sich vorbereiten lassen. Er muss alles lassen, dieses Lassens sich selbst noch ledig werden und es lassen, es für nichts halten und ins sein lauteres Nichts versinken. Andernfalls vertreibt und verjagt er sicher den Heiligen Geist und verhindert ihn, in höchster Weise in ihm zu wirken.“

Johannes Tauler weiß, wovon er spricht. Er weiß auch, wie mühsam dies ist:

Aber diesen Weg sucht (so leicht) niemand auf.“ sagt er.

So unterscheidet er spitz zwischen „Lesemeister“ und „Lebensmeister“. Die Lesemeister seien überaus „belesen“, würden aber das Gelesene nicht auf ihr alltägliches Leben anwenden.

Ja – so ist das, so war das vor 700 Jahren und so wird es in 700 Jahren sein.

Aber, so Tauler: „Wann immer diese Vorbereitung (also das Leer-Werden) im Menschen geschehen ist, wirkt der Heilige Geist sogleich sein zweites Werk in dem so vorbereiteten Menschen: er füllt ihn nach seiner ganzen Empfängnisfähigkeit aus. Soviel du in Wahrheit geleert bist, ebensoviel empfängst du auch; je weniger des Deinen du behältst, um so mehr Göttlichkeit empfängst du: der Eigenliebe, der Eigenmeinung, des Eigenwillens, aller diese sollst du dich entäußert haben …“

STOP! – müssen Sie jetzt rufen!

So geht das nicht: Eben noch sprichst du noch davon, wie wichtig das Gefühl einer Identität für uns Menschen ist: zu wissen wer wir sind und wo wir hingehören.

Also der Bedeutung des Ur-Eigenen!

Und jetzt heißt es – mit Johannes Tauler – das Eigene hat überhaupt keinen Wert; um vom Heiligen Geist erfüllt zu werden, ist es aufzugeben, ist es „zu lassen“ und auch dein Bemühen, „es zu lassen“, sollst du noch sein lassen. Also: Zunächst soll ich mir mühsam meine Identität erarbeiten, um sie dann wieder aufzugeben?

Das ist doch ein eklatanter Widerspruch!

Genau so ist es. Es ist nicht nur ein Widerspruch – es ist ein existentielles Dilemma oder eine existentielle Dialektik, in der jeder von uns lebt! Ob er will, oder nicht, ob sie/er es sich bewusst macht, oder nicht. Diesen Widerspruch kennt im übrigen jeder Künstler. Wenn ich z.B. ein Musikstück einübe, muss ich es analysieren, in kleine und kleinste Teile zerlegen, es „technisch“ üben usw. Wenn ich damit fertig und zu musizieren beginne, ist es am besten, wenn ich all das wieder vergesse. Und mich ganz dem Augenblick des selbst versunkenen Spieles überlasse.

Und eben hier scheiden sich die Wege. Es geht um die Beantwortung der Frage, was mir wirklich wichtig im Leben ist, womit ich mich identifiziere. Die gültige Antwort darauf geben nicht die Worte, die ich sage, sondern das Leben, das ich lebe.

Wenn ich mit Erfolg, Status, Einfluss, Macht identifiziert bin, wenn ich mir in diesem Sinne „einen Namen machen möchte“, „Karriere“ machen möchte, werden mich die Gedanken Taulers ärgern und ich werde sie bekämpfen – oder schlicht ignorieren.

Tauler, der insbesondere zu Nonnen gepredigt hatte, also zu Menschen, die sich einem Leben in klösterlicher Hingabe an Gott verschrieben haben, hatte in seiner Pfingstpredigt den Mut zu folgendem Gedanken: „Wenn der dem Geschöpf anhangende Mensch nicht seines eigenen Selbst entleert ist, glaubt er oft, dass Gott alles wirke, was in ihm geschieht; es kommt aber alles von ihm selber, ist sein eigenes Werk, kommt von seiner Anmaßung, seiner Selbstzufriedenheit.“ Mit anderen Worten: Dieser Mensch verwechselt sich selbst mit Gott.

Besonders gefährdet für diese Verwechslung sind Menschen in religiösen Berufen. In nicht-religiösen Berufen ist die Gefahr eine andere – und das Ergebnis dasselbe: Die Gefahr ist, das eigene Denken absolut zu setzen und eine Position zu erlangen, die mich mit der Macht ausstattet, meine Anschauung von der Welt und den Menschen durchzusetzen.

Gott aber wirkt nicht durch die Macht einer kriegerischen Armee, Gott wirkt nicht durch Gewalt – Gott wirkt in und durch seinen Heiligen Geist – so heißt es bei Sacharja, dem Wochenspruch für diese Pfingstwoche.

Im Wirksam-Werden und im Wirken-Lassen des Heiligen Geistes geschieht radikale Veränderung der Persönlichkeit des Menschen. Dies ist für Johannes Tauler der Kern des Pfingstwunders. Wer dieses „Wunder“ am eigenen Leib erleben darf, erlebt ein Durchlaufen von Gefühlen des „Ver-rückt-Werdens“. Ich werde verrückt, indem ich in Gottes Wirklichkeit hinein gerückt werde. Wer die damit notwendig einhergehenden Ängste nicht aushält, der ist „nicht geschickt für das Reich Gottes“ (Lukas 9,62).

Die „anderen Sprachen“, in denen die Apostel reden, sind für Tauler „neue Sprachen“: „Der Mensch soll seine alte Redeweise, wie er sie von Natur aus empfangen, in Zucht nehmen.“ Und er fährt in direkter Anrede fort: „Meine Lieben! Vor allen Künsten lernt die Kunst, eure Zunge zu hüten, und seht euch vor, was ihr sprecht, …“ Um Neues wirklich lernen und verinnerlichen zu können, ist Altes bleiben zu lassen!

Die neue Sprache hat für Tauler auch eine neue Verwendung: „Seht zu, dass euer Wort zu Gottes Ehre sei und zur Besserung des Nächsten und zu eurem eigenen Frieden diene.“

Wer diesen Rat beherzigt, in dessen Herz zieht Stille ein und Friede.

Meylana Dschelaluddin Rumi, Gelehrter und einer der bedeutendsten persischen Dichter des Mittelalters, – er lebte zwei Generationen vor Tauler – empfiehlt ganz im Sinne Taulers:

Bevor ein Mensch spricht, soll er seine Worte durch drei Tore gehen lassen. Beim ersten Tor frage: ‚Sind sie wahr?‘ Am zweiten frage: ‚Sind sie notwendig?‘ Am dritten Tor frage: ‚Sind sie freundlich?‘* (Stangl, 2021). Und erst wenn sich alle drei Tore öffnen (also das Tor der Wahrheit, das Tor der Notwendigkeit und das Tor der Güte) ist es gut, was mir in den Sinn kommt auch auszusprechen.

Es gibt noch „andere“ Sprachen, jenseits unserer „menschlichen“ Sprache. Zum Beispiel die Körpersprache. Wer mit Tieren arbeitet, weiß, dass dies die entscheidende Art der Verständigung ist. Auch hier geht es um die Genauigkeit des Sich-Ausdrückens. Probleme mit Haustieren sind zu allermeist Verständigungsprobleme.

Schließlich gibt noch eine ganz „andere“ Sprache, die zwar menschlich ist – und doch ohne Worte auskommt. Sie ist international, und wer sie spricht, der kann mit anderen Menschen kommunizieren, auch ohne ein Wort der gesprochenen Sprache des Anderen zu kennen.

Und so hört jetzt meine Sprachpredigt auf, nicht aber die Predigt als solche.

Die Prediger, die jetzt in „anderer Sprache“ predigen, sind Aldo und Lisa mit dem „Abendlied“ für Violine und Orgel von Josef Rheinberger.

*Stangl, W. (2021). Die drei Siebe des Sokrates – Wahrheit – Güte – Notwendigkeit – arbeitsblätter news. Werner Stangls Arbeitsblätter-News.
WWW: https://arbeitsblaetter-news.stangl-taller.at/die-drei-siebe-des-sokrates-wahrheit-gute-notwendigkeit/ (2021-05-16).

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