Liebe Gemeinde,
stellen Sie sich vor, jemand, der ein hohes politisches Amt bekleiden möchte, müsste erst einmal seine Musikalität nachweisen. Ob dadurch und damit Politik menschenfreundlicher, lebendiger, weniger starr würde?
Ich weiß es nicht. König David, von dem wir vorhin hörten, war jedenfalls Schafhirte und Harfenspieler. Er spielte die zehnseitige Kinnor, auch Davidsharfe genannt. Vielleicht sang er auch dazu. Jedenfalls hat seine Musik den zu Wahnsinn neigenden König Saul beruhigt.
Musik hat eine ganz eigene Wirkung. Sie bringt in uns etwas in Schwingung, was über die Möglichkeiten von Sprache deutlich hinaus geht. Musik berührt anders als Sprache: irgendwie tiefer. Vielleicht hat das damit zu tun, dass unser Hörsinn, unser Gehör schon im Mutterleib vollständig ausgebildet ist und funktioniert. Wir hören ab etwa 5 bis 6 Monate – also lange bevor wir sehen. Wir hören den Rhythmus des Herzens der Mutter, wir hören die gurgelnden Darmgeräusche. Und wir hören – wenn auch sehr abgedämpft – Töne, Geräusche, Stimmen aus der Welt, deren Licht wir in ein paar Wochen erblicken werden.
Musik ist auch nicht – wiederum anders als unsere Sprache – auf unseren Verstand angewiesen. Sie wirkt – selbst wenn wir nichts von ihr verstehen. Auch Tiere reagieren auf Musik: Kühe geben mehr Milch, wenn ihnen Musik von Mozart vorgespielt wird.
Die Fähigkeit Musik zu machen, zu komponieren, hat andererseits keine Auswirkungen auf den Charakter des Menschen, der sie macht. Sieht man sich die Biographien berühmter Musiker an, so ist jedenfalls eines anzuerkennen: Bessere Menschen waren sie auch nicht. Ein Mozart in seiner provokanten Überheblichkeit, ein Beethoven mit seinen Beziehungsabbrüchen und Wutausbrüchen, ein Schumann mit seinen schizophrenen Schüben, ein Schubert mit seinem Alkoholabusus. Von daher darf man skeptisch sein, ob der Text des bekannten Kanons: „Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder“, so stimmt. Was aber sicher stimmt, ist: Gemeinsames Singen ist ein im höchsten Maße sozialer Akt, es ist auf ein Miteinander angelegt – auch wenn man manchmal bei Chorproben eher das Gefühl eines Gegeneinanders bekommen kann …
In unserem heutigen Predigttext ist zwar nicht direkt vom Singen die Rede, sondern davon, „mit Freuden Gott zu loben“. Singen also als „Gotteslob“! Das ist im übrigen auch und sehr stimmig der Titel des Gesangbuches unserer katholischen Schwestern und Brüder. Und es ist davon die Rede, wie dieses „Gotteslob“ Missmut und Ärgernis hervorruft. Doch hören Sie selbst (Lukas 19, 37-30):
„37 Und als er schon nahe am Abhang des Ölbergs war, fing die ganze Menge der Jünger an, mit Freuden Gott zu loben mit lauter Stimme über alle Taten, die sie gesehen hatten, 38 und sprachen: Gelobt sei, der da kommt, der König, in dem Namen des Herrn! Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe! 39 Und einige von den Pharisäern in der Menge sprachen zu ihm: Meister, weise doch deine Jünger zurecht! 40 Er antwortete und sprach: Ich sage euch: Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien.“
„Und als er schon an den Abhang des Ölbergs herankam …“ – damit beginnt unser heutiger Predigttext der zugleich das Sonntagsevangelium darstellt.
Der Ölberg war zur Zeit Jesu ein Hügel voll mit Olivenbäumen. Einige wenige sind noch erhalten. Von dort aus zieht Jesus als der erwartete Messias in Jerusalem ein, dort betet er unmittelbar vor seiner Gefangennahme die bekannten Sätze: „Vater, willst du, so nimm diesen Kelch von mir; doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe!“ Und von dort aus ist er in den Himmel aufgefahren.
Der Ölberg ist also einerseits der Ort, an dem Jesus in innigster Beziehung mit seinem Vater ist – und zugleich der Ort, an dem er (von der Welt) gefangen genommen und mit dem Tode bestraft wird.
Mir geht es um dieses Zugleich. Mir geht es um Un-Eindeutigkeit. Dies widerspricht unseren Wünschen und Sehnsüchten. Sie wollen das Eine, das Absolute, das einzig Wahre. Sie wollen den Messias.
Jesus ist der Christus – und kein anderer.
Mohammed ist der größte Prophet – und kein Anderer.
Der einzige Gott ist unser Gott, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Und kein Anderer.
Eindeutigkeit stiftet Identität. Ich bin ich – und kein Anderer.
Diese Identität brauchen wir, andernfalls leben wir in Verwirrung. Es gibt Menschen, die heben im Nachsatz auf, was sie im Vorsatz gesagt haben. Solche Menschen sind verwirrt und verwirren. Sie scheuen Klarheit, Eindeutigkeit. Das hat damit zu tun, dass es eine verbreitete Verbindung von Eindeutigkeit und Machtausübung gibt. Ich sage, dir wie es ist – halte dich daran!
Dann wird aus „Ich bin ich“ „mia san mia“. Was soviel heißt wie: Wir bestimmen, was falsch und richtig ist, was gut und böse ist, wie man etwas zu machen und etwas zu lassen hat. Anders ausgedrückt: Dann wird eine Möglichkeit zu leben, die Welt zu sehen zur einzigen. Es gibt keine verschiedenen Perspektiven mehr, sondern nur die eine, eigene!
Es befreit unser Leben und unser Denken, wenn wir mit offenem Herzen anderen Perspektiven begegnen. Und noch befreiender ist der berühmte Perspektivenwechsel: D.h., ernsthaft versuchen, die Perspektive eines Anderen einzunehmen: und zwar soweit möglich „ganzheitlich“. Das ist die leider nicht sehr verbreitete Fähigkeit zu Empathie – zu deutsch Einfühlung. Ich fühle mich in den Andern ein, setzt die Bereitschaft voraus, ich sehe von meinen eigenen Gefühlen, von meiner eigenen Perspektive ab. Ich stelle mich zurück. So erst entsteht Raum für einen echten Dialog, einen echten Austausch zwischen zwei verschiedenen Menschen. Allerdings nur, wenn der Andere bereit, diesen „Gemeinschaftsraum“ mit mir auch zu betreten. Viel verbreiteter ist das „Absetzen“ der eigenen Meinung ohne Interesse an einem Miteinander. Monologische Kommunikationsformen wie z. B. eine Predigt eignen sich bestens dafür, die eigene Meinung absolut zu setzen. Es würde sehr viel Mut erfordern, dem Pfarrer, ausgestattet mit der Vollmacht seines Amtes, zu unterbrechen, zu widersprechen, eine andere Meinung zu äußern. In der schwarzen Pädagogik heißt das: „Nur böse Kinder geben Widerworte…“
Schauen wir auf diesem Hintergrund unseren Predigttext an:
Da gibt es die Perspektive der „Jünger Jesu“. Sie „loben Gott, und freuen sich“, denn für sie ist Jesus der erwartete Messias.
Dann gibt es die Perspektive der Pharisäer. Sie sind entsetzt und ärgerlich über die Perspektive der Jünger Jesu. In ihren Augen ist das alles Gotteslästerung, Und so fordern sie Jesus auf, seine Jünger zurecht zu weisen, dem blasphemischen Treiben Einhalt zu gebieten.
Und schließlich gibt es die Perspektive Jesu selbst, die sich in dem Satz ausdrückt: „Ich sage euch: Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien.“ Was so viel bedeutet wie: Für das Offenbar-Werden des Messias gibt es kein Halten, es lässt sich nicht unterdrücken.
Dies sind die Perspektiven der Akteure unseres Textes.
Und dann gibt es noch die Perspektive des Verfassers des Textes, des Evangelisten Lukas. Alle drei Evangelien schildern den Einzug Jesu in Jerusalem, aber nur Lukas berichtet von dieser Episode mit den Pharisäern. Ihm ist der Lobpreis aller Völker – Lukas schreibt für Nicht-Juden – besonders wichtig.
Und so ist es auch bei uns: Jede und jeder von uns sieht die Welt aus der ganz eigenen Perspektive, hört meine Predigt aus ihrer oder seiner Perspektive. Und natürlich predige auch ich aus meiner Perspektive, meiner „Sicht“ der Welt heraus.
Dies ist eine Quelle für viele Missverständnisse, die zu Streit und sogar Beziehungsabbrüchen führen. Unsere menschliche Sprache scheint sich im übrigen besser für Miss-Verstehen denn für Verstehen zu eignen. Dies ist auch eine Form der babylonischen Sprachverwirrung, über die ich an Pfingsten predigen werde.
An dieser Stelle beruhigt mich die Erkenntnis, dass es bei aller Fülle unterschiedlichster Perspektiven nur eine einzige Wahrheit gibt. Zu dieser Wahrheit sage ich Gott: Sie bleibt in der Regel für uns „normal Sterbliche“ unerkennbar. Und es steht jedem Menschen zu jeder Zeit seines Lebens frei, sich mit dieser Wahrheit zu verbünden, sich ihr zuzuwenden oder eben nicht.
Sich mit der Wahrheit verbünden bedeutet, auf dem Boden dessen, was ist, zu stehen. Das ist der Boden der Wirklichkeit, der Realität.
Sich mit der Wahrheit verbünden heißt auch, und das ist die Herausforderung, anzuerkennen, dass mein „Ich“ sie nicht besitzt, schlimmer noch, dass sie mir unbekannt ist. Dieses Nicht-Wissen mag mein Verstand überhaupt nicht. Seine Strategie ist: Was ich nicht weiß und/oder nicht verstehe, das ignoriere ich. Es lohnt sich nicht, sich damit zu beschäftigen.
Dies wiederum ist der Wirklichkeit, der Wahrheit völlig egal. Sie braucht auch keine Steine, die irgend etwas schreien. Die Wirklichkeit ist. Punkt, Mehr ist dazu nicht zu sagen.
Beispiel: Dem Corona-Virus ist es völlig egal, ob jemand seine Existenz verleugnet oder anerkennt. Er wirkt.
Der Sonne ist es völlig egal, ob jemand sie in seiner Fantasie um die Erde kreisen lässt, oder ob sie als Fixstern anerkannt wird.
Dem Christus, dem Messias ist es völlig egal, ob er als Messias anerkannt, bekannt wird. Aber: es gibt nicht nur Christus – es gibt auch Jesus.
Jesus, das „fleischgewordene Wort Gottes,“ leidet, weil er (auch) Mensch ist. Gerade so wie Sie und ich. Unmittelbar nach unserem Text heißt es von diesem Jesus: „Und als er nahe hinzu kam und die Stadt (Jerusalem) sah, weinte er über sie und sprach: Wenn doch auch du erkenntest an diesem Tag, was zum Frieden dient!“ In der Tat: Ist es nicht zum Heulen, dass uns Menschen – seit es uns gibt! – es derart schwer fällt, zu erkennen und zu leben, „was zum Frieden dient“?
An erster Stelle dient zum Frieden, sich selbst zurück zu nehmen. Es ist die Haltung und eine Handlung eines gesunden Egoismus, den Armen zu helfen und sich um Gerechtigkeit zu bemühen. Es ist die Haltung und eine Handlung eines kranken Egoismus, um sich selbst zu kreisen und sein Ich dafür zu verwenden, die eigenen süchtigen Bedürfnisse zu befriedigen. Die Abholzung des Regenwaldes in Brasilien, das Fehlen von Impfstoff in den armen Ländern – in Amerika wird er gehortet – und damit verbunden die unkontrollierte Ausbreitung des Corona-Virus: Es sind zwei aktuelle Beispiele, wie der Egozentrisums von uns Reichen („me first!“) auf uns selber zurück fällt.
Und wie geht das „Sich-selbst-Zurücknehmen“? Es geht so, dass ich mich und das, was mich (an-)treibt kennen lerne. Nur wenn ich den „Gegner“ kenne, kann ich mich auf ihn einstellen.
Und es geht so, dass ich meine Fähigkeit zu lieben stärke. Liebe ist aber nichts Anderes als einverstanden zu sein damit, wie es gerade ist, wie ich gerade bin, wie der Andere gerade ist. Damit ist der ewige Kampf beendet.
Rabbi Sussja wurde immer wieder gequält von dem Gefühl, das, was er sei und was er mache, genüge nicht, es sei einfach zu wenig. So wird berichtet, wie er mitten in der Nacht von seinem Bett aufsprang und mit großer Hingabe und Innigkeit ausrief: „Mein Gott und meine Seele! Ich liebe ich,doch was kann ich tun, ich habe keine Kraft!“ Er lief im Zimmer auf und ab und wiederholte diesen Satz unzählige Male. Rabbi Mordechai stand mit seinem Freund an der Tür und lauschte. Schließlich hörten sie Rabbi Sussja rufen: Oh, pfeifen kann ich doch! So will ich mein Schöpfer, zu deiner Verherrlichung pfeifen!“ Und er begann zu pfeifen.
„Komm, eilen wir von hinnen!“, rief der erschrockene Rabbi Mordechai seinem Freunde zu, „komm, dass uns das Feuer der Heiligkeit nicht verzehre!“
Ja – so ist das: Wenn dann wirklich der Heilige Geist über uns kommen möchte, wenn das, was wir uns so sehr wünschen dabei ist, sich zu verwirklichen, ist die Gefahr groß, dass wir davonlaufen! Und beruhigen uns mit Ritualen, die wir dann z.B. Gottesdienst nennen. Die oftmals genau dazu dienen, dass Gottes Heiliger Geist bloß nicht lebendig werden soll! Und so bleibt das Lied, das in jedem von uns schläft, das ureigene Lied, das unsere Seele so gerne singen würde, ungehört und unerhört.
Da können einem schon auch mal die Tränen kommen… AMEN.