Predigt über Johannes 21, 1- 14 am 11. 4. 2021

Liebe Gemeinde,

Quasimodogeniti: „wie die neugeborenen Kinder …“ ist der Name unseres heutigen ersten Sonntags nach dem Osterfest. Es ist ein Zitat aus dem ersten Petrusbrief. Vollständig lautet es: „… seid wie die neugeborene Kinder begierig nach der vernünftigen, unverfälschten Milch , damit ihr durch sie wachset zum Heil“ (1. Petrus 2,2)

R.W. Bion sagt an einer Stelle: „Wahrheit ist die Milch der Seele“.

Es geht um die „unverfälschte Milch“ – griechisch „adolos“. „Dolos“ ist die List, die Strategie oder Manipulation. Diese Milch trägt nicht zu seelischem Wachstum bei. Wohl aber ist sie sehr wirksam, wenn ich etwas erreichen will.

Die Milch der Wahrheit lässt frei – die Milch der List, der Täuschung, des Betrugs zieht in eine bestimmte Richtung.

Deshalb ist in totalitären Regimen im Großen wie im Kleinen die Wahrheit der eigentliche Feind, die eigentliche Gefahr des Regimes – und ihre Repräsentanten sind die Verhassten und die Verfolgten. (In Klammern: Es gibt auch die List im Dienste der Wahrheit oder der Menschlichkeit. Denken Sie nur an „Schindlers Liste“! Das ist, das totalitäre System mit den eigenen Waffen schlagen …!)

Damit kommen wir zu Ostern: Für viele Menschen ist es nicht besonders glaubwürdig, dass ein Toter ins Leben zurückkehrt. Für mich ehrlich gesagt auch nicht. Und mache Passagen in Paulusbriefen lesen sich wie Werbetexte, doch endlich zu glauben, dass Jesus von den Toten auferstanden ist. Auf diesem Hintergrund ist verständlich, wie sehr in der Kirchengeschichte jene verhasst waren, die wagten, anderer Meinung als die sogenannte „Orthodoxie“, die „rechte Lehre“ zu sein. Ein freier Denker wie Meister Eckhart entkam dem Strafgericht der Inquisition nur dadurch, dass er – starb.

Anders als Paulus bin ich der Meinung, dass es völlig ungefährlich für den/unseren (christlichen) Glauben ist, die „leibhaft-konkrete“ Auferstehung Jesu anzuzweifeln. Ich persönlich vermute, der Körper dieses Jesus aus Nazareth erlitt das Schicksal alles Körperlichen: Er verging.

Ich glaube aber auch – und das ist für mich das Entscheidende – dass mit eben diesem Jesus aus Nazareth ein Denken auf die Welt gekommen ist, das radikal neu gewesen ist. Die Wurzel dieses Denkens war Barmherzigkeit verbunden mit der Fähigkeit, sich zunächst um die Balken im eigenen Auge zu kümmern, anstelle die Splitter (ist gleich Schwachstellen) beim Anderen zu suchen.

Und von diesem Denken soll heute die Rede sein.

Nun ist es bei uns Menschen so: Je besser es uns geht, je gelassener und heiterer wir sind, desto leichter fällt es uns, mit uns selbst und mit unseren Mitmenschen großzügig zu sein. Und andersherum: Je mehr wir uns unter Druck fühlen, eingespannt in ein hartes Korsett, je weniger wir uns selbst innerlich wie äußerlich frei fühlen – desto weniger Platz haben wir für so etwas wie Nächstenliebe oder eben auch Barmherzigkeit. Barmherzigkeit ist nur in innerer Großzügigkeit möglich. Geben ist seliger denn nehmen –: stimmt, und setzt voraus, dass meine Grundbedürfnisse einigermaßen gesättigt sind.

Unter Grundbedürfnissen verstehe ich all das, was man wirklich braucht zum Leben. Physische Grundbedürfnisse sind Essen, Trinken, Schlafen und Sexualität. Psychische Grundbedürfnisse sind irgend eine Form von sozialer Verbundenheit. Eingebunden-Sein in eine Gesellschaft oder Gemeinschaft. (In der aktuellen Pandemie wird genau das Erleben dieses Eingebunden-Seins immer wieder beschränkt – was heftigste Reaktionen auslöst.)

Und dann gibt es immer wieder Verlusterfahungen. Dass „etwas wegbricht“. Je heftiger diese Erfarungen sind, desto schwieriger ist es, sie zu verarbeiten. Unser heutiger Pedigttext handelt davon, vom Leben nach so einer katastrophalen Verlusterfahrung.

„1 Danach offenbarte sich Jesus abermals den Jüngern am See von Tiberias. Er offenbarte sich aber so: 2 Es waren beieinander Simon Petrus und Thomas, der Zwilling genannt wird, und Nathanael aus Kana in Galiläa und die Söhne des Zebedäus und zwei andere seiner Jünger. 3 Spricht Simon Petrus zu ihnen: Ich gehe fischen. Sie sprechen zu ihm: Wir kommen mit dir. Sie gingen hinaus und stiegen in das Boot, und in dieser Nacht fingen sie nichts. 4 Als es aber schon Morgen war, stand Jesus am Ufer, aber die Jünger wussten nicht, dass es Jesus war. 5 Spricht Jesus zu ihnen: Kinder, habt ihr nichts zu essen? Sie antworteten ihm: Nein. 6 Er aber sprach zu ihnen: Werft das Netz aus zur Rechten des Bootes, so werdet ihr finden. Da warfen sie es aus und konnten’s nicht mehr ziehen wegen der Menge der Fische. 7 Da spricht der Jünger, den Jesus lieb hatte, zu Petrus: Es ist der Herr! Als Simon Petrus hörte: »Es ist der Herr«, da gürtete er sich das Obergewand um, denn er war nackt, und warf sich in den See. 8 Die andern Jünger aber kamen mit dem Boot, denn sie waren nicht fern vom Land, nur etwa zweihundert Ellen, und zogen das Netz mit den Fischen. 9 Als sie nun an Land stiegen, sahen sie ein Kohlenfeuer am Boden und Fisch darauf und Brot. 10 Spricht Jesus zu ihnen: Bringt von den Fischen, die ihr jetzt gefangen habt! 11 Simon Petrus stieg herauf und zog das Netz an Land, voll großer Fische, hundertdreiundfünfzig. Und obwohl es so viele waren, zerriss doch das Netz nicht. 12 Spricht Jesus zu ihnen: Kommt und haltet das Mahl! Niemand aber unter den Jüngern wagte, ihn zu fragen: Wer bist du? Denn sie wussten: Es ist der Herr. 13 Da kommt Jesus und nimmt das Brot und gibt’s ihnen, desgleichen auch den Fisch. 14 Das ist nun das dritte Mal, dass sich Jesus den Jüngern offenbarte, nachdem er von den Toten auferstanden war.“

Unser Text wimmelt nur so von unterschiedlichsten Anspielungen auf die ich im Rahmen dieser Predigt nur bedingt eingehen kann: es sind sieben Jünger zugegen. Sieben ist die Schöpfungszahl, die Zahl der sieben Wochentage. Die Boote sind 200 Ellen vom Land entfernt: Zweihundert basierend auf zwei: der Zahl des Zweifelns, des entweder oder, soll ich oder soll ich nicht. Die Zahl der Ambivalenz. Der Spaltung.

Und dann gibt es noch die Zahl 153. 153 Fische haben die Sieben gefangen. Im Hebräischen ist 153 die Verbindung von Nadelöhr (100), Fisch (50) und Kamel (3) Aber was bedeutet das alles?

153 Fische wurden gefangen. Aber erst bei der zweiten Ausfahrt. Üblicherweise fängt man am Tag keine Fische. Und warum sollen sie das Netz zur Rechten des Bootes auslegen?

Nun – wenn Sie beginnen, diese Fragen zu recherchieren, werden sie auf erstaunliche Antworten stoßen.

Z.B. ist die 153 eine Dreieckszahl zur Basis 17. D.h., wenn Sie 1 + 2 +3+ … +17 addieren, ergibt das 153. Die 17 aber ist in der Kabbala die Zahl des göttlichen „Gut-Seins“. „Und Gott sah, dass es gut war“ – dieser Satz wird im ersten Schöpfungsbericht immer dann verwendet, wenn einer der sieben Schöpfungstage endet. Wenn das „Werk“, das diesen Tag ausmachte, getan ist.

In Schuberts Liederzyklus „Schöne Müllerin“ lautet ein Liedvers im „Feierabend“ :

Und der Meister spricht zu Allen, Euer Werk hat mir gefallen …“

Schubert hat das in tiefen F-Dur Akkorden sehr ruhig vertont. Das „Werk“ erklingt dann in C-Dur (C 7) . C-Dur gilt für den Orientalisten und Anthroposophen Herrmann Beckh als die Tonart des „Sonnenaufgangs“: mit ihr beginnt der Quintenzirkel – und mit ihr endet er. In F-Dur würde die „Helligkeit beginnen…“.

Doch zurück: Das „es ist gut“ des Schöpfungsberichtes lehrt:

Bei allem Schmerz, bei aller Trauer, bei allem Widerstand:

Es ist gut, gerade so wie es ist, gerade so, wie es auch zu ende geht!

(Weitere Bedeutungen von 153 sind: Die ersten vier Bücher des AT enthalten 153 Kapitel; 153 ist die Summe der Fakultäten von 1 bis 5. Der Hl. Hieronymus sagt, dass griechische Zoologen 153 Fischarten benennen; also betont 153 noch einmal die Fülle schlechthin! Aber das alles nur am Rande!)

Und warum wurden die Fische auf der „rechten“ Seite gefangen – und nicht auf der „linken“ Seite? Die rechte Seite ist in der Kabbala die Sonnenseite. Es ist auch die „eins“. Die linke Seite ist die „zwei“, die Wasserseite. Die rechte Seite handelt also von der Rückkehr zur Einheit im Sinne von Ganzheit. Das feste Land (die 1) ist nur mehr 200 Ellen entfernt.

Die Rückkehr zur Eins, zur Einheit im Sinne von Ganzheit ist gut!

In ihr vollendet sich der Weg, kommt an sein Ziel.

Wer diesen Weg zurück nicht findet, muss immer vorwärts gehen, meint, er würde satt, wenn er immer mehr bekommt. Mary Trump, die Nichte von Donald Trump, hat dem Buch über ihren Onkel den Titel geben: „Immer mehr und doch nie genug.“ Auf der quantitativen, horizontalen Achse gibt es kein Genug; es gibt es nur ein flaches zweidimensionales immer mehr, immer weiter. Erst wenn die vertikale Achse hinzukommt spannt sich ein Koordinatensystem auf. Erst dann entsteht „Sättigung“.

Im Koordinatensystem des Lebens hat hat auch der Tod, das Sterben, seinen „guten“ Platz. Es ist eingebunden in die große Ordnung des Lebens, des Werdens und Vergehens. Und die Anerkenntnis der Vergänglichkeit meines Lebens führt zur Fähigkeit des Loslassens. Eine bestimmte Art von Dringlichkeit im Sinne von: „Das hätte niemals passieren dürfen!“ oder auch: „Ich muss das unbedingt haben/schaffen …“ verliert ihre Kraft. Stattdessen wird deutlich, wie alles miteinander zusammenhängt. Von der Phase 1, über die Phase 2 bis zur Phase 17.

Es ist gut.

Wo es um Kampf und Macht ging, kehrt heitere Gelassenheit ein.

Wo es um die Notwendigkeit ging, andere Menschen zu verändern, entsteht Bereitschaft für Toleranz.

Das Plagen, dass etwas so und nicht anders sein muss, kommt zu Ende.

Ja – Jesus, der Prediger der Nächstenliebe wurde mit dem Tod bestraft.

Das ist auf der einen Seite schlimm und traurig.

Und auf der anderen Seite ist es gut. Im Sinne von: vollendet.

Mit ihm sind unzerstörbare Gedanken auf die Welt gekommen. Sie sind unzerstörbar, weil die Liebe unzerstörbar ist.

Ausdruck dieser Unzerstörbarkeit ist das Fischernetz, das nicht reißt.

Die Liebe hält. Sie hält zusammen.

Über die Liebe kommt die Nahrung zu uns, die wirklich satt macht.

Es ist die Liebe, die mir jeden Tag einen Hauch von Erkenntnis schenkt, wer ich bin und was ich auf dieser Welt zu tun habe.

Es ist die Liebe, die die Vergänglichkeit des Lebens anerkennt und mit dem gelebten Leben einverstanden ist.

Aus dieser Anerkennung heraus wächst das Erleben, dass alles gut ist – gerade so wie es gewesen ist. Nur über diesen Weg bin ich nämlich dahin gekommen, wo ich heute stehe.

Liebe Gemeinde,

für mich ist heute ein ziemlich besonderer Tag – und deshalb erlaube ich mir eine besondere, persönliche Schlussbemerkung:

Viele von Ihnen wissen, dass ich nicht immer Pfarrer gewesen bin.

Ursprünglich wollte ich Pianist werden, dann wollte ich Pfarrer werden und dann Psychoanalytiker. Ich bin also jemand, der sich nicht entscheiden konnte.

Der sich schwer tut, da zu sein, wo er sich selbst hingestellt hat.

Immer wieder meinte ich, das Glück ist gerade da, wo ich nicht bin. (Übrigens das Thema eines Liedes von Franz Schubert: „Der Wanderer“: „ … dort wo ich nicht bin, dort ist das Glück …“.)

Jetzt bin ich glaube ich ein ganz brauchbarer Hobby-Pianist, ein ganz brauchbarer Pfarrer im Ehrenamt und und ein ganz brauchbarer Psychotherapeut.

Und jetzt kann ich sagen: Es ist gut so. Und: Es ist halt mein Weg.

Es ist auch deswegen gut so, weil ich auf diesem Weg meine Frau kennen gelernt habe. Mit der ich heute auf den Tag genau 25 Jahre ziemlich glücklich und zufrieden verheiratet bin.

Um dies erleben zu dürfen, waren leider schmerzhafte Trennungen unvermeidbar. Insbesondere die sehr schmerzhafte Trennung von meiner ersten Familie, das Leid und die Enttäuschung, das ich meiner ersten Ehefrau und meinen beiden Kindern aus dieser erster Ehe zugefügt habe.

Das kann ich nur bedauern – aber nicht wieder gut machen kann.

Und doch: In allen Schmerzen, in allem Suchen, in allen Ängsten und bei aller Schuld, die ich auch auf mich geladen habe, traue ich mich heute zu sagen: Es ist gut.

Dies alles gehört zu meiner ganz persönlichen Siebzehn.

Und in diesem „Es-ist-gut-Gefühl“ sitze ich, sitzen wir alle zusammen mit dem Auferstandenen am Lagerfeuer. Er hat schon einen Fisch aufs Feuer gelegt. Das ist der 154. Es ist der Erste und der Letzte. Und es gibt Brot – Lebensbrot. Und wir essen zusammen und trinken und jemand packt die Gitarre aus und wir singen „Let it be“ von den Beatles … und wir trinken Wahrheit … die „Milch der Seele“. Das kann übrigens durchaus auch ein dunkles Lammsbräu oder ein schöner Wein sein.

Das alles ist für mich Auferstehung! Leibhafte, wahrhaftige Auferstehung, Auferstehung hinein in die 153 plus 1: In die Fülle alltäglichen Lebens. AMEN.

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