Predigt am 8. Sonntag nach Trinitatis (2021) über 1. Korinther 6, 9-14.18-20

Liebe Gemeinde,

unser aller Leben beginnt in der Dunkelheit der Nacht. Die Vereinigung von Ei- und Samenzelle findet im Dunklen statt. Es ist kein Zufall, dass der Heilige Johannes vom Kreuz von den drei dunklen Nächten spricht, in denen die Verwandlung, die Transformation des Menschenkindes hin zu Gott geschieht.

Wenn alles gut geht, entsteht daraus Leben. Falls etwas schief geht, so herrscht in den ersten drei Monaten ein Alles-oder-Nichts-Prinzip: Das nicht lebensfähige Leben wird ausgeschieden, es „geht ab“. Ein kluger Filter der Natur.

Bei uns, die wir überlebt haben, die wir hier sind, ist offenbar bis heute soweit alles gut gegangen.

Indem ich sage: „Leben entsteht aus der Vereinigung einer Ei- mit einer Samenzelle“, könnte man dies auf die „rein körperliche“ Entstehung des Lebens beziehen. Und damit entsteht die Frage: Wann und wie kommt dann Seele und Geist hinzu?

Diese Art zu denken führt in die Irre. Ihre Prämissen stimmen nicht. Sie setzt Zeit (wann?) voraus. Und sie setzt voraus, dass Seele und Geist unabhängig vom Körper existieren. Mit anderen Worten: Diese Art zu denken führt in eine Dualität. Die Wahrheit aber ist Eine: Es gibt kein Leben ohne Körper und es gibt keinen Körper ohne Seele. In Korrelation zum werdenden körperlichen Leben entwickelt sich das, was wir seelisches Leben nennen und das, was wir geistiges Leben nennen. Körper-Seele-Geist ist eine Dreiheit, die zusammen gehört, zusammen eins ist. (Die Beziehung zur Trinitätslehre ist erwünscht.)

Wenn auf diesem Weg des Auf-die-Welt-Kommens zu heftige Verletzungen passieren, findet ein Rückzug statt, ja wesentliche Teile des Menschen bleiben – bildlich ausgedrückt – im Mutterleib stecken. Nebenbei: Gute, wirkungsvolle Psychotherapie ist Geburtshilfe, der Job des Psychotherapeuten ist dem einer Hebamme vergleichbar. Nicht selten finden sich übrigens derartige Verletzungen in Musiker-Biographien. Dann wird die Musik (der Embryo hört bereits mit sechs Monaten im Mutterleib) zu einem Rückzugsort und Klänge zur Erinnerung an Zeiten, wo nach alles gut gewesen ist.

Im Umgang mit und in der Beziehung zu unserem eigenen Körper bildet sich die frühe Beziehung zwischen Menschenkind und Mutter ab. Im Besonderen die vorsprachliche und nicht-sprachliche Beziehung, die „Aura“ der Beziehung findet hier ihren Niederschlag. Jedes Baby spürt in der Tiefe, ob es willkommen geheißen wird oder ob es unerwünscht ist. Es spürt die Angst seiner Mutter, ohne zu verstehen, dass es die Angst der Mutter ist. Besonders schwer haben es diejenigen Babys, die von ihrer Mutter von Anfang an dafür gebraucht werden, die mütterlichen Ängste zu mildern oder ihr wegzunehmen. Sie bleiben auf ihren eigenen Ängsten sitzen, während sie ihre Lebendigkeit dafür verwenden, die Mutter in ihrer Not zu unterstützen. In gewisser Weise geben sie ihr Leben für das Leben der Mutter, weil sie unbewusst wissen: Wenn die Mutter stirbt, werden sie ebenfalls sterben.

Zurück gelassen wird ein Bündel voller Angst, das sich fühlt „like a motherless child“ (Nina Simone). Da dies unerträglich ist, wird es abgespalten. So entsteht ein kleiner Mensch, der auf der einen Seite der „Retter der Mutter“ ist und auf der anderen Seite voller Angst ist, verbunden mit Hass auf ebendiese Angst. Indem ich meine eigene Angst hasse, hasse ich mich selbst. Zu diesem Hass und zu dieser Angst gehört ein Ur-Misstrauen, ein Sich-verfolgt-Fühlen und ein ständiges auf der Flucht-Sein. Die große Sorge ist: Gibt es mich überhaupt? Gibt es mich für mich selbst? Habe ich einen Eigenwert, einen Selbstwert, oder besteht mein Wert genau darin, die Mutter, die Anderen zu retten, zu befriedigen?

Als Erwachsene werden solche Menschenkinder gerne Ärzte, oder Therapeuten oder auch Pfarrer. Da sich aber Abgespaltenes, das doch zu einem selbst gehört, nicht einfach „ausschalten“ oder eliminieren lässt, meldet es sich zum Beispiel in Form von Albträumen. Auf-der-Flucht-sein, oder von einem Mörder Verfolgt-Werden ist ein häufiges Motiv. Und das Abspaltene meldet sich in Form von Triebdurchbrüchen. Alkoholexzesse, sexueller Missbrauch, Pornographie usw.

In unserem heutigen Predigttext, einem Abschnitt aus dem ersten Korintherbrief des Paulus, ist von solchen Triebdurchbrüchen die Rede. Und alles, was Paulus dazu einfällt, ist das, was der Kirche bis heute dazu einfällt: Diese Handlungen der „Täter“ zu verurteilen – ohne jegliches Verständnis, wie es dazu kommen konnte.

Doch hören Sie selbst:

(Oder) wisst ihr nicht, dass die Ungerechten das Reich Gottes nicht ererben werden? Täuscht euch nicht! Weder Unzüchtige noch Götzendiener noch Ehebrecher noch Lustknaben noch Knabenschänder noch Diebe noch Habgierige noch Trunkenbolde noch Lästerer noch Räuber werden das Reich Gottes ererben. Und solche sind einige von euch gewesen. Aber ihr seid reingewaschen, ihr seid geheiligt, ihr seid gerecht geworden durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes.
Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll Macht haben über mich. Die Speise dem Bauch und der Bauch der Speise; aber Gott wird das eine wie das andere zunichtemachen.
Der Leib aber nicht der Hurerei, sondern dem Herrn, und der Herr dem Leibe. Gott aber hat den Herrn auferweckt und wird auch uns auferwecken durch seine Kraft.

Wisst ihr nicht, dass eure Leiber Glieder Christi sind? Sollte ich nun die Glieder Christi nehmen und Hurenglieder daraus machen? Das sei ferne! Oder wisst ihr nicht: Wer sich an die Hure hängt, der ist ein Leib mit ihr? Denn die Schrift sagt: »Die zwei werden ein Fleisch sein« (1. Mose 2,24). Wer aber dem Herrn anhängt, der ist ein Geist mit ihm. Flieht die Hurerei! Alle Sünden, die der Mensch tut, sind außerhalb seines Leibes; wer aber Hurerei treibt, der sündigt am eigenen Leibe. Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch ist und den ihr von Gott habt, und dass ihr nicht euch selbst gehört?

Denn ihr seid teuer erkauft; darum preist Gott mit eurem Leibe.“

Welch ein Text, liebe Gemeinde!

Voller rechthaberischer Moral, verbunden mit der dazu gehörigen Überheblichkeit eines „Moralapostels“. Vier Mal schleudert Paulus ein „Wisst ihr nicht …!“ den „Übeltätern“ entgegen. Frei übersetzt: „Wie idiotisch seid ihr eigentlich?!“

Natürlich wissen sie es. Gerade so wie jeder Mensch weiß, dass er seinem Körper nichts Gutes tut, wenn er raucht, Alkohol trinkt, Fettes isst. Gerade so wie jeder Mensch weiß, dass es keine Heldentat ist, ins Bordell zu gehen. Oder seinen Partner/Partnerin zu betrügen. „Alles ist erlaubt, aber nichts soll Macht über mich haben“ (Vers 12b). Wunderbar. Schön wäre nur, wenn Paulus noch hinzufügen würde, wie „man“ das hinkriegt. Offenbar ist ein quälendes schlechtes Gewissen, offenbar sind peinigende Schuld- und Schamgefühle allein kein Mittel, das eigene Verhalten zu ändern. Im Gegenteil: Sie sind eingebaut in dem süchtigen Kreislauf von Triebdurchbruch, Schuld und Scham, sich schwören so etwas nie wieder zu machen … bis zum nächsten Triebdurchbruch. Solcher Art Moralpredigten tragen bis heute sehr zur Unglaubwürdigkeit von Religion bei. Wenn dann noch heraus kommt, dass sich die Amtsträger selbst nicht an das halten, was in ihrer Bibel steht, dass sie selber nicht leben, was sie predigen, dann ist das ohnehin schon geschmolzene Vertrauenskapital aufgebraucht. Und es ist sehr verständlich, wenn sich die Menschen zuhauf von den Kirchen abwenden.

Glaubwürdigkeit entsteht, wenn das öffentliche Reden oder Predigen eines Menschen im Großen und Ganzen im Einklang mit seinen Handlungen, mit seinem Leben als Ganzem steht. Ein Leben in Heiligkeit ist ein Leben „aus einem Guss“ (Martin Buber). Das Gegenteil davon ist Schein-Heiligkeit, ist, mit gespaltener Zunge zu reden. So entsteht Doppelbödigkeit. (Sie erinnern sich: Die Matrix dieser Doppelbödigkeit ist die Spaltung zwischen dem „braven“ „erwünschten“ und gelobten Befriediger-Baby und den Ängsten, dem Misstrauen, dem Hass dieses Babys. Für diese Gefühle gibt es keinen Platz: weder in der frühem Mutter-Beziehung noch bei Paulus und seinen Nachfolgern!)

Der erste Schritt auf dem Weg hin zu ganzheitlichem („heiligem“) Leben ist, sich selbst nüchtern und kritisch kennenlernen zu wollen: „Was ist es denn in mir, was mich da so wütend macht?“ Zu dieser selbstkritischen Frage ist Paulus offenbar nicht fähig. Ich vermute, es sind bei ihm dieselben Gefühle, die auch heute zu Wut und Hass führen. Es sind Gefühle des Ohnmächtig-Seins, des Sich-ausgeliefert, Sich-hilflos-Fühlens. Der „Andere“ (mein „Nächster“!) lebt nicht nur anders als ich – er ignoriert auch noch meine Werte, setzt sich möglicherweise triumphal oder auch nur ignorant darüber hinweg. Es ist die Macht-Ohnmacht-Schaukel, die zu verlassen solange unmöglich ist, wie ich meine, damit „vergebe“ ich mir etwas. Solange ich der Überzeugung bin: Ich muss an meinem Recht-Haben mit aller Gewalt festhalten.

Es ist für mich kein Zufall, dass in demselben Brief, in dem sich Paulus hemmungslos seinem Zorn, ja Hass überlässt – vgl. Kapitel 5, wo er allen Ernstes rät, ein Gemeindeglied dem Satan zu überlassen: „zum Verderben des Fleisches, auf dass sein Geist gerettet werde“ (im übrigen eine wunderschöne Rechtfertigung für die selbsternannten Großinquisitoren aller Zeiten) – dass in eben diesem Brief einer der schönsten Texte über die Liebe sich findet, das bekannte „Hohe Lied der Liebe“ (1. Korinther 13).

Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu …“ (1. Korinther 13, 4-5) Ganz offenbar ist es Paulus in unserem Textabschnitt (noch?) nicht gelungen, seinem eigenen Hass Einhalt zu gebieten. So ist er aus der Liebe, die er selbst im 13. Kapitel predigt, herausgefallen. Auch steht ihm ein anderer Gedanke, den er im Römerbrief ausformuliert, (noch?) nicht zur Verfügung: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ (Römer 12, 21)

Was lernen wir daraus?

Erstens: Gegenüber unseren Emotionen hat der Verstand, hat unser Wissen alleine keine Chance. Deshalb ist etwas zu predigen viel einfacher als das Gepredigte selbst vorzuleben. Dies erleidet jeder Prediger, der die Kraft zu nüchterner Selbstkritik aufbringt. Indem er sich seine eigene vermeintliche „Schwäche“ eingesteht, wird sich auch der Inhalt seines Predigens in Richtung Barmherzigkeit verändern.

Zweitens: Sich über andere zu empören ist viel leichter, als zu versuchen, das Fremde, das Andere, das mir und meiner Haltung zum Leben Entgegenstehende zu verstehen. Und verstehen heißt ja nicht für gut heißen!

Drittens: Im Hebräischen bedeutet jadaʿ nicht nur rational zu wissen, sondern ganzheitlich zu erkennen, bis hin zum Geschlechtsakt von Mann und Frau (1. Mose 4). In diesem „liebevollen Erkennen“ geschieht, was Paulus in seinem Hohen Lied der Liebe besingt. Von daher könnte man mit Paulus gegen Paulus auch sagen: „Alles ist mir erlaubt, aber nurmehr die liebevolle (Selbst-)Erkenntnis soll Macht über mich haben. Solange ich in ihr bleibe, solange bleibt sie in mir. Und gerade so erfreue ich mich meines leibhaftigen Lebens als winziger Teil einer großartigen Schöpfung!

Oder – in den Worten von Theresa von Avila:

Tu deinem Körper etwas Gutes, damit die Seele Lust hat, darin zu wohnen“ AMEN.

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