Predigt über Johannes 21, 15-19 am Sonntag Miserikordias (1. Mai 2022)

Liebe Gemeinde,

Hirtensonntag hat man den heutigen 2. Sonntag nach Ostern genannt. Im Mittelpunkt steht das Bild des guten Hirten, der bei seiner Herde bleibt, auch wenn es gefährlich wird.

Auf der anderen Seite steht der „schlechte Hirte“, der „Mietling“, der Taglöhner, der die Herde im Angesicht der „Wölfe“ – der Gefahr – verlässt.

Dahinter steht die Idee, dass sich Menschen für ihr „ganz Eigenes“ anders verantwortlich fühlen, als für Fremdes. Meine eigene Wohnung, mein eigenes Geld, mein eigener Körper. Deshalb sehen „öffentliche“ Räume einschließlich Straßen oder Plätze oft so aus, wie sie aussehen.

Von der Idee des Eigenen geht eine andere Kraft aus als von der Idee des „Gemeinschaftlichen“. „Es gehört mir ja nicht – also warum sollte ich mich darum kümmern?“ Es setzt eine hohe soziale Kompetenz voraus, – die nicht vom Himmel fällt, sondern erlernt werden muss – sich für etwas, das einem nicht gehört, gerade so einzusetzen, als wäre es das Eigene.

Mit und in Jesus sind die Gedanken der Bedeutung des „Eigenen“ auf der Welt. Er versteht sich selbst nicht als Mietling sondern als guten Hirten: „Ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich!“

Dies wiederum ist ein Abbild seiner ganz eigenen Beziehung zu seinem Vater.

(Nebenbei: Diese Welt sähe ziemlich anders aus, wenn die Menschen in führenden Positionen sich als „gute Hirten“ verstehen würden. Dem guten Hirten ist eine gute, glaubwürdige Autorität zu eigen, dem sich seine „Herde“ freiwillig und nicht aus Angst anvertraut. Die schlechten, autokratischen Hirten wissen in der Tiefe ganz genau, dass ihre Position davon lebt, dass ihre Herde genügend Angst vor ihnen hat. Sie führen über Strafandrohung – und nicht über Liebe.)

Klammer zu.

Diese Gedanken umrahmen den heutigen Predigttext, bei dem es um die Frage geht: Wie geht es weiter, wenn Jesus nicht mehr sichtbar anwesend sein wird, wenn er „zurückkehrt zu seinem Vater“?

Es geht um die „Nachfolge“ genauer die „Nachfolger“ Jesu!

Wir wissen: Die Kirche gilt als Nachfolge-Organisation des Predigers Jesus aus Nazareth. Ein Theologe hat das so formuliert: „Jesus wollte das Reich Gottes, gekommen aber ist die Kirche!“

Und während sich alle vier Evangelien darin einig sind, dass der von Jesus selbst berufene Nachfolger Simon, der „Fels“ (Petrus) heißt, wird nur im Johannesevangelium sein Auftrag explizit als Hirten-Auftrag formuliert. Bei Matthäus ist er der „Fels“, auf dem Jesus seine Kirche bauen will. Sie merken schon vom Bild her: Fels ist ein statisches Bild.

Ganz anders und viel dynamischer wird der Auftrag des Petrus im Johannesevangeliums benannt: Da heißt der Auftrag: „Weide meine Lämmer!“

Doch hören Sie selbst:

15 Da sie nun das Mahl gehalten hatten, spricht Jesus zu Simon Petrus: Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr, als mich diese lieb haben? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Lämmer! 16 Spricht er zum zweiten Mal zu ihm: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Schafe! 17 Spricht er zum dritten Mal zu ihm: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb? Petrus wurde traurigzu, weil er zum dritten Mal zu ihm sagte: Hast du mich lieb?, und sprach zu ihm: Herr, du weißt alle Dinge, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Schafe! 18 Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Als du jünger warst, gürtetest du dich selbst und gingst, wo du hinwolltest; wenn du aber alt bist, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und führen, wo du nicht hinwillst. 19 Das sagte er aber, um anzuzeigen, mit welchem Tod er Gott preisen würde. Und als er das gesagt hatte, spricht er zu ihm: Folge mir nach!

Nachfolger Jesu sein, heißt: dienen – nicht herrschen.

Heißt führen – nicht verführen.

Heißt liebevoll sorgen – nicht missbrauchen.

„Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.“ (Joh 13, 35) Eine weiterer Nachfolgesatz aus dem Johannesevanglium. Und die Überschrift des Ganzen findet sich auf den Punkt gebracht im ersten Brief des Johannes:

„Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm …“

(1. Joh. 4, 16)

So weit, so gut. Ich weiß schon: Das ist schön und leicht gesagt – aber lässt es sich auch leben, ist das alltagstauglich?

Für die vielen Menschen, die der Kirche inzwischen den Rücken kehren, ist es das offensichtlich nicht. „Lebt erst mal das, was ihr predigt…!“

Zu ihrer Verteidigung könnten die Nachfolger Petri vorbringen, dass Petrus selbst niemand ist, der vorbildlich gelebt hat. Er neigte zu Zornesausbrüchen, hieb dem Soldaten das Ohr ab, er wollte Jesus davon abhalten, von seinem Leiden zu sprechen – so dass ihn Jesus als „Satan“ bezeichnete (Matthäus 16, 22b) … und er hat seine Beziehung zu Jesus drei Mal verraten!

Mit einem Wort: Petrus war ein „sündiger“ Mensch – gerade so wie wir alle.

Und eben diesem Petrus spricht Jesus sein Vertrauen aus – allerdings nicht, ohne ihn vorher zu prüfen.

Und diese Prüfung ist nun eine sehr merkwürdige:

Dreimal stellte er ihm ein und dieselbe Frage: „Petrus, liebst du mich?“

Im Griechischen gibt es zwei Wörter für „lieben“:

„agapao“ und „phileo“.

Phileo ist die mit Begehren verbundene Liebe. Es ist mehr ein „ich habe lieb“ als ein „ich liebe“. „Phileo“ ist immer eine begrenzte Liebe.

Es ist die Liebe zu einem Hobby, zu einem Beruf, zu einem konkreten Menschen.

Das Gegenteil von „phileo“ ist „phobeo“ – wörtlich erschrecken.

Phileo drückt Hinwendung aus – Phobeo Abwendung.

In der Psychologie werden damit konkrete Befürchtungen ausgedrückt: Hundephobie, Klaustrophobie … usw.

Demgegenüber ist „Agapao“ eine „allumfassende“ Liebe. Das meint eine ganzheitliche Haltung zum Leben, die aus dem Vertrauen, der radikalen Hinwendung an das Leben stammt. In ihr sind die Befürchtungen und Ängste gebunden und verwandelt. Sogar die Todesangst. In ihr hat selbst der Tod seinen Schrecken verloren. In dieser Haltung habe ich mich fallen gelassen in die Hände eines gütigen Gottes. Und aus dieser Haltung heraus entstehen (neue) Gedanken wie:

Ich verstehe zwar nicht, was ich gerade erlebe, aber es wird schon für irgend etwas gut sein.

Oder: Ich überlasse mich dem, was gerade ist. Ich gebe mich ganz hin.

Und in dieser Hingabe gebe ich meinen Trotz, mein Murren, mein „Motzen“ aus.

In dieser Haltung drückt sich eine gesunde Resignation aus. In ihr gebe ich die große Täuschung auf zu meinen, ich bin der Architekt und Lenker meines Lebens.

Ich hätte mein Leben im Griff. (Gerade für uns Männer ist das eine große Herausforderung, da wir doch so gern alles im Griff haben …)

Es ist ein Missverständnis, diese Haltung als Sünde zu deklarieren. In der ersten Hälfte unseres Lebens ist die natürliche, gesunde Haltung ein:

„Ich entwerfe mein Leben selbst!“

Hierher gehört der Satz Jesu: „Als du jünger warst, gürtetest du dich selbst und gingst, wo du hinwolltest; wenn du aber alt bist, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und führen, wo du nicht hinwillst.“

Erst im Übergang zur zweiten Lebenshälfte wächst die Erkenntnis: Es gibt eine „Vorgängigkeit“, in die ich hineingeboren bin. Und es gibt eine Ohnmacht, ein Ohne-Macht-Sein. Wer damit nicht umgehen kann, tut sich schwer damit, alt zu werden.

Jesus also fragt Petrus drei Mal, ob er ihn „lieb habe“. Zweimal verwendet er „agapao“ beim dritten Mal „phileo“. Und Petrus antwortet dreimal mit „phileo“.

Anders ausgedrückt: Zu diesem Zeitpunkt hat Petrus (noch) keinen Zugang zu „Agape“ – zu dieser umfassenden Lebenshaltung.

Die mit Agape gemeinte Liebe kann man sich nicht erarbeiten. Man kann sie sich nur schenken lassen – und dazu bedarf es eines „Bereit-Seins“.

Die Schwierigkeit ist, dass Agape vertraute Sicherheiten gefährdet.

Sie unterläuft mühsam errungenen Strukturen menschlichen Zusammenlebens. In Agape zerfällt die Welt nicht länger in falsch und richtig, gut und böse. Und das verunsichert. Die Repräsentanten eines Establishments, – sei das eine Gemeinschaft, eine Kirche, eine Firma, ein Staat – wollen diesen Zerfall nicht. Sie sind wesentlich „konservativ“ – wörtlich: „bewahrend“. Sie sind die Gegenspieler von „agape“ und von solchen Predigern der Liebe wie Jesus. „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, sagen sie.“ Und so wird die Liebe ein um das andere Mal getötet. In Liebe hat sich jede Kontrolle erübrigt.

Petrus wird vor dem religiösen Establishment, dem „Hohen Rat“ (Synhedrium) sagen: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. Der Gott unserer Väter hat Jesus auferweckt, den ihr ermordet habt, indem ihr ihn ans Holz hängtet …“

Und die Mitglieder des Hohen Rates „ergrimmten als sie es hörten und beratschlagten, Petrus und Johannes umzubringen“ (Apg. 5, 29-33)

Hier begegnen wir einem mutigen Petrus, einem Petrus, der sich, seinen Glauben und seine Überzeugungen nicht mehr verleugnet. Als Petrus dies sagt, ist das Christentum noch „jung“ und „flüssig“. Es finden sich noch keine hierarchischen Strukturen, es gibt noch kein Establishment. Dies geschah erst im Übergang von der Reich-Gottes-Predigt Jesu hin zur Kirche. Und dieser Übergang war dadurch erzwungen, dass die Erwartung, Jesus werde in unmittelbarer Zukunft zurückkehren „zu richten die Lebenden und die Toten“, dass diese Erwartung unerfüllt blieb.

Und so wurde aus der jesuanischen Idee des Reiches Gottes die Kirche.

Innerhalb derer immer wieder Menschen aufgestanden sind, die ihre dogmatische Verkrustung kritisierten. Das waren insbesondere die Mönche. Und so ist es kein Zufall, dass der große Kirchenreformer Martin Luther ursprünglich Augustiner-Mönch gewesen ist.

Unsere Kirche braucht keine „makellosen Menschen“, die ihre reine Weste pflegen. Sie braucht „Hirten“, die diesen Mut ausstrahlen, den Petrus damals predigte:

„Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen!“

Und sie braucht „Lämmer“, die sich nicht blindlings von ihren Hirten führen lassen. Die eine Freude daran haben, selbstständig zu denken, und den Mut besitzen, sich selbst und ihre Gedanken dem/den Anderen zuzumuten.

Die verbreitete Harmoniesehnsucht ist tödlich für lebendige Beziehungen. Dies gilt auch und gerade in kirchlichen Kreisen.

Unsere Kirche braucht Menschen, wie jene russische Journalistin, die ein Plakat in der Nachrichtensendung hochhält, wo darauf hingewiesen wird, wie sehr diese Nachrichten auf Propaganda fußen. Ein guter Hirte ist ein mutiger Hirte. AMEN.

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