Liebe Gemeinde!
Vor allem anderen sind wir Menschen Tiere.
Genauer: Wir sind Säugetiere.
Das bedeutet: Es gibt eine Zeit, in der können wir nur überleben, wenn wir von jemand Anderem genährt werden. Oder anders ausgedrückt: Wir waren alle zu Beginn unseres Lebens „schlechthin“ (Schleiermacher) abhängig. Und das waren nicht nur Tage oder Wochen; es waren Jahre!
Je schlimmer unsere Erfahrungen mit Abhängigkeit gewesen sind, je ohnmächtiger und ausgelieferter wir uns gefühlt haben, je hungriger und einsamer, desto stärker ist in uns der Wunsch gereift: Ich muss es schaffen, nicht mehr abhängig zu sein. Ich darf niemand mehr brauchen. Ich muss stark werden.
Die Gefühle der Hilflosigkeit haben damit zu tun, nichts im Griff zu haben, nichts kontrollieren zu können. Und genau so ist es am Anfang unseres Lebens auch gewesen: Ob und wann jemand gekommen ist, der uns Nahrung gegeben hat, uns gereinigt hat, sich uns einfach nur zugewendet hat: Wir hatten es nicht in der Hand. Aber wir haben gefühlt und gespürt. So schwach und wenig entwickelt unser Denken gewesen ist, so ausgeprägt ist unser Fühlen und Empfinden gewesen. Der in den 50ern verbreitete Rat an die deutschen Mütter hieß: Füttere nach der Uhr (alle 4 Stunden). Ansonsten lass dein Baby schreien. Sonst ziehst du dir einen Tyrannen heran. Eine Ur-Erfahrung des kleinen Menschenkindes war: Es geht um Mechanik – ich kann mein Leben, ob ich etwas bekomme, ob jemand kommt, in keiner Weise mitgestalten. Das kann so weit gehen, dass ein solcher Mensch seinen Körper eben für eine (seelenlose) Maschine hält.
Die Gefühle der Abhängigkeit und Hilflosigkeit entstehen im Kommen und Gehen, im Dasein und Wegsein der nährenden, lebensrettenden und
lebenserhaltenden Quelle. Die natürliche Quelle für Säugetiere aber ist die Milch gebende Brust. Daraus wurde im AT das „Land, wo Milch und Honig fließen“.
In der christlichen Liturgie ist die Zeit zwischen Ostern und Pfingsten die Zeit, in der es um die endgültige Trennung von Jesus geht. Oder, zurückübersetzt in unsere Zeit als Babys: Es geht um das endgültige Abgestillt-Werden.
Wie soll ich überleben, wenn du, die Quelle meines Lebens, weg bist?
Die Antwort, die wir heute hören, lautet: „Aber ich sage Euch die Wahrheit: Es ist ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, werde ich ihn zu euch senden. Und wenn er kommt, wird er der Welt die Augen auftun über die Sünde und über die Gerechtigkeit und das Gericht.“ (Johannes 16, 7-8)
Für kleine Kinder ist der Trost, wenn die Mama und mit ihr die Brust weg ist, ein „Ersatz“: ein Schnuller und/oder ein Stofftier. Winnicott hat das „Übergangsobjekt “ genannt: Ein „Objekt“, das den Übergang von der Mutter hin zu einem Leben in Getrenntheit von ihr, erleichtert.
Dazu bedarf es in der mentalen Welt des Kindes eines „mentalen Objektes“: Dass nämlich diese ursprüngliche seligmachende Quelle allen Lebens gar nicht verschwunden ist, sondern nur nicht mehr im Außen sichtbar. In der christlichen Theologie ist das die Geburtsstunde des Heiligen Geistes, den das Johannesevangelium durchgängig als „Tröster“ bezeichnet. Tröster heißt im Griechischen aber „Parakletos“ – und das heißt wörtlich: der Herbeigerufene. Und so passt es, dass unser heutiger Sonntag „Exaudi“ heißt, entlehnt aus einem Psalmwort (Ps. 27, 7): „Herr, höre meine Stimme, wenn ich rufe!“ Und weiter heißt es: „Sei mir gnädig und antworte mir!“ Dies ist die eigentliche Gnade, das eigentliche Geschenk – eine gnädige, also liebevolle und barmherzige Antwort auf den Ruf unserer Seele zu bekommen. Und wenn es weiter im Psalm heißt: „Verbirg dein Antlitz nicht vor mir, verstoße nicht im Zorn deinen Knecht“ (V. 9) – so wird klar worum es geht: Es geht um die Hölle des Verlassen-Werdens, des Aus-der-Gemeinschaft-ausgestoßen-Werdens. Es ist nämlich so, dass wir in frühen Zeiten die Abwesenheit der nährenden Quelle als Zorn auf uns erleben. So wird auch verständlich, dass der Paraklet ins Lateinische mit Advocatus übersetzt worden ist: Der Beistand also bei Gericht.
„Sei mir gnädig und antworte mir …!“ Antwort ist etwas ganz anderes als ein Echo, in dem mein eigener Ruf auf mich selbst zurück fällt und meine gefühlte Einsamkeit mal um mal verstärkt. Der vereinsamte Mensch hat sich in seine Einsamkeit zurück gezogen, weil die Antworten, die er bekommen hatte, unbarmherzige und verständnislose gewesen sind. Er geht zutiefst davon aus, etwas falsch gemacht zu haben, ja falsch zu sein. Antworten heißt: Dem Anderen zum Gegenüber zu werden. Erst so und nur so ist das Wahrnehmen des Anderen als eines Anderen möglich.
Nicht nur aber auch in kirchlichen Kreisen wird gerne ehrliche Auseinander-Setzung zu gedeckt mit einer vereinheitlichenden Harmonie-Sauce. Dann muss ich meine Ängste nicht spüren:
Hält der Andere mein Eigen-Sein aus? Wie steht er zu mir, wenn ich anderer Meinung bin als er? Wie steht er zu mir, wenn mein eigener Standpunkt deutlich wird? Lässt er mich dann fallen wie eine heiße Kartoffel? Der demokratische Diskurs sei es in der Politik, in der Familie und nicht zuletzt in der Kirche, lebt von dem Vertrauen, dass Lebendigkeit erwünscht ist. Und von dem Mut, sich selbst in seiner eigenen Lebendigkeit auch zuzumuten. Je diktatorischer ein Gemeinschaft ist, je mehr sie zum „Regime“ geworden ist, desto mehr Mut bedarf es, sich in seinem Eigenen zuzumuten. Es ist viel leichter, hinter dem Rücken „Dampf“ abzulassen, zu „motzen“, als direkt für das Eigene einzutreten. So ist z.B. mein Eigenes, nur einen der beiden Sonntags-Gottesdienste in Solln zu halten. Ich weiß, dass es einfacher und „verdienstvoller“ wäre, würde ich beide übernehmen. Ist mir aber zu viel. Ich kann dann nicht so Gottesdienst halten, wie ich es gerne möchte. Sein Eigenes auf die Welt bringen und zumuten bedeutet auch, einen gesunden Egoismus zu leben!
Und riskieren, sich unbeliebt zu machen. Es kann sein, dass ich dann nicht mehr gebraucht werde. Und dann brauche ich meine Freiheit, aus der heraus ich sagen kann: Ja, dann halt nicht!
Sich zumuten hat mit Mut zu tun.
Für Paulus ist es der Heilige Geist, der diesen Mut uns schenkt:
„Der Geist hilft unserer Schwachheit auf …“, heißt es am Anfang des heutigen Predigttexts. Es ist ein Abschnitt aus dem Römerbrief, Kapitel 8, 26 – 30.
Und weiter: „… denn wir wissen nicht, was wir beten sollen“. Genau dies wird im autoritär-diktatorischen Denken vermieden: Unwissenheit gibt es nicht. Der diktatorische Führer weiß alles!
Wir aber wissen nicht.
Das Christentum ist (nicht in seiner Verwirklichung, aber von seiner Idee her) eine Gemeinschaft der Nicht-Wissenden. In diesem Nicht-Wissen sind wir angewiesen auf eine Kraft, die „von außen“ kommt. Denn das wissen wir: An unserem eigenen Schopf können wir uns nicht aus dem Sumpf unserer Ängste ziehen.
Erst über das Eingeständnis des eigenen Nicht-Wissens, der eigenen Schwäche hat der Heilige Geist eine Chance. Wer immer schon alles weiß, der bedarf keines Heiligen Geistes. „Selig sind die Armen im Geiste …“ sagt Jesus.
Und wie tritt der Heilige Geist für uns ein? “ … mit unaussprechlichem Seufzen …“ Der Heilige Geist wirkt nicht in und über unseren wissenden Verstand. Er wirkt da, wo keine Sprache hinkommt, im Dunkel des Vorsprachlichen, da wo es zugeht wie vor aller Schöpfung, vor aller Strukturbildung. „Und die Erde ward wüst und leer, und Finsternis lag auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser“ (1. Mose 1, 2)
Indem wir uns diesem Geist überlassen, bekommen wir einen Begleiter, der uns nicht mehr verlässt. Einen, der „mit uns geht, der’s Leben kennt und uns versteht …“
Verstehen, Zusammenhänge dort sehen, wo wir bislang keine Verbindungen erkennen konnten – dies alles ist Wirken des Heiligen Geistes. Er bringt ein Licht in unsere Ahnungslosigkeit in unser „keine Ahnung haben“. Dies kann sehr schmerzhaft sein – aufs Ganze gesehen aber dient es unserer Gesundung.
S. Freud bezeichnet an einer Stelle den Gott der von ihm so genannten „Psychoanalyse“ als „Logos“. „Logos“ ist aber nichts anderes, als die Übersetzung des hebräischen Wortes für Geist (ruach) ins Griechische. In dieser Übersetzung hat er das Sinnliche, Vorsprachliche, das er im Alten Testament hat, eingebüßt. An seine Stelle ist die Verstandes-Logik der griechischen Philosophie getreten.
Unser Geist, der Heilige Geist wirkt aber nicht nur im Denken – er beginnt mit „unaussprechlichem Seufzen!“ Und in dieser Finsternis und in diesem ganzen Un-Wissen, gibt es doch etwas, was wir wissen: „Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach seinem Ratschluss berufen sind“ (Vers 28).
Entscheidend ist der Einschub: „… nach seinem Ratschluss …“
Es ist Gottes „Ratschluss“ oder auch „Vorsatz“, uns Menschen dahin zu bringen, dass wir lieben lernen. Und genau das meint unser Wochenspruch: „Wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich alle zu mir ziehen.“ Übrigens steht hier „alle“ und nicht: die Frommen, die Kirchgänger, die Katholiken, die Protestanten …
Paulus, der Intellektuelle, nimmt diesen Gedanken zum Ausgangspunkt für ein Nachdenken darüber, wer von Gott auserwählt ist, – er nennt das „Vorherbestimmung“. Damit entsteht das Problem der Nicht-Auserwählten. Dahinter steht die Frage nach der Verdammnis: die Auserwählten sind die „Gerecht-Gemachten“, die Nicht-Auserwählten sind die Verdammten. Dies ist ein Denken, das gefangen bleibt in Gut-Böse-Spaltungen.
Mir hilft da ein Satz von Rumi weiter:
„König, Dieb, Heiliger, Verrückter – Die Liebe ist wie ein Hund. Sie packt uns alle beim Genick. Und schleppt uns zappelnd zu Gott auf manchem Schleichweg.
Wie hätte ich es jemals ahnen können, dass sich auch Gott nach uns verzehrt?“ (Rumi)
Das Problem ist nicht, dass sich Gott, der die Liebe ist, von uns abwendet, uns im Stich lässt.
Das Problem ist, dass wir verführbar sind, uns von der Liebe, die Gott ist, abzuwenden.
Die Verführung ist dann am wirksamsten, wenn es uns schlecht geht. Ein Baby, ein kleines Kind, das wirkliche Armut erlebt hat, das sich ausgeschlossen fühlte vom Wohlstand der Anderen, für das ist es naheliegend, seine Haltung zum Leben auf das Axiom: „Nie wieder arm sein!“ zu setzen. Es erlebt jede Form von Bedürftig-Sein als Schwäche, die unter allen Umständen zu vermeiden ist. Schwäche aber vermeide ich am sichersten, indem ich mich und meine Umwelt kontrolliere. Dazu aber brauche ich Macht.
Das ist – sehr vereinfacht – die Dynamik der Machthaber*innen, die sich in allen Gemeinschaften, gerade auch religiösen, findet.
Sich von der Liebe leiten zu lassen heißt zunächst einmal, sich seine eigene Ohn-Macht, sein eigenes Ohne-Macht-Sein eingestehen zu können. Ich sage absichtlich: sich eingestehen zu können, denn es bedarf einer starken Kraft, die mir dazu verhilft, dass ich schwach sein darf. Noch einmal: „Der Geist hilft unserer Schwachheit auf!“
Diese Botschaft kann nur diejenigen erreichen, die um ihre Schwäche wissen. Sie sind die „Berufenen der Liebe“. Berufene der Liebe heißt, ein offenes Ohr für den Ruf der Liebe haben. Sie und nur sie können auch getröstet werden. Die bekannten Seligpreisungen bezeichnen sie als „selig“.
Oder, frei nach Rumi: „Selig, wer die Kraft hat, sich von der Liebe beim Genick packen zu lassen und sich zu Gott schleppen zu lassen.“ Der Weg ist dabei nicht so wichtig: Es kann ein Umweg, es kann ein Schleichweg, es kann ein Holzweg sein. Alles aber hängt davon ab, wirklich zu glauben, dass sich der Gott, der die Liebe ist, danach sehnt, dass du zu ihm kommst.
Alles hängt davon ab, dass du beginnst zu glauben, gerade so, wie du bist, bist du liebenswert, erwünscht und willkommen. AMEN.