Liebe Gemeinde,
die christliche Botschaft macht nicht vor Volks- und Landesgrenzen Halt. Sie gilt ausnahmslos allen Menschen. Darum geht es an diesem dritten Sonntag nach Epiphanias. Gottes Liebe gilt einem römischen Hauptmann genauso wie einer Ruth. Sie ist eine gebürtige Moabiterin und wird durch ihre Treue zu ihrer jüdischen Schwiegermutter und zu deren Glauben zur Urgroßmutter Davids. Würden wir heute einen Präsenzgottesdienst feiern, hörten Sie eine Predigt über diese Geschichte. Im Rahmen dieses verkürzten Online-Gottesdienstes ist dies leider nicht möglich. Stattdessen ein paar Gedanken zur christlichen Botschaft als solcher.
Noch einmal: Die christliche Botschaft von der universalen Liebe Gottes kennt keine Grenzen: Sie gilt Männern wie Frauen, auch Diversen, sie gilt Einwohnern aller fünf Kontinente, sie gilt Bürgern aller Staaten.
Dem entspricht der Wochenspruch für den heutigen Sonntag: „Und es werden kommen von Osten und von Westen, von Norden und von Süden, die zu Tisch sitzen werden im Reich Gottes.“ (Lukas 13, 29)
Weggelassen ist freilich der Vers, der unmittelbar vor diesem 29. Vers steht: „Da wird sein Heulen und Zähneklappern, wenn ihr sehen werdet Abraham, Isaak und Jakob und alle Propheten im Reich Gottes, euch aber hinausgestoßen.“
Also doch Grenzen. Herbe Grenzen: Grenzen, die durch Exkommunikation gekennzeichnet sind. „Mit euch will Gott nichts zu tun haben!“
Wen Jesus und oder Lukas damit meinen, ist nicht wirklich klar. Sie werden einfach „Übeltäter“ genannt – wörtlich „Ungerechte“. Aus dem Zusammenhang ergibt sich, dass es solche sind, die Geld in ungerechter Weise anhäufen.
Ich erspare mir und Ihnen Analogien zur Gegenwart.
Es ist auch ein Teil christlicher Verkündigung, Unangenehmes einfach weg zu lassen.
Es ist doch viel schöner, viel harmonischer, viel angenehmer, von der grenzenlosen Liebe Gottes zu predigen. Eine Liebe, die sogar stärker ist als der Tod.
Nur: Alles, was wir weglassen, übergehen, ignorieren, das verschwindet dadurch nicht. Es wandert in den Untergrund. Dort gärt es.
Und so entsteht ein doppelter Boden: Es gibt die wunderschöne Oberfläche, auf der ist alles Hochglanz poliert, und es gibt den muffigen Keller, in dem die Leichen sich stapeln. Die Geschichte des Christentums ist auch eine blutige! Ist auch eine Geschichte der Ignoranz und der Verleugnung des Grausamen – bis in die Gegenwart hinein. Stichwort: Missbrauch!
Religion hat es in der Tiefe nicht mit Fragen der Moral, mit Fragen nach richtigem oder falschem Leben zu tun. Religion hat mit Sein zu tun. Mit Mensch-Sein, mit Tier-Sein, mit Pflanze-Sein, mit Geschöpf-Sein.
Religion hat – vor aller Moral – mit Leben und mit Lebendig-Sein zu tun.
Der Hauptmann von Kapernaum betet und bittet um die Gesundheit seines Knechtes, „der ihm lieb und wert war“ (Lukas 7, 2b). Der Knecht ist ein Diener. Im Griechischen wird er „doulos“ genannt: Das meint eigentlich den Sklaven, den Leibeigenen. Nun ist spannend, dass in dem Satz: „Sprich nur ein Wort und mein Diener wird gesund“ das Wort für Diener “pais“ heißt. Pais aber bedeutet „Kind“. (Sie kennen das Wort im Deutschen zum Beispiel von „Pädagogik“ – wörtlich: Die Lehre vom Führen/Erziehen von Kindern!)
In der Liturgie der katholischen Kirche wird dieses Wort an der intimsten Stelle der Messe gesprochen: In der Eucharistiefeier, während der Konsekration also des Sich-Wandelns von Brot und Wein in Leib und Blut Christi, sprechen die Gläubigen kniend: „Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach; aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“
Aus dem Knecht, aus dem Kind ist die Seele geworden. Sie ist von mir, von meinem bewussten und rationalen Ich gerade so abhängig, wie ein Kind von seinen Eltern, wie ein Knecht von seinem Herrn!
Und was ist eine gesunde Seele?
Es ist wie bei Kindern: Ein gesundes Kind ist ein Kind, das ganz einfach Kind sein darf. Das von seinen Eltern und Erziehern nicht dafür verwendet wird, deren unerfüllte Wünsche und Bedürfnisse zu befriedigen.
„Sprich nur ein Wort…“ sagt der römische Hauptmann.
Eine gesunde Seele ist eine Seele, die gehört wird. Mit der gesprochen wird.
„Sprich nur ein Wort …“ heißt: Ich gebe dir Anteil an etwas sehr Tiefem in mir. Das riskiere ich, weil ich dir vertraue. Ich traue darauf, dass du mich hören wirst. Und zwar so, dass du mich nicht beurteilst. Und schon gar nicht verurteilst. Du hörst mich ohne deine Vorurteile an. Und ohne mir als erstes zu sagen, was ich alles falsch mache und dass ich mich ändern muss. Und dass du das ja schon immer gewusst hast.
Dieses nicht beurteilende Gehört- und Gesehen-Werden ist nahrhaft. Gleichermaßen für Kinder wie für die eigene Seele.
Warum aber sagt der Hauptmann als erstes: „Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach“ – und dann erst: „… aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund …“
Und was meint er mit: „Herr, ich bin nicht würdig …“
Damit erkennt er an, dass dieses Geschehen, dieses Gehört- und Gesehen-Werden sich nicht einfordern lässt. Es gibt keinen Anspruch, der lautet: „Du musst mich wahrnehmen!“
Den Anderen sehen, ihn wahrnehmen, ihm zuhören geschieht in radikaler Freiwilligkeit. Es lässt sich nicht verdienen: Das hat Martin Luther erkannt, das haben die Mystiker erkannt.
Das Himmelreich lässt sich nicht erarbeiten.
Es ist ein Geschenk.
Es ist ein Geschenk der Barmherzigkeit, der Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen.
Diese wird zwischen Menschen immer dann lebendig, wenn das Gefälle zwischen oben und unten aufgehoben ist. In wahrhafter Liebe schaut keiner auf den Anderen herab und auch keiner zu dem Anderen hinauf. Der Eine schaut dem Anderen in die Augen. Echte Liebe muss sich nicht verstecken: Sie gibt auch die Kraft, sich in die Augen schauen zu lassen. So entsteht die Schönheit des gemeinsamen „Augen-Blickes“.
In einem liebevollen Augen-Blick nehmen sich Menschen wechselseitig wahr.
Und so nehmen sie Rücksicht aufeinander. Die Fähigkeit zu Rück-Sicht bedingt die Fähigkeit, den Anderen zu sehen, ihn als Anderen, als Nicht-Ich, als Fremden wahrzunehmen. Im Hebräischen heißt „erkennen“ oder „wahrnehmen“ auch „lieben“. Es ist ein und dasselbe Wort.
Und das deutsche Wort „Rücksicht“ ins Lateinische übersetzt bedeutet: „Respekt“!
Eine gleichwertige Beziehung ist gekennzeichnet von Respekt.
Und es ist Ausdruck wahrer Menschlichkeit, diesen Respekt, diese Rücksicht auch dann nicht zu verlieren, wenn mich jemand respektlos behandelt. Es ist Ausdruck von Kraft, Stärke und Souveränität, die eigenen naheliegenden Impulse, sich zu rächen, nicht auszuleben sondern bei sich zu behalten.
Dazu bedarf es einer Kraft außerhalb meiner. Mit ihr mich zu verbünden und immer tiefer zu verbinden – das ist mein alltäglicher Gottesdienst. In diesem Sinne bin ich gerne ein Knecht, ein Kind, ein Diener: der Barmherzigkeit, der Zugewandtheit, der Liebe Gottes. AMEN.