Predigt über Jesaja 42, 1-9 am 1. Sonntag nach Epiphanias 2022

Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.“ (Römer 8,14)

Diese einfache und einprägsame Aussage aus dem Römerbrief – der heutige Wochenspruch – bündelt die Texte des Gottesdienstes am ersten Sonntag nach Epiphanias. Man könnte ihn auch den „Sonntag der Kinder Gottes“ nennen. Und diesen Kindern Gottes ist eben eines gemeinsam: Sie sind vom Geist Gottes Getriebene. Ihr Antrieb ist Gottes Geist. Was das heißt und wie sich das lebenspraktisch auswirkt, davon handelt ein prophetisches Wort aus dem alttestamentlichen Buch des Propheten Jesaja.

Kapitel 42

Siehe, das ist mein Knecht, den ich halte, und mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat. Ich habe ihm meinen Geist gegeben; er wird das Recht unter die Heiden bringen. Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen. Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. In Treue trägt er das Recht hinaus. Er selbst wird nicht verlöschen und nicht zerbrechen, bis er auf Erden das Recht aufrichte; und die Inseln warten auf seine Weisung.

So spricht Gott, der Herr, der die Himmel schafft und ausbreitet, der die Erde macht und ihr Gewächs, der dem Volk auf ihr den Atem gibt und Lebensodem denen, die auf ihr gehen: Ich, der Herr, habe dich gerufen in Gerechtigkeit und halte dich bei der Hand. Ich habe dich geschaffen und bestimmt zum Bund für das Volk, zum Licht der Heiden, dass du die Augen der Blinden öffnen sollst und die Gefangenen aus dem Gefängnis führen und, die da sitzen in der Finsternis, aus dem Kerker.

Ich, der Herr, das ist mein Name, ich will meine Ehre keinem andern geben noch meinen Ruhm den Götzen. Siehe, was ich früher verkündigt habe, ist gekommen. So verkündige ich auch Neues; ehe denn es sprosst, lasse ich’s euch hören.

Sie merken schon am Beginn: Hier wird etwas ganz Besonderes besser jemand ganz Besonderes vorgestellt: Siehe, das ist mein Knecht, den ich halte, und mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat.

Kind Gottes zu sein bedeutet Knecht und Auserwählter in einem zu sein. Auserwählt zu dienen.

Auf ihm liegt Gottes Geist – und aus dieser Kraft heraus wird sich seine Wirksamkeit entfalten:

Er wird das Recht bringen – zu allen Völkern der Erde. Das ist die Überschrift.

Und wie wird er das anstellen?

Durch Nicht-Tun!

Nicht durch Geschrei – „seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen“ (Vers 2).

Nicht durch Gewalt – „das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.“ (Vers 3a)

Und was wird er „tun“ – indem er nicht tut?

Er trägt das Recht in Treue hinaus.“ (Vers 3b)

Er öffnet „die Augen der Blinden“ (Vers 7a).

Er führt „die Gefangenen aus dem Gefängnis“ und „die da sitzen in der Finsternis aus dem Kerker“ (Vers 7b).

Und woher weiß der Knecht Gottes, dass dies seine Aufgabe ist?

Er wurde von Gott, dem Schöpfer des Himmels und der Erde, genau dafür „gerufen“, ja „geschaffen“ (Vers 6). Nichts anderes ist seine Existenzberechtigung, ist seine Identität.

So weit – so gut. Spüren Sie die unglaubliche Wucht dieser Sätze! Da ist ein Prophet seiner Sache, seiner Verkündigung sehr sicher. Er spricht in prophetischer Vollmacht. Er spricht als einer, der Gott, den Allmächtigen, im Rücken hat: „Ich der Herr habe dich gerufen in Gerechtigkeit und halte dich bei der Hand.“ Er wurde der „Zweite Jesaja“ (Deuterojesaja) genannt, der das Volk Israel aufrütteln, ihm Mut einhauchen möchte gleich dem Gott, der den Menschen seinen Lebens-Atem in die Nase bläst.

Wer so viel Mut benötigt, der liegt wohl ziemlich am Boden. Der fühlt sich wie ein „glimmender Docht“, wie ein „geknicktes Rohr“. Und so ist es wirklich. Deuterojesaja spricht zu Gefangenen, zu Deportierten. Es ist die babylonische Gefangenschaft, in der sich das Volk Israel, in der sich „Gottes eigenes Volk“ befindet. Von daher ist zunächst einmal der Zuspruch des Propheten als Zuspruch für Israel zu lesen. Dies anzuerkennen und nicht vorschnell seine Worte auf unseren „Herrn Jesus Christus“ hin zu deuten, tut uns Christen sehr gut. Und wenn wir sie dann in den weihnachtlichen Kontext der Geburt Jesu Christi stellen, so bitte nicht in der selbstgerecht-überheblichen Weise einer „Judenmissionierung“ nach der Art: „Ihr ward ja zu dämlich dafür, euren eigenen Messias zu erkennen!“ Es ist zu bekennen: Das Christentum ist als Bemächtigungs-Religion groß und erfolgreich geworden. „In diesem Zeichen wirst du siegen!“ Auch wenn es sich so wohl historisch nicht zugetragen hat – so wurde doch im Zuge des Sieges von Kaiser Konstantin das Christentum zur Staatsreligion. Tragische Ironie: Gottes Knecht ist genau kein Bemächtiger! Ganz im Gegenteil: „Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.“ Gottes Knecht ist ein Beschützer und Bewahrer!

Dieses beschützende und bewahrende Nicht-Tun ist Kennzeichen derer, die wirklich vom Geist Gottes getrieben sind. Sie haben nämlich verinnerlicht: Wirkliche Veränderung geschieht im Stillen, geschieht gewaltlos! Und: wirkliche Veränderung lässt sich nicht machen. Um dies auszuhalten bedarf es Fähigkeiten, die allesamt mit Bescheidenheit zu tun haben: „In Treue trägt er das Recht hinaus“ (Vers 3b). Er macht kein großes Geschrei, nicht mit Pauken und Trompeten verkündet er das Recht. Er „richtet (es) auf!“ (Vers 4a) Aufrechter Gang, diese spezifisch menschliche Fähigkeit, hat mit „aufrichtig“ zu tun. Aufrechten Hauptes den eigenen Lebensweg gehen: Das ist die Bestimmung des Gottesknechtes, das ist die Bestimmung derer, die sich vom Geist Gottes treiben lassen. Gemeint ist dies durchaus auch im moralischen Sinne. Aber die Quelle dessen, aus der heraus wir als Kinder Gottes leben, sprudelt jenseits der moralischen Aufteilung in gut und böse.

Ich bin der Herr dein Gott, der dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt hat …“ (2. Mose 20, 2) – das ist die Überschrift über alle Moral. Moral ist sekundär; sie ist abzuleiten aus der Beziehung zu jenem befreienden Gott, dessen Repräsentanten, dessen Gesandter und dessen Knecht uns heute vorgestellt wird. In der sicheren Vertrauens-Beziehung zu jenem befreienden Gott hat alles Sollen ein Ende. Für uns, die wir zum Gottes-Kind-Sein befreit sind, ist alles Sollen belanglos. Wir werden nicht mehr töten, nicht mehr stehlen, nicht mehr huren usw. Nicht, weil uns jemand vorschreibt, dass wir das alles nicht tun sollen. Eher schon so, dass wir es aus uns selbst heraus nicht mehr tun wollen. Mehr noch: Wer vom Geist Gottes getrieben ist, der kann nicht mehr anders. Das ist das Verrückte! Es ist verrückt, weil das Kind Gottes ver-rückt geworden ist: Es wurde hinein gerückt in die Beziehung zu einem barmherzigen, liebevollen Gott. Hesekiel hat das in seinen Worten so ausgedrückt: „Ich will ihnen ein anderes Herz geben und einen neuen Geist in sie geben und will das steinerne Herz wegnehmen aus ihrem Leibe und ihnen ein fleischernes Herz geben.“ (Hesekiel 11, 19) Wer sich traut, sich ein „fleischernes Herz“, das zu Einfühlung fähig ist, schenken zu lassen, der kann gar nicht anders, als aus einem neuen Geist heraus zu leben. Es ist der Geist der Liebe: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.“ (Galater 2, 20a) Wer den Mut zu dieser „Herz- und Geist-Transplantation“ aufbringt, ließ sich von Gott fangen und vernichten – und gerade so zu Gott hin befreien. Oder in den Worten des islamischen Mystikers Rumi:

Die Liebe ist wie ein Hund. Sie packt uns alle beim Genick und schleppt uns Zappelnde zu Gott.“

Und es ist unsere Angst verbündet mit unserem Hass, die uns dazu treiben, vor diesem Hund zu fliehen!

So entsteht die entscheidende Frage:

Wie geschieht echte Verwandlung? Wie wird aus einem „Kind der Angst“ ein „Kind Gottes“?

Wie geht das: Die Augen der Blinden öffnen, die Gefangenen aus dem Kerker zu führen?

Noch einmal: Ganz sicher nicht durch Gewalt. Mit Gewalt, im Zwang, Elemente, die leider oft zur Missionierung (und Erziehung) gehörten, geschieht keine wirkliche Veränderung. Es bedarf einer radikalen Freiwilligkeit. Aber woher den „freien Willen“ nehmen, solange er gefesselt im Kerker der Angst liegt?

Ausgangspunkt ist nicht, was sein sollte, oder – schlimmer noch – wie der Andere sein sollte. Ausgangspunkt ist das, was ist. Das, was ist, aber ist die Wirklichkeit: die eigene, wie die des Anderen. Dies gilt in gleichem Maße in der Seelsorge wie in der Psychotherapie. Die große Verführung für Seelsorger/Therapeuten/Pfarrer ist, aus Harmoniesehnsucht und Konfliktscheu mit den Selbsttäuschungen des Patienten/der Gemeinde eine Komplizenschaft zu bilden. Oder anders ausgedrückt: Anstatt das Erleben von Enge und Gefangenschaft ernst zu nehmen, wird gemeinsam so getan, als säße man auf einer lichtdurchfluteten grünen Wiese. Erst wenn ich anerkennen kann, dass ich im Gefängnis sitze und darunter leide, entsteht in mir eine Sehnsucht nach Freiheit. Für diese Anerkenntnis aber bedarf ich eines Begleiters, der den Weg aus seinem eigenen Gefängnis heraus gefunden hat. Sitzt er selbst in seinem eigenen Gefängnis, entsteht eine Compliance der Gefangenen – aber keine Entwicklung zur Freiheit hin. Einfacher ausgedrückt: Gefangene reden über Freiheit – anstatt darum zu kämpfen, frei zu werden!

Der Weg in die Freiheit führt Schritt für Schritt hinein in die Unsicherheit. Dies macht diesen Weg so steinig. Gefängnisse sind nämlich die sichersten Orte auf dieser Welt! Ist die Angst vor Unsicherheit zu groß, ist der Hass auf Freiheit zu groß, dann kann auch Rumis Hund der Liebe nichts ausrichten. Er kann nur diejenigen am Genick packen, die bereit sind, sich auch packen zu lassen. Und das geht nicht ohne Leiden daran, wie es ist. Es ist der berühmte „Leidensdruck“, der möglicherweise zu Veränderungen führt. Damit hängt zusammen, dass wirksame Seelsorge/Therapie schmerzhaft ist und schmerzhaft sein muss. Die Taufe, bei der in der Alten Kirche der Täufling unter Wasser gedrückt worden ist, damit er Todesangst verspürt, symbolisiert wirkliche Veränderung. Es ist das Ahnen, dass das Erhalten eines „Neuen Herzens“ und eines „Neuen Geistes“ nur über den Weg des Ertragens von und irgendwie Zurecht-Kommens mit Todesangst führt. Das ist der Preis für wirkliche Veränderung.

Und das ist die Schwäche allen Predigens: Es ist notgedrungen ein „Reden über“!

Die entscheidende Frage lautet: Wie kann ein „Reden über“, das der Verstand versteht, so zu Herzen gehen, dass ein neues, ein „fleischernes Herz“ wachsen kann?

Antwort: Überhaupt nicht.

Rabbi Dow Ber, der Maggid von Mesritsch sagte einmal: „Kein Ding der Welt vermag aus einer Wirklichkeit in eine andere zu kommen, wenn es nicht vorher zum Nichts, das ist zur Wirklichkeit des Dazwischen kam. Da ist es Nichts, und niemand kann es begreifen; denn es ist zur Stufe des Nichts gelangt, wie vor der Schöpfung. Und da wird es zu einem neuen Geschöpf erschaffen, vom Ei zum Küchlein. In dem Augenblick, nachdem die Vernichtung des Eis vollendet ist, und ehe das Werden des Küchleins begonnen hat, ist das Nichts.“ (M. Buber, Die Erzählungen der Chassidim, Zürich 1949, S. 200)

Das Frühere, siehe es ist eingetroffen und Neues verkündige ich. Bevor es sprosst, lasse ich es euch hören.“ Die Rede des Propheten als Gottesrede (Vers 8: „Ich bin Jahwe, das ist mein Name…“) macht deutlich: Diese Rede ist weder den Sinnen noch dem Verstand zugänglich. Es geht um ein radikales Sich-Einlassen in Blindheit, das der Heilige Johannes vom Kreuz als „dunkle Nacht“ bezeichnet. Ein Sich-Einlassen, gegen das sich unsere sinnliche Erfahrung und unser Verstand mit aller Macht sträuben. „Bevor das Neue sprosst …“ – es gibt nichts zu sehen, nichts zu denken. Das Erleben von „bevor es sprosst“ ist das Erleben einer Leere, die Hass und Angst umgibt: Es ist das Entsetzen im Angesicht des Nichts, der „horror vacui“! Der wirkliche und wirksame Gott, der Ich- bin-da-Gott – er ist nicht bei den Götterbildern der Babylonier (Vers 8b) zu finden. Genauso wenig, wie er in dieser Predigt zu finden ist. Er ist nirgends auffindbar. Und gerade so wirkt er: Als „Stimme verschwebenden Schweigens“ (1. Könige 19,12b). Oder als Klang vor allem Werden, allem Sprießen. In der Kabbala ist es der Klang von Aleph, dem unhörbar ersten Buchstaben des hebräischen Alphabetes. Aus diesem Nichts heraus werden Gottes Kinder – getrieben von jenem Geist, der „über dem Wasser schwebte.“ (1. Mose 1, 2b)

Gebe Gott, dass wir den Mut finden, die Klänge der geisterfüllten Stille in dunkler Nacht zu hören, in uns aufzunehmen und nach ihnen uns formen zu lassen, AMEN.

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