Predigt über 2. Korinther 5, 1-10 am vorletzten Sonntag des Kirchenjahres 2021

Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen!“ Sie kennen dieses geflügelte Wort aus Aschenputtel: Mit Hilfe der Tauben gelingt es Aschenputtel, die quälend-sadistische Aufgabe ihrer Stiefmutter zu lösen. Diese hatte Linsen in die Asche geworfen und Aschenputtel sollte sie heraus holen und dabei die guten Linsen von den schlechten unterscheiden. Um etwas auszulesen, muss es vorher unterschieden sein: Eben die schlechten Linsen werden von den guten Linsen unterschieden. Wir könnten hier auch „Auslesen“ vornehmen: Alle, die an einem Tag, mit einer ungeraden Zahl Geburtstag haben. Oder alle, die im November Geburtstag haben usw.

Es gibt also eine „Ordnung“, nach der die Auslese vorgenommen wird. Eine Unterscheidungs-Ordnung. Eine Diskriminierung. Diskriminierung heißt – neutral, ohne emotionalem Beigeschmack – nur „Unterscheidung“. Unterscheidungen sind nötig, um irgend etwas erkennen zu können. Ohne Diskriminierungen sind wir im Nebel des Gleich-Gültigen: und wenn alles gleich-gültig ist, dann ist es beliebig. „Das ist mir gleichgültig“ heißt: Ich habe keine eigene Meinung, keine Position dazu. Erst wenn mir etwas nicht gleich gültig ist, entsteht meine eigene Haltung, die sich von der Anderer unterscheidet.

Dies alles ist solange einfach, solange nicht unsere Emotionen dazu kommen. Und die kommen notwendig dazu, wenn es um Unterscheidungen im Bereich der Moral, der Lebensführung geht. Da gibt es nämlich dann die Guten und die Bösen, die „Gesegneten“ und die „Verfluchten“, die „Böcke“ und die „Schafe“, die Umweltbewussten und die Umweltsünder usw. Und – spannend – sogar Orientierungsangaben können für moralische Kategorien verwendet werden: Rechts ist „recht“, also gut, links ist „link“, also nicht gut.

(Kleiner biographischer Einschub: Gib deine „schöne Hand“ – sagte mir meine Mutter als Kind. Die schöne Hand war natürlich die rechte Hand. Tragische Ironie: Meine Mutter ist Linkshänderin gewesen!)

Gleichzeitig einen klaren und präzisen Standpunkt einzunehmen und offen zu bleiben für seine Relativität: Diese Kunst bildet das Fundament demokratischen Denkens und Handelns.

Der Wochenspruch für die vor uns liegende Woche ist ein Wegweiser für diese Art zu denken: „Wir müssen all offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi“ 1. Korinther 5, 10a) heißt es da.

Wer seine eigenen Unterscheidungen, seine eigene Matrix von gut und böse, von falschem und richtigem Leben, absolut setzt, der hält nicht aus, dass in dieser Welt der Richterstuhl Christi, oder Allahs, oder Jahwes unbesetzt, also leer bleibt.

Stattdessen setzt er sich selbst auf diesen Stuhl. Die dazugehörige Haltung ist eine selbstgerechte und überhebliche. Einfühlung, Mitgefühl und Verständnis für anders Denkende ist auf diesem Wege verloren gegangen. An ihre Stelle ist Macht und die Durchsetzung von Macht getreten. In der Erziehung nennt man das „Schwarze Pädagogik.“ Sie ist nicht an Wachstum und Veränderung interessiert, sondern an Unterwerfung und Gehorsam. Auf dem Richterstuhl sitzt ein sadistisch-grausamer Richter.

Ich vermute, dass Paulus – trotz und mit all seinen Versuchen über die Liebe – einen grausamen und hasserfüllten Richter verinnerlicht hatte. Der nicht bereit war, sich an die Natürlichkeit, den organischen Verlauf von Leben anzupassen. Der Tod ist für Paulus sein Tod-Feind. Und er tut alles dafür, diesem seine Macht zu nehmen. Dies macht er im Namen seines Christus – seines Helden. (So bleibt er in der Tiefe dualistischem Denken verhaftet!)

In unserem heutigen Predigttext (2. Korinther 5, 1-10) wird dies gleich am Anfang deutlich.

Wenn das irdische Zelt, in dem wir jetzt leben, nämlich unser Körper, abgebrochen wird, hat Gott eine andere Behausung für uns bereit: ein Haus im Himmel, das nicht von Menschen gebaut ist und das in Ewigkeit bestehen bleibt.“ (Vers 1)

Paulus kann offenbar nicht denken, dass mit seinem Tod sein individuelles Leben zu einem hoffentlich guten Ende gekommen ist. Er kann den Tod nur als „Durchgang“ denken. Und das hört sich dann so an:

„Weil wir das wissen, (dass uns ein Haus im Himmel erwartet), stöhnen wir und sehnen uns danach, mit dieser himmlischen Behausung umkleidet zu werden; denn wir wollen ja nicht nackt dastehen, wenn wir den irdischen Körper ablegen müssen. Ja, wir sind bedrückt und stöhnen, solange wir noch in diesem Körper leben; wir wollen aber nicht von unserem sterblichen Körper befreit werden, sondern in den unvergänglichen Körper hineinschlüpfen. Was an uns vergänglich ist, soll vom Leben verschlungen werden. Wir werden auch an dieses Ziel gelangen, denn Gott selbst hat in uns die Voraussetzung dafür geschaffen: Er hat uns ja schon als Anzahlung auf das ewige Leben seinen Geist gegeben.“ (Verse 2-5)

Was Paulus hier schreibt, kann ich zunächst einmal sehr gut nachvollziehen: Eine tiefe Sehnsucht nach einer Behausung, die ich nicht mehr verlassen muss. Quasi eine letzte Häutung – und dann ist es gut. Ein letztes tiefes Ausatmen. Ein endlich, endlich Zuhause-Ankommen. Eine Heimat. Ich vermute, nicht wenige unter uns kennen diese Sehnsucht auch. Diese Sehnsucht ist besonders stark bei Menschen ausgeprägt, deren Grundgefühl ist, etwas verloren oder gar nicht erst bekommen zu haben. Es ist ein Gefühl, dass irgendwas nicht stimmt. Sie fühlen sich in der Tiefe nicht wirklich zugehörig, nicht wirklich da. Und so baut sich die Sehnsucht nach einem Ort auf, wo alles richtig ist und vor allem: Wo sie selbst richtig und erwünscht sind. Und weil diese Sehnsucht so heftig ist, erscheint es als unerträglich, dass es keinen „unvergänglichen Ort“ auf dieser Welt gibt. Daraus entsteht der Wunschtraum des Paulus von einer himmlischen Behausung, einem unvergänglichen Körper:

„Wir wollen aber nicht von unserem sterblichen Körper befreit werden, sondern in den unvergänglichen Körper hineinschlüpfen.“ Es soll keine Trennung geben, stattdessen einen direkten Übergang von diesen vergänglichen in jenen unvergänglichen Körper.

Der Nachteil dieses Denkens: Alles was ich habe und bin bleibt irgendwie vorläufig. Je mehr Energie in dieser Sehnsucht steckt, desto weniger Energie bleibt für mein Leben in der Gegenwart. (Dieses Geschehen ist im übrigen ein wesentlicher Baustoff für Depressionen. Franz Schuberts Liederzyklus: Die Winterreise hat sehr berührend diese Sehnsucht komponiert: „Fremd bin ich eingezogen – fremd zieht ich wieder aus …“)

Aber zurück: Je mehr ich in die Sehnsucht auf Künftiges investiere, desto weniger Kapital steht mir für die Gegenwart zur Verfügung. Die Gegenwart wird zu einer „Anzahlung auf das ewige Leben“, wie Paulus schreibt. Er verbindet das mit dem „Geist“. Der Geist ist auch und gerade für den Juden Paulus zunächst einmal unser Atem, die Ruach. Wenn und indem ich mich meinem Atem überlasse, kann ich spüren, wie „es“ in mir atmet. Weder atme ich – noch werde ich beatmet. Genau dazwischen geschieht dieses „ES“, das da atmet. Und je stärker und je tiefer ich mich damit verbinde und verbünde, desto näher komme ich dem ewigen Leben. Ewiges Leben heißt für mich, das Leben oder die Lebendigkeit schlechthin, die es seit Milliarden von Jahren auf diesem Planeten Erde gibt. Und welch ein Glück, welch ein Geschenke, dass ich im Rahmen meiner individuellen Lebensspanne daran Anteil haben darf. Ich weiß schon: Wer so denkt, dem bleibt nichts anderes übrig, als den Schmerz der Vergänglichkeit irgendwie zu ertragen. Nur und auf der anderen Seite: Damit hat das Warten auf eine bessere Zukunft ein Ende, und ich bin frei für meine Gegenwart geworden. Und damit wird auch der Teil meiner Lebensenergie frei, der im Warten gebunden gewesen ist.

Oder dasselbe nochmal in einem Bild: Wenn das ewige Leben das Meer ist, so ist jeder von uns ein Wassertropfen in diesem Meer. Nicht mehr aber auch nicht weniger.

Und Leben heißt, an diesem Geschehen teilhaben zu dürfen. Das wird zur Quelle der Freude – unter der Voraussetzung, dass ich mein eigenes Werden und Vergehen und mein gerade so und nicht anders Geworden-Sein bejahen kann. Das ist die eigentliche Herausforderung: Ja zu sagen zu dem, der ich bin.

Eine winziger Wassertropfen im Ozean unendlichen Seins.

Paulus formuliert das so:

„Deshalb bin ich in jeder Lage zuversichtlich. Ich weiß zwar: Solange ich in diesem Körper lebe, bin ich vom Herrn getrennt. Wir leben ja noch in der Zeit des Glaubens, noch nicht in der Zeit des Schauens.

Ich bin aber voller Zuversicht und würde am liebsten sogleich von meinem Körper getrennt und beim Herrn zu Hause sein.

Weil ich mich danach sehne, setze ich aber auch alles daran, zu tun, was ihm gefällt, ob ich nun in diesem Körper lebe oder zu Hause bin beim Herrn. Denn wir alle müssen vor Christus erscheinen, wenn er Gericht hält. Dann wird jeder Mensch bekommen, was er verdient, je nachdem, ob er in seinem irdischen Leben Gutes getan hat oder Schlechtes.“

Ich stimme diesen Gedanken inhaltlich sehr zu. Nur verlege ich sie nicht in eine ferne Zukunft, in ein „danach“, sondern in die Gegenwart. „Die wichtigste Zeit ist der Augenblick“, sagt Meister Eckhart.

Der Augenblick selbst ist ewig! Niemand kann sagen, wann er beginnt und wann er wieder aufhört. Das einzige, was möglich ist, ist, mich dem, was gerade ist mit allem, was ich habe, hinzugeben. Damit relativiert sich mein Leid, das aus meiner Vergangenheit stammt und das mich aus der Gegenwart wegzieht.

Je tiefer ich im Augenblick bin, desto tiefer bin ich da. Einfach so. Mit allem, was mich gerade ausmacht. Das kann Freude sein, das kann Trauer sein, das kann Angst sein, das kann Wut sein. Das kann Trostlosigkeit sein und Verzweiflung.

Im Augenblick ist alles so, wie es gerade ist.

So gesehen hat der Augenblick etwas unendlich Reines, ist er doch befreit von den Wünschen an die Zukunft und dem Hadern über die Vergangenheit.

Im „Augenblick“ gibt es auch keine Diskriminierungen mehr. Die Stimme des Augenblickes ist ein tiefes Einverstanden-Sein: „Es ist, was es ist.“

Es ist auch ein Verstanden-Sein mit den eigenen unvermeidlichen Spaltungen, die zu unserem menschlichen Denken hinzugehören.

Dazu möchte ich Ihnen abschließend eine Geschichte erzählen, die ich bei Anthony de Mello gefunden habe. Sie lautet:

Ein Schäfer weidete seine Schafe, als ihn ein Spaziergänger ansprach. „Sie haben aber eine schöne Schafherde. Darf ich Sie in Bezug auf die Schafe etwas fragen?“ – „Natürlich“, sagte der Schäfer. Sagte der Mann: „Wie weit laufen Ihre Schafe ungefähr am Tag?“ – „Welche, die weißen oder die schwarzen?“ „Die weißen.“ – „Die weißen laufen ungefähr vier Meilen täglich.“ – „Und die schwarzen?“ „Die schwarzen genauso viel.“ „Und wie viel Gras fressen sie täglich?“ – „Welche, die weißen oder die schwarzen?“ – „Die weißen.“ – „Die weißen fressen ungefähr vier Pfund Gras täglich.“ – „Und die schwarzen?“ – „Die schwarzen auch.“ „Und wie viel Wolle geben sie ungefähr jedes Jahr?“ – „Welche, die weißen oder die schwarzen?“ – „Die weißen.“ – „Nun ja, ich würde sagen, die weißen geben jedes Jahr ungefähr sechs Pfund Wolle zur Schurzeit.“ – „Und die schwarzen?“ – „Die schwarzen geben genauso viel.“

Der Spaziergänger war erstaunt.

„Darf ich Sie fragen, warum Sie die eigenartige Gewohnheit haben, Ihre Schafe bei jeder Frage in schwarze und weiße aufzuteilen?“

„Das ist doch ganz natürlich“, erwiderte der Schäfer, „die weißen gehören mir, müssen Sie wissen!“ – „Ach so! Und die schwarzen?“ – „Die schwarzen auch“, sagte der Schäfer.

Lieber Gott, schenke uns die befreiende Einsicht in die Dummheit unserer menschlichen Kategorien. Und verleihe uns die Kraft, uns nicht von ihnen, sondern von der unmittelbaren Schönheit des Augenblicks leiten zu lassen, AMEN.

Nach oben scrollen