„Weicht ihr Trauergeister, denn mein Freudenmeister, Jesus, tritt herein…“
So haben wir gerade gesungen an diesem Sonntag Lätare – „Freut Euch!“
Und das mitten in der Passionszeit!
Und das mitten in einem Krieg auf europäischem Boden.
Der heutige Sonntag wird auch „Kleiner Ostersonntag“ genannt.
„Jesu meine Freude.“ Wer das singen, wer das Erleben kann – der muss sich nicht mehr vor den Widrigkeiten des Lebens fürchten. Er ist nicht länger der Sklave von Trauergeistern … Nur: Wie geht das? Wie kann ich das erleben, spüren, was Paulus schreibt: „… der Gott allen Trostes … er tröstet uns in aller unserer Bedrängnis…“ (2. Korinther 1, 4a)
Es geht offenbar nicht so, dass dann alles Leid verschwindet. Ganz im Gegenteil: „So wie auch die Leiden Christi reichlich über uns kommen, so werden wir auch reichlich getröstet werden durch Christus.“ (V.5)
Ja schon – das haben wir jetzt verstanden. Aber es bleibt die offene Frage: Wie denn?
Wie kann ich getröstet werden? In meinem Leiden, in meinen Ängsten, in meinem Hass und meiner Verzweiflung?
Nun – zunächst einmal brauche ich die Fähigkeit, mich trösten zu lassen.
Ich brauche eine Bereitschaft, mich dem Trost auch zu öffnen.
Der Gegenspieler dieser Bereitschaft ist Verbitterung.
Der verbitterte Mensch ist ein trostloser Mensch. Trostlos heißt: Er ist für keinen Trost zugänglich. Der verbitterte Mensch ist eingekapselt in seiner Verbitterung.
Alle Versuche des Trost-Spendens zerschellen an dieser seiner Kapsel.
Sie wird erlebt als Schutzkapsel. Die Verbitterung ist der Panzer, die uneinnehmbare Festung.
Der Trost-Spender wird abgewiesen: „Du hast ja keine Ahnung!“ „Das verstehst du nicht!“ „Da kannst du dich nicht einfühlen!“
Der verbitterte Mensch ist ein einsamer Mensch. Jeder Versuch, ihn zu erreichen fällt in ein schwarzes Loch des Schweigens. Er gleicht dem Weizenkorn, das sich weigert, in die Erde zu fallen. So bleibt er allein.
Das heißt: Was ich jetzt und im Folgenden sage werde, kann verbitterte Menschen nicht erreichen. Dies ist eine wesentliche Einsicht für jeden, der Trost spenden will. Seine Grenzen werden von der Verbitterung gesetzt. So lange er dies nicht einsieht, arbeitet sich daran ab, den Anderen zu erreichen. Und in der Tiefe ist der Andere immer auch ein Aspekt von einem selbst.-
II.
Schauen wir uns doch einmal an, was Trost wörtlich heißt:
„Trost“ bedeutet laut Duden „innere Festigkeit“. Etwas, auf das man sich wirklich verlassen kann, etwas, das stark und fest steht wie ein Baum. (In englisch „tree“ ist diese Wortverwandtschaft erhalten.) Es ist derselbe Stamm, aus dem heraus auch das Wort „treu“ entstanden ist und das Wort „Vertrauen“.
Insofern leben wir in einer „trostlosen“ Zeit: Wo man hinsieht, gibt es Lüge und Betrug. (Dies gilt keineswegs nur, wenn man nach Osten sieht. Ich erinnere an den letzten amerikanischen Präsidenten, der ein Inbegriff von Lüge und Betrug gewesen ist. Und natürlich auch an die Macht der Werbung …)
Trost beginnt also mit Verlässlichkeit. Dass jemand das, was er sagt, auch lebt. Dass ein Wort gilt, Bestand hat. Dass Versprechen, die gegeben worden sind, auch gehalten werden.
Es geht um Zuverlässigkeit.
Es geht nicht darum, perfekte Antworten zu haben. Überhaupt nicht.
(Perfektion ist auch so eine Kapsel, mit der man sich unberührbar gemacht hat.)
Es genügt, dass jemand da ist. Mir aufmerksam zu hört. Damit beginnt Trost.
Und indem er mir aufmerksam zuhört, fühle ich mich ernst genommen.
Für mich persönlich gibt es nichts Unangenehmeres als die „Vertröstung“.
„Komm, war doch nicht so schlimm!“ Ich kenne jemanden, dem ist noch viel Schlimmeres passiert. Jetzt stell dich nicht so an …
Oder, ich laufe mit dem, was ich auf dem Herzen habe, ganz einfach ins Leere. Ich merke, wie der Andere durch mich hindurch schaut. So als gäbe es mich gar nicht. Es ist für Kinder entsetzlich, Eltern zu haben, die schweigen. Die sich nicht an der Lebendigkeit ihrer Kinder erfreuen können. Die nicht mit dem Leid ihrer Kinder mitfühlen, mitleiden können. Kinder wissen ja nicht, und können es nicht wissen, dass in ihren Eltern etwas zerbrochen, etwas erstarrt ist. So versuchen sie verzweifelt, ihre Eltern zu erreichen, ihnen eine Freude zu machen, für sie eine Freude zu sein …
Martin Luther ist so ein Kind gewesen. Und ich vermute, gerade in seelsorgerlichen Berufen finden sich nicht wenige, ehemals solche Kinder gewesen sind.
Schließlich gibt es noch die Vertröstung, die K. Marx als Opium für das Volk bezeichnet hat: Warte, bis du erst gestorben bist. Dann kommst du in den Himmel. Dann wird dir Gerechtigkeit widerfahren… Dann werden die Bösen endlich bestraft werden. Das Gefühl, das hierzu gehört, lautet: Genugtuung.
Es ist mir ein Trost, dass der Täter nicht ungeschoren davon kommt…
Wirklich? Ist das ein Trost? Kann Genugtuung in der Tiefe trösten?
Selbst wenn Putin als Kriegsverbrecher verurteilt würde: Es macht nicht einen einzigen im Krieg getöteten Menschen wieder lebendig.
Ich bin auf der Suche nach einem stärkeren Trost. Ich glaube, der stärkste Trost ist der, zu sich selbst und zu anderen wahrhaftig zu sein. Und wahrhaftig hat etwas mit ganzheitlich zu tun.
Trost beginnt damit, dass ich immer klarer im Sinne von ganzheitlicher die Wirklichkeit sehen lerne. Der einzige Boden nämlich, der mich trägt, ist: die Wahrheit! Er ist der einzige wirkliche Trost, der nicht täuschen kann.
Ich begleite als Psychoanalytiker Menschen dabei, dass sie allmählich den festen und sicheren Boden der Wirklichkeit ihres eigenen Lebens finden. Sehr oft gibt es auf diesem Weg Träume, die von steinigen oft auch gefährlichen Abstiegen im Gebirge handeln. Es ist eine Bewegung von oben nach unten, in die „Niederungen“ hinein.
Die Gegenbewegung dazu sind Träume, abheben, ja fliegen zu können. Zumeist sind diese Träume mit Glücksgefühlen, mit Gefühlen von großer Freiheit und Leichtigkeit verbunden. („Über den Wolken zu schweben, muss die Freiheit wohl grenzenlos sein!“) Das macht sie so verführerisch.
Das Verführerische ist, dass die Abstiegsträume, dass der Weg zur Wirklichkeit untrennbar mit Gefühlen von Angst und Unsicherheit einhergeht. Es ist der „steinige Weg“. Indem jemand sich dieser Wirklichkeit und diesen Gefühlen nicht stellen kann und/oder will, haust er sich immer weiter in seinen (Selbst-)Täuschungen ein. Die Wirklichkeit und die Boten der Wirklichkeit sind seine Feinde. Für ihn ist der größte Trost ein allmächtiger Gott, der alles im Griff hat. Zu dem er kommen wird nach seinem Tode. Für ihn ist der größte Trost ein Denken, das von der Spannung aus Allmacht und Ohnmacht lebt. „Ich glaube an Gott, den Allmächtigen …“ Dann ist die „Ohnmacht des Kreuzes“ nur ein Durchgangsstadium. Wie Jesus Christus in „Geduld“ sein Leiden ertragen hat, so sollt auch Ihr das tun. Denn dann – irgendwann – bekommt Ihr Anteil an der Herrlichkeit des Auferstandenen.
Ich persönlich glaube weder an Gott den Allmächtigen – dann kann ich nämlich nicht verstehen, wie Gott das ganze Leid zulässt.
Und ich glaube auch nicht an Gott den Ohnmächtigen – dann kann ich nicht verstehen, warum ich überhaupt irgendetwas machen sollte, mich für irgendetwas einsetzen sollte.
Ich vertraue der liebevollen Verbindung in dem, was das Wort „Gott“ versucht zu beschreiben, was ich mir nicht mehr vorstellen, worauf ich aber vertrauen kann: Die liebevolle Verbindung zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist. Dieser trinitarische Gott ist für mich „der Gott allen Trostes, der uns tröstet in aller unserer Bedrängnis…“ Aus diesem Trost gewinne ich die Kraft, andere, die in Bedrängnis sind, wirklich zu trösten – ohne sie zu vertrösten.
Dieser Trost ist sehr wirkkräftig – aber er ist nicht allmächtig. Wer seine Seele verschlossen hat, wer seine Fenster zu seiner Innen- und in Folge davon zu seiner Außenwelt verschlossen hat, den kann dieser Trost nicht trösten. Er kann sich nicht mehr in Verbindung erleben – weder zu sich noch zu seiner Umgebung. Echter Trost benötigt einen „Friedens-Korridor“, durch den er „hineinkommen“ darf. Je totalitärer ein Regime ist, je totalitärer die Grundstruktur eines Menschen ist, desto unwahrscheinlicher ist die Akzeptanz eines solchen Korridors.
Echter Trost kann nur den erreichen, der bereit ist, noch einmal den Weg durch den (alten) Schmerz zu gehen. Nicht, um sich zu quälen; vielmehr um sich und sein So-und-nicht-anders-geworden-Sein zu verstehen. „Die Leiden Christi werden reichlich über uns kommen“, schreibt Paulus. Die Leiden Christi sind die Leiden meiner Seele, die Leiden des Nicht-verstanden-worden-Seins, die Leiden des Falsch-Seins, die Leiden, nur über Leistung Anerkennung zu bekommen, die Leiden des Im-stich-gelassen-worden-Seins usw. Auf diesem Leidensweg kommt als erstes die alte Wut, ja der alte Hass darüber wieder hoch, was mir alles angetan worden ist. In dieser Wut erlebe ich mich verständlicherweise als Opfer.
Der Weg in die Freiheit aber – und da wird es dann so richtig schmerzhaft – ist, mir einzugestehen, dass ich selbst auch Täter geworden bin, dass ich selbst Seiten in mir habe, die ich so sehr verabscheue. Die ich versuche, mit Gewalt in anderen Menschen unterzubringen. Das ist das bekannte „Sich-empören-über-Andere“. Der Weg in die Freiheit führt darüber, sich mit seinen eigenen dunklen Seiten, die mich an Anderen so empören, vertraut zu machen: den eigenen Hass, den eigenen Neid, die eigene Überheblichkeit, die eigene Missgunst, die eigene Gier, die eigene Bemächtigung von Schwachem, die eigene Faulheit, das eigene Desinteresse usw.. Dieser Weg ist nur in enger Verbindung mit einem „Gott der Barmherzigkeit“ begehbar. Wie Paulus schreibt: Der Gott des Trostes ist zugleich der „Vater der Barmherzigkeit“.
Es bedarf dieser Barmherzigkeit, um nicht in den Erstarrungen der Täter-Opfer-Spaltungen stecken zu bleiben. Es bedarf des Verständnisses auch für die andere, für die Täter-Seite. Für meine eigene Täter-Seite. In dem über Jahrhunderte wirksamen Dogma, Gott habe seinen eigenen Sohn geopfert, da nur dieser Gottes Zorn tilgen konnte, wird noch einmal Täter und Opfer zementiert.
Im Johannesevangelium wird der Tod Jesu mit dem Sterben des Weizenkorns verglichen. Es ist ein Sterben für das Leben. Das verbitterte Weizenkorn kann nicht sterben: es kann nicht loslassen, nicht absehen von sich selbst. Und so „bleibt es allein“. Das verbitterte Weizenkorn ist einsam. Das sich hingebende Weizenkorn, das sich dem Leben öffnende Weizenkorn aber „bringt viel Frucht“.
Oder, weniger poetisch ausgedrückt: Das einsame Weizenkorn ist in sich selbst, in seinem Narzissmus gefangen. Es kreist in unendlichen Schleifen um sich selbst. Das sich dem Leben öffnende Weizenkorn lässt sich selbst und die Anderen sein. In aller Unvollkommenheit! Ihm genügt es, da zu sein und sich an seinem eigenen und am Dasein der Anderen zu freuen. So kommt das Frucht-Tragen von ganz alleine. Indem es aufhört, um sich selbst zu kreisen, richtet sich sein Leben auf das Wohl der Gemeinschaft aus, als dessen Teil es sich erlebt. Diese Gemeinschaft ist im Letzten die Gemeinschaft des Lebens. Und dies ist nichts anderes als die Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott. Den „Vater der Barmherzigkeit“, den „Gott des Trostes.“ Dass wir alltäglich in fester Verbindung mit ihm bleiben mögen, dazu verhelfe uns Gott, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist, AMEN.