Predigt über Exodus 20, 1 – 17 am 18. Sonntag nach Trinitatis 2023

Predigt über Exodus 20, 1 – 17 am 18. Sonntag nach Trinitatis 2023

Liebe Gemeinde,

Dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, auch seinen Bruder liebt.“ Mit diesem Gedanken aus dem ersten Johannesbrief begann unser Gottesdienst. Dann haben wir von Jesus selbst die Mitte seiner eigenen Predigt gehört: „Du sollst Gott, deinen Herren, lieben von ganzen Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt …“ und: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“.

Und Jesus gibt uns dazu noch eine Handlungsanweisung:

„Verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm, folge mir nach!“ (Markus 9, 21b) Dies sagte er zu „einem“, nachdem er „ihn lieb gewonnen“ hatte. Und die Reaktion des Unbekannten war: „Er wurde betrübt über das Wort und ging traurig davon; denn er hatte viele Güter.“ (ebd. Vers 21).

Ich kann mich sofort mit dem Unbekannten identifizieren. Nehme ich die Aufforderung Jesu wörtlich und beziehe sie auf mich, heißt das: Ich muss mein Haus in Pullach und mein für meine Altersvorsorge Erspartes verkaufen und den Erlös an Bedürftige spenden. Dann folge ich Jesus nach.

Wenn das so ist, denke ich mir, dann werde ich dir nicht nachfolgen. Und – ja – dann habe ich halt keinen Schatz im Himmel. Das ist dann halt so! Und ich bin auch nicht an erster Stelle betrübt, sondern ich bin zunächst einmal ärgerlich. Was wird da von mir verlangt? Nein – das kann ich nicht und das will ich auch nicht!

Aber: Ist es wirklich so gemeint? Angenommen, ich würde es doch tun – würde ich damit wirklich Gott, den Herren, von ganzem Herzen lieben … und meinen Nächsten wie mich selbst? Ich bin mir da nicht so sicher. Ich möchte das mal so stehen lassen – um mich in Ruhe unserem heutigen Predigttext zuwenden zu können. Und vielleicht ergibt sich daraus ja sogar eine Antwort …

Liebe Gemeinde,

den Predigttext für den heutigen Sonntag kennen Sie alle: Es sind die Zehn Gebote, der sogenannte Dekalog. „Dekalog“ ist griechisch und heißt wörtlich: „Zehn Worte“. Und genau so werden die „Zehn Gebote“ in der jüdischen Tradition auch genannt (vgl. Exodus 34, 28: „Und er (Mose) schrieb auf die Tafeln des Bundes, die zehn Worte.“)

F. Weinreb schreibt: Die zehn Worte haben nicht so sehr den Charakter, dass man etwas tun muss – „es sind vielmehr Hinweise auf den rechten Weg, den man in der Überzeugung, dass das auch gut ist, gerne gehen will. Wenn man jemand sagt, er solle eine Jacke anziehen, weil draußen ein schneidend kalter Wind weht, dann ist das nicht so sehr ein Gebot als vielmehr ein Hinweis im Interesse des Betreffenden.“ (S. 751-752)

Was noch nicht bedeutet, dass der Andere diesen Hinweis ernst nimmt und ihn auch verwirklicht. Wir leben in einer Zeit, in der ein „Das sehe ich gar nicht ein!“ Hochkonjunktur hat. Nur so ist zu verstehen, dass die Trotz- und Mit-mir-nicht-Parteien erheblichen Zulauf genießen. Hört man sich ihre Botschaften genauer an, merkt man, dass es selten um Sachargumente geht. Stattdessen gibt es Emotionen: vor allem Wut und Empörung. Der Duktus ist: „Wir lassen uns doch unsere Freiheit nicht nehmen!“

Diese Reaktion ist im übrigen nicht neu. Als Moses mit den 10 Worten vom Sinai herab kam, fand er sein Volk tanzend um das „goldene Kalb“ vor. Auch er konnte seine Gefühle nicht halten. Vor Wut entbrannt, warf er „die Tafeln aus der Hand und zerbrach sie unten am Berge“ (2. Mose 32, 19). Und davor konnte Gott selbst seinen Zorn nicht halten: „Und der Herr sprach zu Mose: Ich habe dies Volk gesehen. Und siehe, es ist ein halsstarriges Volk. Und nun lass mich, dass mein Zorn über sie entbrenne und sie verzehre.“ (ebd. V. 10a). Wir können darauf lernen:

Erstens: Wir Menschen sind hoch aggressive Lebewesen.

Zweitens: Es gibt eine naheliegende destruktive Bewegung: Enttäuschung führt zu Zorn, Zorn für führt zu Hass, Hass führt zu Vernichtung.

Die Zehn Worte sind eine Art Brandmauer gegen diese Destruktion.

Die nur dann und solange hält, wie sich Menschen von ihnen erreichen lassen.

Das Wort „Gebot“ gehört im übrigen zum Stamm „bieten“. Dies geht wiederum auf die indogermanische Wurzel „*bheudh-“ zurück und bedeutet: „erwachen, bemerken, geistig rege sein,aufmerksam machen, warnen, gebieten“ (vgl. Duden, Herkunftswörterbuch Band 7, S. 81) Auch in „Buddha“, der „Erwachte“, ist es enthalten. Erwacht aber bedeutet für mich nichts anderes, als die Wirklichkeit mit beiden Augen zu sehen. So kann ein „ein-heitlicher“ Blick entsteht. Dies geht nur in einer permanenten Feinabstimmung zwischen dem linken und dem rechten Auge.

Die Zehn Gebote sind für mich „Zehn Worte“ für einen ganzheitlichen Blick auf mich selbst, auf meine Mitmenschen, auf die ganze Welt. Aus diesem Blick heraus folgt von selbst die Lebenshaltung des Erwachten.

Jesus hat diese Haltung zusammengefasst und komprimiert in seinem sogenannten Doppelgebot der Liebe: „„Du sollst Gott deinen Herren, lieben von ganzen Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt …“ und: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“.

Und Augustinus hat gesagt: Liebe – und mach, was du willst!“ (Ama, et fac quod vis!)

Und Meister Eckhart hat auf die Frage, was das Wichtigste ist im Leben sei, geantwortet:

„Die wichtigste Zeit ist stets der Augenblick.
Der wichtigste Mensch ist stets der, der dir gegenüber ist.
Und das notwendigste Werk ist zu lieben.“

In den Zehn Worten geht es um die Verwirklichung des erlebten Glaubens an einen befreienden Gott. In der Überlieferung wird darauf hingewiesen, dass den zehn Schöpfungsworten zu Beginn der 5 Bücher Mose die „Zehn Worte“, die Gott seinem Volk inmitten der Wüste gibt, gegenüberstehen.

Die Schöpfungsworte beginnen mit dem 2. hebräischen Buchstaben, dem Beth. „Bereschit bara …“ (Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.)

Die „Zehn Worte“ beginnen mit dem Alef, dem ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets. Mathematisch ausgedrückt handelt es sich um die Bewegung von der Zwei zur Eins. Psychodynamisch geht es um das Aufgeben von Ambivalenzen und Spaltungen hin zu einer neuen, integrativen Einheit; zu etwas Ganzheitlichem. Die „Zehn Worte“ sagen nicht direkt aus, wie diese Einheit zu denken ist. Sie sagen vor allem aus: Worauf zu verzichten ist, was zu unterlassen ist auf dem Weg des Erlebens von Ganzheit. Darin gründet ihre überwiegend negative Formulierung: Acht Worte sind negativ formuliert. Nur zwei Worte sind bejahend: „Gedenke des Sabbattages“ und „ehre deinen Vater und deine Mutter“.

Das Fundament dieses Lebens ist ein Leben aus der Liebe heraus. Einer Liebe, die vor uns da war und nach uns da sein wird. Es ist eine Liebe, die befreit. So ist zu verstehen, dass der erste Satz der 10 Worte lautet: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft herausgeführt habe.“ (Exodus 20, 2) „Ägypten“ heißt im Hebräischen „mizrajim“ was wörtlich bedeutet: „Das Leiden an der Zweiheit“ (Weinreb). Die Bibel, das Alte Testament, bezeichnet dieses „Leiden an der Zwei“ als „Sklaverei“. Es versklavt unser Denken.

Wie ist das zu verstehen? Zunächst einmal funktioniert menschliches Denken in Zweiheit – also digital. Indem ich „das Eine“ denke, wird implizit „das Andere“ mit gedacht. Wenn ich „rechts“ sage, schließe ich ein, dass es auch „links“ gibt. Wenn ich „gut“ sage, schließe ich ein, dass es auch „schlecht“ gibt. Wenn ich falsch sage, schließe ich ein, dass es ein richtig gibt. Das „Leiden an der Zwei“ ist ein „Leiden an der Bewertung“. Und wir bewerten unentwegt. Und wir werden unentwegt bewertet.

Es sind die Mystiker, die „hinter“ dieses Geschehen geblickt, gedacht haben.

„Es gibt einen Ort, jenseits von falsch und richtig. Dort treffen wir uns.“ (Rumi) Die 10 Worte sind nichts anderes als Markierungen in diesem Land – jenseits von falsch und richtig. Und sie beginnen spannender Weise nicht mit einem „du sollst…“ sondern mit: „Ich bin!“ „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägyptenland (dem Land der Sklaverei) herausgeführt hat.“

Im Land jenseits von falsch und richtig steht nicht das Machen im Mittelpunkt – sondern das Sein. Aus ihm heraus folgt kein mechanisch-unbewusstes Machen. Aus ihm heraus folgt bewusstes Handeln. Wenn ich weiß, wer ich bin, weiß ich auch, was ich auf dieser Welt zu tun habe.

Die zehn Worte sagen: „Ich bin der, der dich aus dem Land, in dem du versklavt worden bist, herausgeführt hat. Du bist jetzt frei. Und jetzt sage ich dir, worin sich deine Freiheit realisiert: Als Befreiter wirst du nicht länger „fremde Götter neben mir haben“; „du wirst dir keine Bilder machen“, „du wirst den Namen Gottes nicht missbrauchen“, „du wirst den Sabbat heiligen“, „du wirst deinen Vater und deine Mutter ehren“, „du wirst nicht töten“, „du wirst nicht ehebrechen“, „du wirst nicht stehlen“, „du wirst kein falsch Zeugnis reden“, „du wirst nicht begehren, deines Nächsten Haus“.

„Der Ort jenseits von falsch und richtig“ ist da, wo nichts ist. Er ist nicht zu finden, weil er nicht ist. Das Alte Testament veranschaulicht dieses „Nichts“ als „Wüste“ – den Ort der „Leere“ oder den Ort des „Nichts“. Ein anderer Mystiker, der Heilige Johannes vom Kreuz, beschreibt diesen Ort so: „Hier gibt es keinen Weg mehr, denn für den Gerechten gibt es kein Gesetz. Er ist sich selber Gesetz.“ Der „Pfad“ dort hin, so Johannes vom Kreuz, ist „nichts, nichts, nichts, nichts.“

Wilfred Bion, der Mystiker unter den Psychoanalytikern, sagt: Die Haltung des Therapeuten in einer Therapiestunde ist: „Ohne Erinnerung, ohne Wunsch und ohne Verstehen.“ (without memory, without desire, without understanding) Oder, poetischer ausgedrückt: Psychoanalyse bedeutet (für mich), sich gemeinsam mit dem Patienten Stunde um Stunde in die Wüste zu begeben.

Damit verbinde ich Jesu Satz: „Verkaufe alles und gib es den Armen!“

Heißt: Lass all das los, woran du dich klammerst, womit du dein Leben füllst, woran du dein Herz hängst. In diesem Loslassen geschieht deine Befreiung. Für Johannes ist dieses Loslassen der „Pfad der Vollkommenheit“. Und er meint mit „Vollkommenheit“ die „Gleichgestaltung“ oder das „Einswerden“ mit Gott.

(Bion nennt das „becoming O“.)

Ein persönliches Bekenntnis am Schluss:

Ich bin der tiefen Überzeugung, dass uns Menschen eine gottlose Gesellschaft überfordert. Der Atheist Gregor Gysi hat kürzlich gesagt: „Ich glaube zwar nicht an Gott, aber ich möchte auch keine gottlose Gesellschaft.“ Ich auch nicht. In ihr sind wir nämlich unseren destruktiven Trieben und unseren narzisstischen Attitüden schutzlos ausgeliefert. Sie sind es, die uns versklaven und am Ende zerstören. Was wir brauchen ist die starke Verbindung mit einem barmherzigen und freundlichen Gott, der uns unsere „Fehler“ vergibt. Nur diese Verbindung kann uns vor uns selbst, vor unserer Destruktivität retten. Ob dieser „“Gott“ Allah, Jahwe, Christus oder Om heißt, ist demgegenüber zweitrangig.

Wir brauchen einen Gott, der uns lehrt, gütig zu werden: Im Umgang mit uns selbst und mit allen Lebewesen, die uns anvertraut sind. Dazu helfe uns jener Gott, der sich in seinem Sohn als die schlechthinnige Liebe offenbart hat. Der Weg zu ihm aber ist ein Weg des Loslassens von allem.

Oder, wie Johannes sagt: Der Pfad des Nichts. AMEN.

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