Predigt über 1. Johannes 2, 12-14 am 22.Sonntag nach Trinitatis 2023

„Liebe Kindlein!“

So spricht der Verfasser des Johannesbriefes immer wieder seine Leser an.

„Liebe Kindlein, ich schreibe Euch, dass Euch die Sünden vergeben sind um seines Namens will“ Damit beginnt unser heutiger Predigttext am 22. Sonntag nach Trinitatis, in dessen Mittelpunkt das Nachdenken über „Vergebung“ steht. Er steht im 1. Johannesbrief (2, 12 – 14)

„Bei dir ist Vergebung, dass man dich fürchte…“ (Ps. 130, 4) Dieses Psalmzitat gab unserem heutigen Gottesdienst sein Thema.

Vergebung und Fürchten? Passt das zusammen?

Gemeint ist: Das Erleben von Vergebung führt zu Respekt vor dem Anderen, führt zu Dankbarkeit. Es führt dazu, dass ich mich erleichtert fühle. „Was bin ich froh, dass du jetzt nicht sauer bist!“ „Ich weiß schon, ich habe was verbockt, einen Termin vergessen, dich gekränkt, wie auch immer … und ich bin freudig überrascht, wie du damit umgehst. Ich danke dir für deine Weite, für dein Verständnis …“

Vergebung ist ein Geschehen, das kann man nicht machen. Das hat es mit den anderen wesentlichen Geschehnissen gemeinsam, die diese Welt schön und lebenswert machen.

Friede, Liebe, Dankbarkeit, Freude – all dies ist unserem „Machen-Können“ entzogen. Alles, was wir „machen“ können, alles, was wir dazu beitragen können, ist: Es zulassen, uns dafür zu öffnen.

Und dankbar zu ein. „Hätte der Mensch nicht mehr mit Gott zu schaffen, als dass er dankbar ist, es wäre genug.“ (Meister Eckhart, Predigt 34)

Der Gegenspieler dieses Geschehens ist die Angst davor, „sich etwas zu vergeben.“ Sich etwas vergeben bedeutet: Das darf ich unter gar keinen Umständen zulassen. Damit würde ich ja mein Gesicht verlieren.

Diese Gedanken vollziehen sich zunächst einmal in einem selbst.

Sie sind reflexhaft.

Sie sind Ausdruck eines Abwehr-Reflexes.

Es stemmt sich etwas dagegen, wehrt sich „mit Händen und Füßen“.

„Das darfst du unter gar keinen Umständen zulassen!“ sagt eine Stimme, die nicht vergeben kann – und die auch gar keine Vergebung will.

Weil sie keine braucht.

„Ich danke dir Gott, dass ich nicht bin wie die anderen Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch dieser Zöllner“, betet der Pharisäer (Lukas 18,11).

Er braucht keine Vergebung der Sünden. Er kann damit auch gar nichts anfangen.

Muss er natürlich auch nicht.

Vergebung ist was für die Sünder, sagt er. Gott sei Dank gehöre ich nicht zu ihnen!

Es ist nur so – und das ist ein Naturgesetz: dass es kein Licht gibt ohne Schatten gibt; genauso wenig gibt es den Tag ohne die Nacht, gibt es das Gute ohne das Böse…

Indem wir unseren eigenen Schatten exkommunizieren, verunmöglichen wir es unserem Licht zu leuchten! Die Folge davon ist, dass sich unsere Welt eintrübt. Dass ein Nebel unsere Seelenlandschaft überzieht – der verhindert, dass das Licht unserer Seelen-Sonne leuchtet. Sie ist fahl geworden, irgendwie halblebig: nicht Fisch, nicht Fleisch.

Und es gibt noch eine tragische Folge davon, wenn wir unseren eigenen Schatten exkommunizieren: Er verschwindet nämlich nicht einfach. Stattdessen überschattet er das Leben der Anderen. In die Vorannahmen und Vorurteile über die „Anderen“ haben sich unsere eigenen Schattenseiten verkrochen.

Unser heutiger Predigttext ist ein wunderbares Beispiel für die Abwehr der Schattenseiten unseres Auf-der-Welt-Seins. Ich lese Ihnen jetzt zur Gänze vor:

„12 Liebe Kindlein, ich schreibe euch; denn die Sünden sind euch vergeben durch seinen Namen.

13 Ich schreibe euch Vätern; denn ihr kennt den, der von Anfang ist. Ich schreibe euch Jünglingen; denn ihr habt den Bösewicht überwunden.

14 Ich habe euch Kindern geschrieben; denn ihr kennet den Vater. Ich habe euch Vätern geschrieben; denn ihr kennt den, der von Anfang ist. Ich habe euch Jünglingen geschrieben; denn ihr seid stark, und das Wort Gottes bleibt bei euch, und ihr habt den Bösewicht überwunden.“ (1. Joh. 2,12-14)

Ende gut – alles gut!

Also gehen wir beruhigt nach Hause.

Dann hätten wir uns einmal mehr bestätigt, dass wir auf der richtigen Seite des Lebens, „on the sunny side of the street“ sind.

Und wo bleiben die Schattenseiten? Die tauchen in den beiden Versen auf, die unseren Predigttext umrahmen.

Zum Beispiel im Vers davor (11): „Wer aber seinen Bruder hasst, ist in der Finsternis und wandelt in der Finsternis und weiß nicht wohin er geht, weil die Finsternis seine Augen verblendet hat.“

Oder – noch deutlicher – Vers 15-16: „Liebt nicht die Welt noch was in der Welt ist! Wenn jemand die Welt liebt, ist die Liebe des Vaters nicht in ihm: denn alles, was in der Welt ist, die Begierde des Fleisches und die Begierde der Augen und der Hochmut des Lebens, ist nicht vom Vater, sondern ist von der Welt.“

Schüchterne Gegenfrage: Ich dachte immer, der Vater ist es, der diese Welt geschaffen hat. Und zwar mit allem, was darinnen ist. Jetzt heißt es auf einmal, wer die (vom Vater geschaffene) Welt liebt, der ist aus der Liebe des Vaters herausgefallen.

Liebe Gemeinde!

Wenn ich Gottesdienst halte, ist das erste Gebet, das mir wichtig ist, das aus meinem Herzen kommt: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ Es ist das Sündenbekenntnis. Es gibt die Meinung: Das ist typisch protestantisch. Du wirst zunächst einmal als Sünder angesprochen und nicht als Getaufter, als einer, dem durch die Taufe die Sünden vergeben worden sind.

Ich meine: Vergebung kann ich nur erleben, wenn ich auch den Mut habe, mich als Sünder zu erleben. Solange ich überzeugt davon bin, dass ich schon alles richtig mache, solange ich keine Sünde bei mir finde – solange kann ich mit Vergebung nicht viel anfangen. Oder anders: Solange bleibt mein Sündenbekenntnis hohl. So wie das des Pharisäers.

Und es gilt auch anders herum: Vergebung kann ich nur dann erleben, wenn ich mich als gerechtfertigt, oder moderner ausgedrückt, wenn ich mich im Großen und Ganzen als „in Ordnung“, als einen Menschen erlebe, der schon recht ist, so wie er ist. Ich kann mich meinen Schattenseiten nur dann zuwenden, wenn ich einen Ort in mir finde, der mir Sicherheit gibt. Dieser Ort ist meine gesunde Selbstliebe die untrennbar ist von meiner gesunden Gottesliebe.

 

Weder der „ewige Sünder“ noch der der durch die Taufe „Sündenfreie“ kann Vergebung erleben.

Es geht um das „Zugleich“: „Zugleich Sünder zugleich gerechtfertigt“.

Um dieses Zugleich hat Martin Luther bis zur Mitte seines Lebens gerungen.

Es zu „erreichen“ bedeutet, Widersprüchliches, Ambivalentes auszuhalten. Auszuhalten, dass es das „eine Perfekte“ oder „Eindeutige“ in dieser unserer Welt nicht gibt.

Oder – anders ausgedrückt: Dass auf und in dieser unserer Welt zu leben heißt: Abschied zu nehmen vom Paradies und von der Sehnsucht nach dem Paradies..

In der großartigen Dichtung von John Milton, „Paradise lost“ (Das verlorene Paradies) ist es Satan, der den Weg in die Realität, in die Wirklichkeit – so wie sie halt ist – nicht gehen kann. Gut und böse, hell und dunkel, leicht und schwer, heiter und traurig usw. Die Wirklichkeit ist immer etwas Vermischtes. Und das ist gut so!

Unser Predigttext rät dazu, die Ambivalenz zu vermeiden, indem alles Unerwünschte exkommuniziert wird. Dies ist in totalitären Systemen üblich. Womit man nichts zu tun haben will, wird ausgeschieden. Man nennt es das Reich des Bösen, der Finsternis oder des Satans. Übrig bleibt ein vermeintliches Reich des Guten, der Rechtgläubigen usw. Wie grausam und voller Hass dieses Reich ist, bekommen wir aktuell im Iran und in Afghanistan mit. Und natürlich in allen Sekten, die es auf dieser Welt gibt. (In Klammern: Ich empfehle das Buch „Unorthodox“ von Deborah Feldman. Es handelt vom Aufwachsen in einer chassidischen Sekte.)

Es ist eine tragische Ironie, dass die vermeintliche Ausscheidung oder Ausrottung des Satans seine Herrschaft stärkt.

Und es ist die Fähigkeit zur Integration der verschiedensten auch widersprüchlichen Kräfte, die uns Menschen stark macht und uns vor dem Sog destruktiver Triebe schützt. Integration ist eine Fähigkeit, die verbindet, die verschiedene sogar widersprüchliche Seiten wahrnehmen kann ohne sie ausscheiden zu müssen.

Politisch ausgedrückt ist die Fähigkeit zur Integration die Fähigkeit zur Demokratie.

Eine starke Quelle für diese Fähigkeit aber ist die Kraft der Vergebung. Der Vergebung von beiden Seiten:

Meinem Nächsten zu vergeben und mir selbst vergeben zu lassen.

Das vorhin gehörte Gleichnis vom Schalkssknecht lässt sich leider dazu verwenden, als würde der, der nicht dankbar ist, der das Geschenk Gottes nicht annehmen kann, von Gott bestraft werden.

Dem ist nicht so.

In Wirklichkeit bestraft er sich sich selbst. Die Wirklichkeit ist, dass er gar keine Vergebung erleben konnte. Oder, anders ausgedrückt, dass er sich auf „Vergebung“ nicht einlassen konnte.

Das Erleben von Vergebung tut nämlich weh. Und vor der Freude darüber steht der Schmerz. Der Schmerz des Erlebens der eigenen Härte, Kälte, der eigenen Hartherzigkeit.

Um diesen Weg gehen zu können, um sich darauf einlassen zu können, bedarf es einer Liebe, die wir wiederum uns nur schenken lassen können.

Gott sei mir Sünder gnädig heißt auch: Schenke mir das Licht der Liebe, das ich benötige, um meine Schattenseiten zu beleuchten.

Ehrliche und radikale Selbsterkenntnis ist nur möglich im Licht der Liebe. (Im Hebräischen ist Liebe und Erkennen derselbe Wortstamm.)

In diesem Licht wird mein Blick weicher, mein Herz wärmer, mein Auftreten zugewandter.

In diesem Licht kann ich auch barmherzig auf unseren Predigttext blicken.

In diesem Licht sehe ich den anderen Satz aus dem ersten Johannesbrief, der so wahr ist:

„Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott in ihm.“ (1. Joh. 4,16) AMEN.

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