Liebe Gemeinde,
„der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein – oder er wird nicht sein…“ – dieser berühmte Ausspruch von Karl Rahner passt in besonderer Weise für die Texte des heutigen Gottesdienstes.
Schon der Wochenspruch des Propheten Jesaja: „Über dir geht auf der Herr und seine Herrlichkeit erstrahlt über dir“ ist nicht auf den ersten Blick zu verstehen. In der Übersetzung von Martin Buber lautet er: „Sein Ehrenschein ist über dir erstrahlt.“ Das dahinter stehende hebräische Wort lautet „kabod“ und ist schwer zu übersetzen, weil es so viele Bedeutungen haben kann. Die Grundbedeutung hat mit „schwer sein“, „gewichtig sein“ zu tun. Und so kann es sowohl „Bürde“ bedeuten als auch „Herrlichkeit“ im Sinne von „Ansehen“, „Pracht“. Aber eben nicht der schnelle, vergängliche „schöne Schein“ – sondern ein Leuchten „aus sich, von innen heraus“. Und unmittelbar davor heißt es: „Erhebe dich, werde licht!“ Dieses Wort kennen wir als Kanon: „Mache dich auf und werde licht“ – „licht“ klein geschrieben, als Adjektiv, im Sinne von „werde hell“.
Sodann hörten wir den jetzt zu predigenden Abschnitt aus dem 2. Korintherbrief.
Er beginnt mit einer Präzisierung Gottes: Der „Gott, der da sprach: Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten“, „der hat einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben, dass die Erleuchtung entstünde zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi.“ (V. 6b) Die Elberfelder Bibel übersetzt direkter, originalgetreuer: „Der Gott ist es, der in unseren Herzen aufgeleuchtet ist zum Lichtglanz der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Jesus Christi“. Also: Gott: Jener Gott selbst, der das Licht erschaffen hat – er ist es, der in unseren Herzen aufleuchtet, wenn und indem wir seine Herrlichkeit (kawod, siehe oben) im Angesicht seines Sohnes, im Angesicht Jesu Christi erkennen.“
Was bedeutet das?
Zuallererst:
Wir sind nicht Licht (Licht jetzt groß geschrieben, als Substantiv.)
Das ist die verführerische Botschaft des Satans im Paradies: „Ich seid selber Licht, Ihr seid selber Gott!“ So ist es gut, wenn Paulus sofort relativiert: „Wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen“ und er fügt hinzu: „Auf dass die überschwängliche Kraft von Gott sei und nicht von uns.“ (V. 7) Das ist die Falle, in die wir Menschenkinder auf unserem irdenen Entwicklungsweg unweigerlich hineintappen: zu meinen, wir selber seien Gott. Zu meinen: Wir brauchen keinen Gott.
Der vielfache beklagte Mitgliederschwund der Kirchen hat meines Erachtens genau hier seine Wurzel: Gottesdienst ist etwas für Alte, für Omas und Opas – aber kräftige aufgeklärte, moderne Menschen brauchen keinen Gott! Vor kurzem las ich eine wohlmeinende Rezension über das große mystische Werk des Heiligen Johannes vom Kreuz, „Aufstieg auf den Berg Karmel“: „Das Buch kann ich sehr empfehlen. Ich habe es meiner Oma zu Weihnachten geschenkt und ihr damit eine große Freude gemacht. Sie liebt Bücher von Heiligen und so…“
„Duzi, duzi, … Oma“ kann man dazu nur sagen. Du bist ja eine Liebe – aber halt ein wenig gagagaga … Da sind so Heiligen-Bücher genau das Richtige…
Unsere irdenen Denk-Gefäße, innerhalb derer wir den Erkenntnis-Schatz haben, weigern sich, diesen Schatz aufzunehmen und zu behalten. Sie wollen nicht nur „Container“ für einen Schatz sein – sie wollen selbst Schatz sein. Von daher werten sie ab, verspotten und verhöhnen. Das Angesicht Jesu Christi, in dem der Glanz Gottes aufleuchtet, ist auch das Angesicht des Gekreuzigten und Verhöhnten: „Steige doch herab vom Kreuz, wenn du wirklich der bist, der zu sein, du vorgibst: Der Sohn Gottes!“ So höhnen die Spötter.
Paulus sagt: „Lasst Euch davon nicht beirren. Genau zu diesem Zweck hat Gott uns seine Kraft in irdenen Gefäßen geschenkt, auf dass wir nie vergessen, dass unsere tragfähigen Erkenntnisse nicht von uns selber sind.“
Albert Einstein hat einmal gesagt: „Ich konnte meine Erkenntnisse bezüglich der Relativitätstheorie nur denken, indem ich mir vorstellte, in den Fußstapfen Gottes zu laufen.“ Ich denke, genau dies meint Paulus an dieser Stelle. Und er fügt hinzu: „Wir sind bedrängt von allen Seiten, aber wir ängstigen uns nicht.“ (V. 8a)
Dem kann ich leider nicht zustimmen. Doch: Ich ängstige mich täglich. Ich habe Angst davor, die neuesten Nachrichten über den Ukraine-Krieg zu hören, über Israels Kampf gegen die Hamas. Ich habe Angst zu erfahren, wie schnell sich unsere Erde erwärmt und welche Naturkatastrophen uns in 2024 bevorstehen. Ich habe Angst in Anbetracht der drei bevorstehenden Landtagswahlen, wie stark die AFD werden wird und damit die Aushöhlung unserer Demokratie fortschreitet.
Ich habe Angst davor, dass Donald Trump noch einmal amerikanischer Präsident werden wird. Ich habe Angst davor, dass Amerika dann die NATO verlässt. Usw. und so fort. …
Wobei Paulus im nächsten Satz sich selbst relativiert: „Uns ist bange, aber wir verzagen nicht. Wir leiden Verfolgung, aber wir werden nicht verlassen. Wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um.“ Und – Höhepunkt dieser Aufzählung: „Wir tragen allezeit das Sterben Jesu an unserem Leibe, auf dass auch das Leben Jesu an unserem Leibe offenbar werde.“ (V.8b-10)
Da gehe ich mit: „Mir ist bange“. Und was hilft mir da der Gedanke: Ich trage das Sterben Jesu an meinem Leib? Auf dass auch das Leben Jesu an meinem Leibe offenbar werde. … Das verstehe ich nicht. Ich trage meine Hose an meinem Leib, mein Hemd, heute und jetzt gerade meinen schwarzen Talar. Aber das Sterben Jesu auf dass das Leben Jesu offenbar werde. Was meint Paulus damit?
Wie kann das gehen?
„Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein – oder er wird nicht sein.“
Mystiker sein bedeutet zuallererst: Da weiter zu denken, wo ich etwas nicht verstehe. Weiterzudenken und sich von den Gefühlen der Ablehnung, die sagen: „Das ist Blödsinn der höheren Art!“ sich nicht durcheinander bringen zu lassen. Natürlich ist der Satz symbolisch gemeint. Mystiker sein heißt, das Denken im Konkreten zu verlassen. Der Heilige Johannes vom Kreuz hat das die „Dunkle Nacht der Sinne“ genannt. Auf sie kann ich mich einlassen, wenn ich weiter denke, ohne mir etwas vorstellen zu können. Wenn ich das Leben Jesu an meinem Leibe trage, dann versuche ich aus der Liebe heraus zu leben. Und zwar so, dass ich meinen Hass, meine „hässlichen“ Gefühle nicht unterdrücke. Dass ich sie anerkenne als meine eigenen, zu mir gehörigen. Dann ist Schluss mit meiner Sehnsucht nach Harmonie. Und meinem Selbstbild, ein guter Mensch zu sein…. Das ist die Bedeutung des Sündenbekenntnisses am Beginn eines Gottesdienstes. Es geht um die Anerkennung meiner eigenen, hässlichen Seiten. Erst wenn dies möglich wird, muss ich meine Mitmenschen nicht mehr als Projektionsflächen für meine eigenen vermeintlich unannehmbaren Empfindungen verwenden. Es bedarf einer dunklen Nacht, um mich selbst kennen und verstehen zu lernen. Unser Verstand funktioniert nur in der Sonne vermeintlichen Verstehens. Sie belichtet ihn. Der Mystiker verlässt diese Verstandes-Sonne und begibt sich freiwillig in die dunkle Nacht. Damit aber verlässt er sich nicht länger auf seine Sinne, auch nicht auf seinen Verstand. Nicht einmal auf Gott, denn auch er ist in dunkler Nacht verschwunden. Was bleibt dann?
Nichts mehr.
Schweigen ist die Sprache Gottes, sagt Rumi.
In dieser dunklen Nacht erkenne ich mein Nicht-Wissen an.
Ich weiß nicht, wie es mit unserer Demokratie weiter geht.
Ich weiß nicht, ob die militärischen Konflikte zu einem III. Weltkrieg führen.
Ich weiß nicht, ob die christliche Kirche, ob unsere protestantische Kirche noch eine Zukunft vor sich hat. Das Leben Jesu am Leibe tragen heißt für mich: Ich weiß nicht, wie es weiter geht, ich weiß nicht wohin mich mein Weg führt.
Der Christ der Zukunft wird eine Mystiker sein …
Er geht seinen Weg, den er nicht findet, weil er ihn nicht kennt.
Es ist ein wegloser Weg.
Am letzten Montag traf hier sich hier im Gemeindehaus ein kleiner Kreis von Christen zum Thema Kirchenaustritte. Zum ersten Mal sind die Mitglieder der beiden christlichen Religionen in Deutschland in der Minderheit – d.h. unter 50 Prozent. Es hieß: So weit ist es schon gekommen. Zum Schluss müssen wir noch erleben, dass in Deutschland am Freitag der Muezzin zum Gebet ruft.
Das scheint unannehmbar zu sein. Die zugehörige Emotion ist eine Mischung aus ärgerlicher Empörung und Angst.
Gegenfrage: Ja und? Was wäre denn daran so schlimm? Nur weil es nicht in unsere Kultur passt? Dass wir überfremdet werden?
Ich kann mich noch erinnern, als in Pullach im Jahr 1960 das Predigerseminar der VELKD gebaut worden ist. Da hieß es: Das ist ja unmöglich. So eine Backsteinbau passt überhaupt nicht nach Bayern. Und schon gar nicht in unser schönes Pullach.
Wer bestimmt eigentlich, wohin was passt?
Angst macht eng – Liebe macht weit.
Ich brauche für mein gelebtes Christ-Sein doch kein Kreuz! Und warum sollte mich der Islam in meinem Glauben verunsichern. Rumi, ein bekannter und bedeutender Mystiker, – ich zitiere ihn gerne – war Muslim. Er hat wunderschöne berührende Texte geschrieben. Mein Glaube ist doch nicht an eine Konfession gebunden.
Mein gelebtes Christ-Sein kommt aus mir heraus, aus meiner inneren Verbindung mit etwas unbedingten, schlechthinnigen Gutem. Ich nenne dies Jesus Christus. Und ich bin weit davon entfernt, jemanden des Unglaubens zu bezichtigen, der es „Mohammed“ oder „Allah“ nennt. Oder „Jahwe.“ Ich habe auch keine Einwände, wenn wir uns überlegen, wie wir christlichen Glauben, wie wir Gottesdienste „attraktiver“ machen können. Aber das ist nicht das Zentrum. Das Zentrum ist meine, unsere Authentizität. Dass wir nicht ins Schwafeln kommen, wenn wir gefragt werden, glaubst du an Gott?
Ja, ich glaube an Gott. Ich glaube, dass er sich in Jesus Christus als liebevoller und uns zugewandter Gott gezeigt hat. Ich glaube, dass es meine lebenslange Aufgabe als Mensch und Christ ist, diese Gott, seine Freundlichkeit, seine Güte, seine Barmherzigkeit immer tiefer zu verinnerlichen. Der Prozess der Verinnerlichung setzt voraus, dass ich die Kraft in mir finde, Gott nicht als etwas Konkretes zu denken. Gott als Vater, als Sohn, als Heiliger Geist sind Krücken für mein Denken und Erkennen. Gott an sich ist (jedenfalls für mich) unerkennbar.
Aber ich kann jeden Tag versuchen, mein Leben als liebevolles Zuwenden zu dem, was gerade ist, zu leben. Dazu benötige ich die Kraft des liebevollen Zuwendens an das, was ist. Mit ihr kann ich mich verbünden. Und ich kann mir Mühe geben, mich von der scheinbaren Erleichterung, die ich mir durch ausgrenzen, abspalten und kommunizieren verschaffe, nicht verführen zu lassen. Und wenn ich dann merke, dass etwas in mir sagt: Bist du blöd? Du lässt dich überfremden, verlierst deine eigene Identität, das darfst du dir nicht bieten lassen … dann erlebst du, was es heißt, das Sterben Jesu am Leib zu tragen … auf dass sein Leben an deinem Leib offenbar werde, AMEN.