Predigt über 1. Mose 22, 1-19 am Sonnntag Judica 2024

Liebe Gemeinde,

„Schaffe mir Recht, Gott!“ ist die Überschrift des heutigen Gottesdienstes am Sonntag Judica.

„Dann haben Sie Recht – und sonst nichts!“ hat meine Supervisorin gesagt, wenn ich wieder einmal um mein „Recht-Haben“ gegenüber Patienten oder Kollegen gekämpft habe. Und, bei genauerer Betrachtung: Wie soll das denn gehen: „Recht zu haben“?

Recht ist kein Besitz.

Man kann – schwer genug – Recht sprechen.

Man kann sich im Recht fühlen.

Aber Recht haben?

Wer überzeugt davon ist, Recht zu haben, ist ein Rechthaber.

Mit solchen Menschen in ein kreatives Gespräch zu kommen, ist unmöglich.

Es fühlt sich an, als würde man gegen eine Wand reden.

Klassische Antworten des Rechthabers sind:

„Das habe ich mir schon gedacht!“

Oder „Ja, ja, ich weiß schon …“

Recht haben und versuchen, den Anderen zu verstehen schließen sich nämlich aus.

Verstehen bedeutet Beweglichkeit, bedeutet im Gespräch den eigenen Stand-Punkt verlassen, sich selbst in Frage stellen zu lassen, sich selbst in Frage zu stellen. Versuchen, aus der Sichtweise, der Perspektive des Anderen heraus zu erleben.

Da entstehen dann Sätze wie: „Ach – so siehst du das also… „

Die Haltung dazu ist Neugierde: „Ich bin neugierig, wie du das siehst…“

Wem es wichtig ist, Recht zu haben, der wird auf andere Meinungen, Sichtweisen als seine eigene nicht besonders neugierig sein. Er kann die Perspektive, aus der heraus er auf das „Leben“ blickt, nicht wechseln. Seine Perspektive ist erstarrt. Sie ist die einzig denkbare. Das Recht-Haben-Wollen oder auch -Müssen verhindert die Möglichkeit des Perspektivenwechsels, verhindert die Bereitschaft, sich in die Sichtweise meines Mitmenschen – der ja immer der „Andere“ ist – einzufühlen.

Sich-einfühlen bedeutet, Nähe zum Anderen, mir Fremden zuzulassen.

Für den Rechthaber ist Einfühlung in den Anderen, Sich-vom-Anderen-Erreichen-Lassen und versuchen, den Anderen zu erreichen, Ausdruck von Schwäche.

Stärke hingegen ist für ihn, „sein Ding durchzuziehen“, zu wissen, wo es lang geht, alles im Griff zu haben. An der Stelle der Einfühlung steht die Bewertung des Anderen. Natürlich auf dem Hintergrund der eigenen Perspektive.

In bestimmten Denk-Kreisen wird dies als Männlichkeit propagiert.

Ich bin anderer Meinung: Ich halte dies für verdrehte, pervertierte Männlichkeit.

Die Rechthaber gibt es überall: In der Wirtschaft, in der Politik, in den Kirchen.

„Unfehlbar“ sind sie – oder glauben jedenfalls, es zu sein.

Für die Rechthaber sind meine Predigtgedanken höherer Blödsinn. Wenn ich frei bleiben will, muss ich mich damit abfinden, sie nicht erreichen zu können.-

In dem heute zu predigenden Text ist es der Satan, der als „Rechthaber“ Gott herausfordert. Er „versucht“ ihn – heißt es – mit dem Satz: Kein Mensch auf dieser Welt dient dir bedingungslos. Nicht einmal dein Lieblings-Mensch Abraham: Du musst ihn nur dazu auffordern, dass er sein Liebstes hergibt – und du wirst sehen: Er wird dir den Gehorsam verweigern.

Das Liebste aber, das Abraham gemeinsam mit seiner Frau hatte, war beider Sohn Isaak. Der Name Isaak bedeutet: „Zu absurd, um noch daran zu glauben“, oder „zu lächerlich, um darauf zu bauen“ oder: „Es ist einfach zum Lachen“. Sein Name hat mit seiner Entstehung zu tun: Sara, die Frau Abrahams und Mutter Isaaks, lacht Gott aus, als er ihr sagt, sie wird schwanger werden und einen Sohn gebären. Sie meint, sie wäre zu alt, hätte schon lange ihre Tage nicht mehr. Es sei also unmöglich, einen Sohn zu bekommen.

Und weil sie Gott auslachte, muss sie so lange schweigen, bis sie Isaak auf die Welt bringt. (Das wäre ein eigenes Thema: Das Schweigen der Sara.)

Und diesen lang ersehnten, schon aufgegebenen und dann doch auf die Welt kommenden Isaak soll Abraham jetzt – auf Gottes Befehl hin – opfern!

„Gott versuchte Abraham“ – so geht die Geschichte im 1. Buch Mose an.

Keine Ahnung warum: Das bleibt offen. Eine jüdischen Sage führt an dieser Stelle wie gesagt den Satan ein: Er ist die personifizierte Versuchung. Mit diesem Kunstgriff wird Gott „geschont“. Nicht Gott, sondern Satan versucht. Aber natürlich ist Satan auch eine Seite von Gottes Schöpfung, weil es ein „außerhalb Gottes“ nicht gibt. Und so heißt es: „Gott versuchte Abraham“.

Satan heißt wörtlich: Der (Ver-)Hinderer.

Satan verführt dazu, die Einfühlung in den Anderen, in das Fremde aufzugeben.

Satan ist die Personifizierung der Kraft, die Einfühlung in den Anderen, Verständnis, Rücksichtnahme, Nachgiebigkeit verhindern möchte.

Satan sagt: „Gib den Menschen genug zum Essen und einen starken Führer“ – mehr wollen die gar nicht.

Satan macht aktuell im sogenannten Populismus und seinen Repräsentanten Karriere. Und natürlich ist Satan ein Feind demokratischen Denkens und Handelns, ist dieses doch auf der Freude an Vielfalt und Buntheit aufgebaut.

In der genialen Geschichte „Der Großinquisitor“, die Dostojewski in seinem Roman „Die Brüder Karamasow“ einflicht, wird Jesus wegen Ketzerei von der Inquisition in Spanien hinter Gittern gebracht. Die Rahmenhandlung: Er war noch einmal auf die Erde gekommen, und zwar in Spanien, als die Inquisition auf ihrem Höhepunkt war. Jesus hatte noch einmal seine Predigt von Liebe und Barmherzigkeit gehalten, hatte noch einmal ein dem Tode geweihtes Mädchen mit den Worten: „Talita kumi – steh auf und geht“ geheilt. Und eben dieser Jesus wird von den Schergen der Inquisition abgeführt und in den Kerker gebracht.

In dunkler Nacht besucht ihn der Großinquisitor im Gefängnis und hält einen langen Monolog. Er hält Jesus vor, dass sein größter Fehler darin bestanden hätte, die Verführungen des Satans abgelehnt zu haben. Aber die Kirche habe diesen Fehler inzwischen ausgebügelt:

„Wir sind nicht mit dir verbündet, sondern mit ihm (nämlich dem Satan) – das ist unser ganzes Geheimnis.“ Der Grund für dieses Bündnis sei die Sehnsucht des Menschen, jemand zu haben, „vor dem er sich beugen kann, wem er sein Gewissen übergeben kann.“ Auf dem Boden dieser Sehnsucht wurden und werden die politischen wie religiösen Diktaturen errichtet. (In Klammern: Vor kurzem sagte mir jemand, der in der DDR aufwuchs: „Ich habe auch mit geschrien, dass wir das Volk sind. Weil ich nicht kapiert habe, wie anstrengend es ist, in Freiheit zu leben, wo dir keiner sagt, was falsch und was richtig ist und was du machen sollst. Ich kann Ihnen nur sagen: Ich wünsche mir die gute, alte DDR zurück!“)

Doch zurück zu unserer Geschichte von der Opferung Isaaks:

Satan will Gott beweisen, dass niemand auf der Welt sich ihm bedingungslos hingibt. „Nimm ihm sein Liebstes weg, und er wird dir nicht mehr folgen!“

Und so versucht Satan mit teuflischer Raffinesse, die Opferung Isaaks viermal zu verhindern:

Zum ersten wendet er sich in der Gestalt eines alten Mannes, gebeugt und demütig an Abraham und sagt: „Du einfältiger Idiot. Niemals würde Gott von dir verlangen, dass du deinen Sohn opferst, den er dir selbst nach vielen Jahren geschenkt hat!“ Aber Abraham fällt nicht darauf ein, er schreit den Satan an, worauf dieser sich verzieht.

Jetzt versucht er Isaak zu verführen und erscheint ihm in Gestalt eines schönen Jünglings und sagt: „Dein Vater ist alt und dement. Er will dich heute seinem Gott opfern. Höre nicht auf ihn. Lass deine teure Seele und deine schöne Gestalt doch nicht von der Erde verschwinden.“ Isaak aber erzählt diese Begegnung seinem Vater, worauf dieser ihn davor warnt, auf den Teufel herein zu fallen. Und wiederum schreit er den Teufel an, er soll abhauen. Als der Teufel merkt, dass er gegen die Beziehung der beiden, gegen die Vater-Sohn-Beziehung nicht ankommt, verwandelt er sich in einen reißenden Strom und legt sich den Beiden in den Weg. Beinahe wären sie ertrunken, da fällt Abraham ein, dass auch dies des Teufels Werk ist und er sagt laut: „Gott schelte dich, du Satan, geh fort von uns, denn nach dem Befehl des Herrn sind wir unterwegs.“ Während der Satan in der ersten und zweiten Versuchung Beziehungen angegriffen hatte: nämlich die Beziehung Abrahams zu Gott und die Beziehung Isaaks zu seinem Vater, versucht er es jetzt mit dem Schicksal. Der reißende Strom steht für mich für die Vergänglichkeit, der unser aller Leben unterworfen ist. Wer diese nicht anerkennen kann, flieht in die Illusion eines Paradieses – und damit direkt in die Arme des Teufels. Es ist die Erkenntnis, dass unser Leben sich in der Realität abspielt, und zu dieser Realität gehören Krankheit, Sterben, eben Vergänglichkeit dazu: Die Anerkenntnis dieses „fact of life“ ist es, die den Satan vertreibt: „Und Satan erschrak vor der Stimme Abrahams und ging davon und der Ort war wieder festes Land geworden.“ Mit anderen Worten: Abraham und Isaak standen wieder auf dem festen Boden der Tatsachen!

Als schließlich Abraham mit seinem Sohn an der Stätte „Moria“ ankommen – „Moria“ ist übrigens in seiner Wortbedeutung mit „unterweisen“ oder „lehren“ verwandt – bereitet Abraham alles dafür vor, um seinen Sohn zu opfern. Als er gerade dabei ist, mit einem kurzen Schnitt ihm die Halsschlagader durchzuschneiden, ertönt eine himmlische Stimme und sagt: „Lege deine Hand nicht an den Knaben und tue ihm nichts, denn nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen.“ Und Abraham sah einen Widder, der sich mit seinen Hörnern im Gestrüpp verhängt hatte und opferte ihn an der Stelle seines Sohnes. Dies war das vierte Werk des Satans gewesen: Er hatte den Widder gefangen und ihn im Gestrüpp verhängt, da er verhindern wollte, dass Abraham den Widder sah und ihn opferte an der Stelle seines Sohnes. Der Widder tritt also an die Stelle des Körpers von Isaak! Es ist unser menschlicher Körper, der auf dem Weg zu Gott „hinzugeben“ ist. Von ihm gilt es Schritt für Schritt loszulassen.

So weit die Geschichte.

Was lernen wir daraus?

Ich lerne daraus: Wie schwer es ist, sich nicht verführen zu lassen. Alles – der gesunde Menschenverstand, die eigene Empfindung, die eigene Liebe protestieren dagegen, das eigene Kind zu opfern. Kind steht für das eigene neue Leben! Lang ersehnt! Und jetzt soll ich es wieder hergeben? Wir sind doch stolz auf unsere wohl geratenen Kinder, freuen uns daran, wenn sie ihren Weg gehen – und jetzt sollen wir sie opfern? Bloß um irgendeines Beweises willen, dass wir Gott radikal ergeben und treu sind? Und überhaupt: Was ist das für ein Gott, der sich mit dem Teufel einlässt? Der seine Geschöpfe versucht?

Nun – wenn man so konkret, ja konkretistisch denkt, ergibt die Geschichte keinen Sinn. Sie wird zu Non-Sens. (Dies gilt übrigens für ganz viele Stellen der Bibel: Wenn man sie konkret versteht, ist ihr Sinn zerstört.)

Und was lernen wir aus der Geschichte „im übertragenen Sinne“?

Es geht um die Bedeutung des „Opferns“. Opfern im Sinne von Sich-Hingeben, Sich-Überlassen. Jeder von uns – gleich ob Mann oder Frau – trägt einen Widerwillen in sich, Fremdes, Neues, Unbekanntes „näher an sich heran zu lassen“. Opfer heißt im Hebräischen „Korban“. Es bedeutet wörtlich: „sich nähern“, oder „näherbringen“. Und es wird prinzipiell verwendet in der Beziehung zwischen Mensch und Gott. Es geht also um die Idee, wie sich der Mensch Gott und wie sich Gott dem Menschen nähern kann. In der Mystik ist das die „Einswerdung mit Gott“. In vielen Bildern wurde diese Einswerdung beschrieben. Um nur zwei zu nennen: Im Bild des Wassers gleicht der Mensch einem Tropfen im Meer Gottes; im Bild des Feuers: Der Mensch gleicht einem Holzscheit, das zischend und prasselnd alle Feuchtigkeit verliert, bis es sich glühend ganz Gott hingegeben hat.

Allgemeiner ausgedrückt: Es geht um die Hingabefähigkeit von uns Menschen. Wer sich hingibt, hat aufgehört „gegen etwas zu sein“. Er hat aufgehört zu kämpfen.

Wer sich hingibt, versucht, aus der Liebe heraus zu leben.

Seine Haltung zum Leben lautet: „Es ist, was es ist.“ Diese Haltung hat nichts mit Gleichgültigkeit oder laissez-faire zu tun. Sie hat viel mit Bewusstheit des eigenen Lebensstils zu tun. Ich versuche dann, bewusst zu leben; so wie es für mich stimmt, und wie ich es, vor meinem Gewissen und meinem Gott verantworten kann. Aber ich habe aufgehört, missionarisch wirken zu wollen und andere davon zu überzeugen, dass sie doch genauso leben sollen, wie ich. Oder dass Sie jetzt meine Predigt in ihren Lebensalltag umsetzen sollen.

Und ich muss nicht mehr Recht haben.

Sich-hingeben: auch an die eigene Vergänglichkeit. An das Müde-Werden des Körpers, an das Müde-Werden der Seele. Es gut sein zu lassen gehört auch dazu. Nicht länger hadern oder sich empören.

Dazu gibt es ein schönes Gedicht von Theodor Fontane:

Es heißt: „Überlass es der Zeit“

Erscheint dir etwas unerhört,

bist du tiefsten Herzens empört,

Bäume nicht auf, versuch’s nicht mit Streit,

Berühr es nicht, überlass es der Zeit.

Am ersten Tag wirst du feige dich schelten,

am zweiten lässt du dein Schweigen schon gelten,

am dritten hast du’s überwunden,

alles ist wichtig nur auf Stunden,

Ärger ist Zehrer und Lebensvergifter,

Zeit ist Balsam und Friedensstifter.

Aus dieser Haltung heraus zu Leben bedeutet, die eigene Lust am Leben zu stärken. Und dem teuflischen Triumph am Infragestellen und am Zerstören Einhalt zu gebieten. Dies geht nur in und mit der Kraft der Liebe. Diese Kraft ist kein Besitz. Oder, mit den Worten des islamischen Mystikers Rumi:

„Die Liebe ist wie ein Hund. Sie packt dich am Genick und schleppt dich – auch wenn du noch so zappelst – zu Gott.“

Gebe Gott, dass wir den Mut und die Kraft aufbringen, uns von diesem göttlichen Hund packen zu lassen, AMEN.

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