Karfreitag 2024: Von Gott verlassen?

Liebe Gemeinde,

bei der Vorbereitung auf den heutigen Karfreitagsgottesdienst fühlte ich Widerwillen. Es ist derselbe Widerwille, mit dem ich mir die Nachrichten im Fernsehen anschaue, mit dem ich Zeitung lese, mit dem ich bei vielen meiner Patienten konfrontiert werde. Es ist der Widerwille dagegen, Qual, Leid, Folter aber auch Lüge, Betrug, Täuschung an mich heran zu lassen, zu akzeptieren, dass Menschen, dass wir Menschen dank unserer Intelligenz zu unfassbarer Zerstörung in der Lage sind. Im Kleinen, wie im Großen.

Es ist auch der Widerwille dagegen, anzuerkennen, dass der Mensch, dessen Predigten mich so tief berühren, dessen Gebete ich nachspreche, den ich als „Sohn Gottes“ bekenne – dass derselbe Mensch als Gotteslästerer zusammen mit zwei Verbrechern hingerichtet worden ist.

Was war sein Verbrechen? Dass er sich selbst als „König der Juden“, als der verheißene Messias ausgab? Vielleicht. Konkreter und naheliegender ist jedoch, dass er sich mit dem damaligen gesellschaftlichen Mainstream anlegte. Er warf die Händler aus dem Tempel: Das war ein Frontalangriff auf die damalige Zusammenarbeit von Wirtschaft und Synagoge. Er predigte Liebe anstelle von Macht. Das geht gar nicht. Wenn der Papst sagt, die Ukraine solle die weiße Flagge der Kapitulation hissen, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden, gibt es einen Aufschrei der westlichen Welt. Damit würde dem Imperator und Kriegsverbrecher Putin in die Hände gespielt, heißt es. Der nicht aufhören würde, ehemalige Sowjetstaaten zurück zu erobern. Wahrscheinlich ist das so.

Daraus folgt: Macht muss mit Gegen-Macht bekämpft werden. Und: Ohnmacht ist unter allen Umständen zu vermeiden.

Nicht so bei und für Jesus, dem Prediger der Liebe. Er steht auf der anderen Seite der Macht: Er steht auf der Seite der Ohnmacht. Des Ohne-Macht-Seins.

Das kann die Seite der Verzweiflung, der Kapitulation sein.

Muss aber nicht.

Es kann auch die Seite aufkeimender Liebe sein.

„Liebe wächst wie Weizen, und ihr Halm ist grün.“

Wir haben vorhin die Kreuzigung Jesu in der Fassung gehört, wie sie Johannes uns überliefert hat. Im Vergleich zu der Fassung des Matthäus – sie ist der heutige Predigttext – ist die Darstellung des Johannes ruhiger, auch milder. Nicht so hart und grausam wie bei Matthäus. Zum Beispiel endet bei Matthäus das Leben Jesu mit einem Schrei der Gottverlassenheit. Bei Johannes sind die letzten Worte Jesu ein „es ist vollbracht!“

Wenn ich ehrlich bin, würde ich lieber über die Johanneische Version predigen. Es fällt mir schwer, Gottverlassenheit zu predigen.

Gefühlt ist Gottverlassenheit nichts anderes als Horror.

Der Horror im Angesicht des Nichts.

Sollte alles, was ich glaubte, nichts sein?

Ich glaubte:

Endlich Einer

Denn mit Jesus war EINER da, der sagte:

Selig sind die Armen!

Und nicht: Wer Geld hat, ist glücklich.

Endlich EINER, der sagte: Liebe deine Feinde!

Und nicht: Nieder mit dem Gegner!

Endlich EINER, der sagte:

Erste werden Letzte sein!

Und nicht: Es bleibt alles beim Alten!

Endlich EINER, der sagte:

Wer sein Leben einsetzt und verliert,

der wird es gewinnen!

Und nicht: Seid schön vorsichtig!

Endlich EINER, der sagte:

Ihr seid das Salz!

Und nicht: Ihr seid die Creme.

Endlich EINER, der starb,

wie ER lebte.

(Nikolaikirche, Leipzig)

Ich werde jetzt nicht über den Text (Matthäus 27, 33 – 54) im einzelnen mit seinen vielen Anspielungen predigen. Auch auf die sublimen antisemitischen Gedanken, gipfelnd in der Verbindung des Namens von Judas als der „Jude“, der Jesus verrät, gehe ich nicht weiter ein.

Stattdessen möchte mit Ihnen über den Karfreitag als „mentales Geschehen“ nachdenken. Das mentale Geschehen des Karfreitags ist das Erleben des Verlassen-Werdens. Es ist das Erleben, dass sich das „radikal Gute“, die „nährende und wärmende Liebe“, dass sich Gott in der Gestalt seines Sohnes aus dieser unserer/meiner Welt zurückzieht. Karfreitag ist die Abwesenheit Gottes. Übrig bleibt der „von allen guten Geistern“ verlassene Mensch.

Karfreitag ist der jüngste Anschlag in Moskau, ist Stalingrad, ist Auschwitz, ist Gaza Streifen, ist Ukraine.

Karfreitag ist, von der Mutter zur Adoption freigegeben zu werden. Ist, von desinteressierten überforderten, weil selbst traumatisierten Eltern im Kinderheim „abgegeben“ zu werden.

Karfreitag ist der sexuelle Missbrauch von Menschen, die in Abhängigkeitsverhältnissen stehen.

Karfreitag ist narzisstischer Missbrauch von Kindern und Jugendlichen.

Karfreitag ist die Qual der Tiere, die eingepfercht in einem Tiertransporter ihrer Schlachtung entgegen fahren. Karfreitag ist die Qual der Hühner, deren Lebenssinn darin besteht, auf engstem Raum möglichst viel Eier zu legen. Karfreitag ist die Qual der Kühe, deren Euter so groß gezüchtet wird, dass sie nicht mehr laufen können.

Karfreitag ist die Qual der hochgezüchteten Pflanzen. Die in Käfigen, genannt Gewächshäuser, möglichst hohen Ertrag bringen sollen.

Kurzum: Karfreitag ist der Triumph der Mächtigen über die Ohnmächtigen, der Triumph der Bestimmer über die Bestimmten. Karfreitag ist die Rücksichtslosigkeit und Ignoranz derer, die Gewalt ausüben, gegenüber denen, die sich nicht wehren können oder wollen.

Karfreitag ist das Wegbrechen von Menschlichkeit, von Einfühlung, von Liebe.

Karfreitag ist der Triumph kalten Hasses, legiert mit Neid und Gier.

Wie kann es dazu kommen?

Gibt es Elemente, die dieses Geschehen, diese Entwicklung verständlich machen?

Ja – die gibt es!

Es ist nämlich so, dass wir Menschen allesamt Abhängigkeit erlebt haben. Zunächst einmal verbringen wir neun Monate in einem Behältnis, genannt Mutterleib, das uns Leben schenkt. Das uns aber auch vergiften kann, wenn seine Besitzerin Drogen nimmt. Oder uns töten kann, wenn sie uns wieder los werden will. Das wird dann Abtreibung genannt. Dem sind wir als Fötus wehr- und machtlos ausgeliefert.

Mutterleib heißt im Arabischen, „Rachim“. Das bedeutet auch „Erbarmen“, oder „Barmherzigkeit“. Dieses „Erbarmen“ erleben zu dürfen, ist nicht selbstverständlich. Es ist eine Gnade, ein Geschenk, einen Mutterleib zu erleben, in dem wir wachsen und am Ende unseres Wachstums das Licht der Welt erblicken dürfen.

Am Beginn unseres extrauterinen Lebens sind wir dann immer noch radikal abhängig von einer „Kraft“ oder „Macht“, die uns am Leben erhält, die uns füttert, sich unserer auch mental annimmt, die für unsere Sauberkeit sorgt. Und – falls wir Glück haben -: Die uns lieb hat.

Und wir, die wir hier zusammen sind:

Wir haben bei allem Leid etwas „Gutes“ und „Fürsorgliches“ im weitesten Sinne gebraucht und es auch bekommen – sonst gäbe es uns nämlich gar nicht!

Und wir haben alle Verlassen-Werden, Alleine-Sein erlebt. Auch die Brust, die mich nährt, die mich liebt: Sie verschwindet wieder. Die Hand, die mich zärtlich streichelt, ist irgendwann wieder weg. Je jünger ich bin, je weniger ich größere Zusammenhänge erkennen kann, desto ausgelieferter erlebe ich mich in diesem Verlassen-Werden. Ich werde immer ängstlicher, immer misstrauischer – bis ich überzeugt davon bin: Ich bin umzingelt von bösen Mächten die nur eines im Sinn haben: Mich zu zerstören. (Das ist der Stoff, aus dem unsere Albträume und die guten Thriller sind.)

Es gibt keine Erinnerung mehr an das Gute, das ich erlebt habe. Da, wo das Gute gewesen ist, ist jetzt das Böse. Im Märchen heißt das: Die „gute Mutter“ ist gestorben, an ihre Stelle ist die böse Stiefmutter getreten, die mich demütigt, die mich quält. Das Gute scheint nur gut zu sein, in Wirklichkeit aber ist es böse geworden. Wie konnte ich mich nur so täuschen: Die Frau, von der ich die leckeren Schokoladen-Lebkuchen bekam, ist in Wirklichkeit eine böse Hexe. Sie füttert mich nur, weil sie mich verzehren will… (Sie kennen Hänsel und Gretel.)

Freut sich Gott – das schlechthin Gute – in Wirklichkeit an meiner Ohnmacht, an meiner Hilflosigkeit, an meinem Ausgeliefert-Sein?

Ich dachte, ich wäre sein Ein-und-Alles. Von ihm eigenhändig erschaffen. Ich dachte, er verlässt mich nie. Ich dachte, ich habe die Macht, ihn bei mir zu halten. Ich dachte, ich habe alle Macht.

Und jetzt muss ich feststellen: Ich habe überhaupt keine Macht; hilflos ausgeliefert bin ich meinen Feinden, die sich an meiner Qual erfreuen und mich elendiglich verrecken lassen.

Anstatt von guten Kräften umgeben zu sein, bin ich von Hexen und Dämonen umgeben, die auf meinen Untergang aus sind.

Wo bist du, Gott?

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Liebe Gemeinde,

ich habe versucht, Ihnen einen Einblick in das mentale Erleben des Karfreitags zu geben. Die Quellen dieses Erlebens führen zurück in unsere Baby-Zeit.

Lange Zeit dachte man, Babys spüren nichts. Sie haben noch keine Empfindungen. So wurden sie noch in den Fünfzigern des letzten Jahrhunderts ohne Narkose operiert.

Es war Melanie Klein, die das Seelenleben des Kleinkindes erforscht hat. Sie hatte durch einfühlende Beobachtung erforscht, wie Seele, wie seelisches Leben entsteht.

Sie wurde und wird bekämpft. Es gibt einen großen Widerstand dagegen, sich in dieses ganz frühe Leben und Erleben von uns Menschenkindern einzufühlen. Es ist im übrigen derselbe Widerstand, der sich aufbaut, sich in das Leben und Erleben von Tieren und Pflanzen einzufühlen. Dass sie beseeltes Leben sind – so wie Sie und ich!

„Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“, hat Albert Schweitzer einmal gesagt. Entscheidend ist der Gedanke, ich bin inmitten von Leben. Von Leben, das genauso leben will, wie ich. Dessen Würde genauso unantastbar ist, wie meine eigene.

In dieser Haltung will ich versuchen, den heutigen Karfreitag zu erleben.

Diese Haltung führt heraus aus den verzweifelten Gefühlen meiner Einsamkeit, meiner Gottverlassenheit.

In dieser Haltung verwandelt sich mein Karfreitag in einen Kraftfreitag. (Dieses Wort verdanke ich der Autokorrektur meines Textprogrammes.)

Diese Haltung aber kann ich mir nicht selber erarbeiten. Ich kann sie mir nur schenken lassen. Es ist die Haltung, die die eigene Begrenztheit und Vergänglichkeit anerkannt hat. Die Menschen, die schreien, „Kreuzige ihn!“ – das sind dieselben, die schreien: „Hosianna dem König Davids!“

Karfreitag ist das Kippen der Allmachts-Illusion in die Ohnmachts-Illusion. Es ist der Zusammenbruch der manischen Gefühle und das Überflutet-Werden von depressiven Gefühlen.

Aber und: Es gibt ein „Dazwischen“. In den Ritzen zwischen den Felsen von Allmacht und Ohnmacht lebt jene Liebe auf, die längst erstorben schien:

„Liebe wächst wie Weizen, und ihr Halm ist grün.“ AMEN

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