Karfreitag

Karfreitag 2024: Von Gott verlassen?

Liebe Gemeinde,

bei der Vorbereitung auf den heutigen Karfreitagsgottesdienst fühlte ich Widerwillen. Es ist derselbe Widerwille, mit dem ich mir die Nachrichten im Fernsehen anschaue, mit dem ich Zeitung lese, mit dem ich bei vielen meiner Patienten konfrontiert werde. Es ist der Widerwille dagegen, Qual, Leid, Folter aber auch Lüge, Betrug, Täuschung an mich heran zu lassen, zu akzeptieren, dass Menschen, dass wir Menschen dank unserer Intelligenz zu unfassbarer Zerstörung in der Lage sind. Im Kleinen, wie im Großen.

Es ist auch der Widerwille dagegen, anzuerkennen, dass der Mensch, dessen Predigten mich so tief berühren, dessen Gebete ich nachspreche, den ich als „Sohn Gottes“ bekenne – dass derselbe Mensch als Gotteslästerer zusammen mit zwei Verbrechern hingerichtet worden ist.

Was war sein Verbrechen? Dass er sich selbst als „König der Juden“, als der verheißene Messias ausgab? Vielleicht. Konkreter und naheliegender ist jedoch, dass er sich mit dem damaligen gesellschaftlichen Mainstream anlegte. Er warf die Händler aus dem Tempel: Das war ein Frontalangriff auf die damalige Zusammenarbeit von Wirtschaft und Synagoge. Er predigte Liebe anstelle von Macht. Das geht gar nicht. Wenn der Papst sagt, die Ukraine solle die weiße Flagge der Kapitulation hissen, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden, gibt es einen Aufschrei der westlichen Welt. Damit würde dem Imperator und Kriegsverbrecher Putin in die Hände gespielt, heißt es. Der nicht aufhören würde, ehemalige Sowjetstaaten zurück zu erobern. Wahrscheinlich ist das so.

Daraus folgt: Macht muss mit Gegen-Macht bekämpft werden. Und: Ohnmacht ist unter allen Umständen zu vermeiden.

Nicht so bei und für Jesus, dem Prediger der Liebe. Er steht auf der anderen Seite der Macht: Er steht auf der Seite der Ohnmacht. Des Ohne-Macht-Seins.

Das kann die Seite der Verzweiflung, der Kapitulation sein.

Muss aber nicht.

Es kann auch die Seite aufkeimender Liebe sein.

„Liebe wächst wie Weizen, und ihr Halm ist grün.“

Wir haben vorhin die Kreuzigung Jesu in der Fassung gehört, wie sie Johannes uns überliefert hat. Im Vergleich zu der Fassung des Matthäus – sie ist der heutige Predigttext – ist die Darstellung des Johannes ruhiger, auch milder. Nicht so hart und grausam wie bei Matthäus. Zum Beispiel endet bei Matthäus das Leben Jesu mit einem Schrei der Gottverlassenheit. Bei Johannes sind die letzten Worte Jesu ein „es ist vollbracht!“

Wenn ich ehrlich bin, würde ich lieber über die Johanneische Version predigen. Es fällt mir schwer, Gottverlassenheit zu predigen.

Gefühlt ist Gottverlassenheit nichts anderes als Horror.

Der Horror im Angesicht des Nichts.

Sollte alles, was ich glaubte, nichts sein?

Ich glaubte:

Endlich Einer

Denn mit Jesus war EINER da, der sagte:

Selig sind die Armen!

Und nicht: Wer Geld hat, ist glücklich.

Endlich EINER, der sagte: Liebe deine Feinde!

Und nicht: Nieder mit dem Gegner!

Endlich EINER, der sagte:

Erste werden Letzte sein!

Und nicht: Es bleibt alles beim Alten!

Endlich EINER, der sagte:

Wer sein Leben einsetzt und verliert,

der wird es gewinnen!

Und nicht: Seid schön vorsichtig!

Endlich EINER, der sagte:

Ihr seid das Salz!

Und nicht: Ihr seid die Creme.

Endlich EINER, der starb,

wie ER lebte.

(Nikolaikirche, Leipzig)

Ich werde jetzt nicht über den Text (Matthäus 27, 33 – 54) im einzelnen mit seinen vielen Anspielungen predigen. Auch auf die sublimen antisemitischen Gedanken, gipfelnd in der Verbindung des Namens von Judas als der „Jude“, der Jesus verrät, gehe ich nicht weiter ein.

Stattdessen möchte mit Ihnen über den Karfreitag als „mentales Geschehen“ nachdenken. Das mentale Geschehen des Karfreitags ist das Erleben des Verlassen-Werdens. Es ist das Erleben, dass sich das „radikal Gute“, die „nährende und wärmende Liebe“, dass sich Gott in der Gestalt seines Sohnes aus dieser unserer/meiner Welt zurückzieht. Karfreitag ist die Abwesenheit Gottes. Übrig bleibt der „von allen guten Geistern“ verlassene Mensch.

Karfreitag ist der jüngste Anschlag in Moskau, ist Stalingrad, ist Auschwitz, ist Gaza Streifen, ist Ukraine.

Karfreitag ist, von der Mutter zur Adoption freigegeben zu werden. Ist, von desinteressierten überforderten, weil selbst traumatisierten Eltern im Kinderheim „abgegeben“ zu werden.

Karfreitag ist der sexuelle Missbrauch von Menschen, die in Abhängigkeitsverhältnissen stehen.

Karfreitag ist narzisstischer Missbrauch von Kindern und Jugendlichen.

Karfreitag ist die Qual der Tiere, die eingepfercht in einem Tiertransporter ihrer Schlachtung entgegen fahren. Karfreitag ist die Qual der Hühner, deren Lebenssinn darin besteht, auf engstem Raum möglichst viel Eier zu legen. Karfreitag ist die Qual der Kühe, deren Euter so groß gezüchtet wird, dass sie nicht mehr laufen können.

Karfreitag ist die Qual der hochgezüchteten Pflanzen. Die in Käfigen, genannt Gewächshäuser, möglichst hohen Ertrag bringen sollen.

Kurzum: Karfreitag ist der Triumph der Mächtigen über die Ohnmächtigen, der Triumph der Bestimmer über die Bestimmten. Karfreitag ist die Rücksichtslosigkeit und Ignoranz derer, die Gewalt ausüben, gegenüber denen, die sich nicht wehren können oder wollen.

Karfreitag ist das Wegbrechen von Menschlichkeit, von Einfühlung, von Liebe.

Karfreitag ist der Triumph kalten Hasses, legiert mit Neid und Gier.

Wie kann es dazu kommen?

Gibt es Elemente, die dieses Geschehen, diese Entwicklung verständlich machen?

Ja – die gibt es!

Es ist nämlich so, dass wir Menschen allesamt Abhängigkeit erlebt haben. Zunächst einmal verbringen wir neun Monate in einem Behältnis, genannt Mutterleib, das uns Leben schenkt. Das uns aber auch vergiften kann, wenn seine Besitzerin Drogen nimmt. Oder uns töten kann, wenn sie uns wieder los werden will. Das wird dann Abtreibung genannt. Dem sind wir als Fötus wehr- und machtlos ausgeliefert.

Mutterleib heißt im Arabischen, „Rachim“. Das bedeutet auch „Erbarmen“, oder „Barmherzigkeit“. Dieses „Erbarmen“ erleben zu dürfen, ist nicht selbstverständlich. Es ist eine Gnade, ein Geschenk, einen Mutterleib zu erleben, in dem wir wachsen und am Ende unseres Wachstums das Licht der Welt erblicken dürfen.

Am Beginn unseres extrauterinen Lebens sind wir dann immer noch radikal abhängig von einer „Kraft“ oder „Macht“, die uns am Leben erhält, die uns füttert, sich unserer auch mental annimmt, die für unsere Sauberkeit sorgt. Und – falls wir Glück haben -: Die uns lieb hat.

Und wir, die wir hier zusammen sind:

Wir haben bei allem Leid etwas „Gutes“ und „Fürsorgliches“ im weitesten Sinne gebraucht und es auch bekommen – sonst gäbe es uns nämlich gar nicht!

Und wir haben alle Verlassen-Werden, Alleine-Sein erlebt. Auch die Brust, die mich nährt, die mich liebt: Sie verschwindet wieder. Die Hand, die mich zärtlich streichelt, ist irgendwann wieder weg. Je jünger ich bin, je weniger ich größere Zusammenhänge erkennen kann, desto ausgelieferter erlebe ich mich in diesem Verlassen-Werden. Ich werde immer ängstlicher, immer misstrauischer – bis ich überzeugt davon bin: Ich bin umzingelt von bösen Mächten die nur eines im Sinn haben: Mich zu zerstören. (Das ist der Stoff, aus dem unsere Albträume und die guten Thriller sind.)

Es gibt keine Erinnerung mehr an das Gute, das ich erlebt habe. Da, wo das Gute gewesen ist, ist jetzt das Böse. Im Märchen heißt das: Die „gute Mutter“ ist gestorben, an ihre Stelle ist die böse Stiefmutter getreten, die mich demütigt, die mich quält. Das Gute scheint nur gut zu sein, in Wirklichkeit aber ist es böse geworden. Wie konnte ich mich nur so täuschen: Die Frau, von der ich die leckeren Schokoladen-Lebkuchen bekam, ist in Wirklichkeit eine böse Hexe. Sie füttert mich nur, weil sie mich verzehren will… (Sie kennen Hänsel und Gretel.)

Freut sich Gott – das schlechthin Gute – in Wirklichkeit an meiner Ohnmacht, an meiner Hilflosigkeit, an meinem Ausgeliefert-Sein?

Ich dachte, ich wäre sein Ein-und-Alles. Von ihm eigenhändig erschaffen. Ich dachte, er verlässt mich nie. Ich dachte, ich habe die Macht, ihn bei mir zu halten. Ich dachte, ich habe alle Macht.

Und jetzt muss ich feststellen: Ich habe überhaupt keine Macht; hilflos ausgeliefert bin ich meinen Feinden, die sich an meiner Qual erfreuen und mich elendiglich verrecken lassen.

Anstatt von guten Kräften umgeben zu sein, bin ich von Hexen und Dämonen umgeben, die auf meinen Untergang aus sind.

Wo bist du, Gott?

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Liebe Gemeinde,

ich habe versucht, Ihnen einen Einblick in das mentale Erleben des Karfreitags zu geben. Die Quellen dieses Erlebens führen zurück in unsere Baby-Zeit.

Lange Zeit dachte man, Babys spüren nichts. Sie haben noch keine Empfindungen. So wurden sie noch in den Fünfzigern des letzten Jahrhunderts ohne Narkose operiert.

Es war Melanie Klein, die das Seelenleben des Kleinkindes erforscht hat. Sie hatte durch einfühlende Beobachtung erforscht, wie Seele, wie seelisches Leben entsteht.

Sie wurde und wird bekämpft. Es gibt einen großen Widerstand dagegen, sich in dieses ganz frühe Leben und Erleben von uns Menschenkindern einzufühlen. Es ist im übrigen derselbe Widerstand, der sich aufbaut, sich in das Leben und Erleben von Tieren und Pflanzen einzufühlen. Dass sie beseeltes Leben sind – so wie Sie und ich!

„Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“, hat Albert Schweitzer einmal gesagt. Entscheidend ist der Gedanke, ich bin inmitten von Leben. Von Leben, das genauso leben will, wie ich. Dessen Würde genauso unantastbar ist, wie meine eigene.

In dieser Haltung will ich versuchen, den heutigen Karfreitag zu erleben.

Diese Haltung führt heraus aus den verzweifelten Gefühlen meiner Einsamkeit, meiner Gottverlassenheit.

In dieser Haltung verwandelt sich mein Karfreitag in einen Kraftfreitag. (Dieses Wort verdanke ich der Autokorrektur meines Textprogrammes.)

Diese Haltung aber kann ich mir nicht selber erarbeiten. Ich kann sie mir nur schenken lassen. Es ist die Haltung, die die eigene Begrenztheit und Vergänglichkeit anerkannt hat. Die Menschen, die schreien, „Kreuzige ihn!“ – das sind dieselben, die schreien: „Hosianna dem König Davids!“

Karfreitag ist das Kippen der Allmachts-Illusion in die Ohnmachts-Illusion. Es ist der Zusammenbruch der manischen Gefühle und das Überflutet-Werden von depressiven Gefühlen.

Aber und: Es gibt ein „Dazwischen“. In den Ritzen zwischen den Felsen von Allmacht und Ohnmacht lebt jene Liebe auf, die längst erstorben schien:

„Liebe wächst wie Weizen, und ihr Halm ist grün.“ AMEN

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Predigt über Matthäus 27,33-50 an Karfreitag 2013

Predigt am Karfreitag 2013 in der Petruskirche in Solln über Matthäus 27, 33-50

Liebe Gemeinde,

ich spüre Widerwillen.

Widerwillen gegen diese grausame Kreuzigungsgeschichte.
Es ist derselbe Widerwille, mit dem ich in der Zeitung über Grausamkeiten und Gewalt lese. Sei es im Kleinen, im Familiären, sei es im Großen, in einzelnen Staaten, in der Welt.

Was ist das mit der Gewalt?
Woher stammen diese Grausamkeiten?

Es ist anzuerkennen: die Fähigkeit, grausam zu sein ist eine Menschliche. Ein Lebewesen zu quälen, es an ein Kreuz zu nageln, wo es elendiglich verendet, ist eine menschliche Fähigkeit. Tiere töten um zu überleben. Im Tierreich gibt es nicht den Gedanken einer „Strafe“.

Vorsätzliche, bewusste Grausamkeit ist ein höchst intensives Beziehungsgeschehen. Sie hat damit zu tun, jemanden etwas „spüren“ zu lassen.
„Wer nicht hören will muss fühlen“ – steht schon im Struwwelpeter.
„Wen der Herr liebt, den züchtigt er“ – steht schon im Alten Testament.

Die Grausamkeit ist also ein von uns Menschen erfundenes Mittel, mit dem Anderen in eine bestimmte Art der Beziehung zu treten. In eine Beziehung, in der ich dem Anderen zeige: „So nicht!“ „Du musst dich ändern!“ Oder: „Du hast dein Leben verwirkt! Und jetzt lasse ich dich meinen Hass spüren.“

Wir müssen anerkennen, dass der Mann, dessen Gedanken uns so tief berühren, dessen Gebete wir nachsprechen, den wir als unseren Messias bekennen,-  wir müssen anerkennen, dass unser „Herr und Meister“ von und vor dieser Welt als Verbrecher verhaftet und mit dem Tode bestraft worden ist.

Sein angebliches Verbrechen war: sich als Gottes Sohn auszugeben. Wobei – hätte er es beim Predigen belassen, wäre ihm wohl eher nichts passiert. Aber als er nicht mehr nur predigte, sondern begann zu handeln, als er die Geschäftsleute aus dem Tempel hinaus warf: da wurde er zu einer echten Bedrohung. Es ist nicht gut, sich mit den herrschenden Wirtschaftsmächten anzulegen. Das gilt heute genauso wie damals:

Man macht sich nicht beliebt, wenn man gegen die Massentierhaltung predigt. Oder gegen die Ölbohrungen in der Arktis.
Oder gegen die Unterdrückung von Freiheit und Demokratie im Dienste wirtschaftlicher Interessen.
Oder gegen Tierversuche in der Kosmetikindustrie.

Man macht sich nicht beliebt, wenn man den Finger auf die Wunde legt, von deren Nicht-Heilung einige Wenige auf Kosten einer großen Mehrheit profitieren. Und noch weniger beliebt macht man sich, wenn man nicht nur predigt, sondern handelt. Stellen Sie sich vor, unsere Führer, Bischöfe und Kardinäle würden geschlossen dazu aufrufen, Unternehmen, die ihre Angestellten nachweislich abhören, ausbeuten und unterdrücken, zu boykottieren. Oder Firmen, die nachweislich unsere Umwelt gefährden. Oder  sie würden dazu auffordern, nur noch den Umweltbanken Geld zur Verfügung zu stellen. Und alle Christen würden sich geschlossen daran halten.

So weit – so gut. Dies alles ist wichtig. Und richtig. Und es bleibt im Außen. Ich möchte diesen Faden hier nicht weiter verfolgen. Ich wäre nur dankbar, wenn sich die christlich-religiösen Führungspersönlichkeiten bewusst machten, dass unser „Jesus“ nicht vom einfachen Volk, nicht von den Armen gekreuzigt wurde, sondern vom religiösen Establishment seiner Zeit in Zusammenarbeit mit der weltlichen Führungsmacht, den Römern. Und ein wesentlicher Grund für seine Hinrichtung war sicherlich, dass er sich mit den „Händlern“, also den wirtschaftlich Mächtigen anlegte.

Aber jetzt zu Wichtigerem: dem „inneren“ Erleben, der „inneren“ Bedeutung des Karfreitags. Dies erscheint mir deshalb als wichtiger, weil echte Veränderung im Inneren beginnt, von innen nach außen wirkt. Veränderung nur im außen zu suchen verdeckt eigene Starrheit: anstatt sich selbst in Frage zu stellen, sollen die Verhältnisse, das System, jedenfalls etwas, was „draußen“ ist, sich ändern.

Wenden wir also unseren Blick nach innen. Wovon könnte das „innere“ Erleben des Karfreitags handeln?

Gerade haben wir gesungen: „Herr, lehre mich, dein Leiden zu bedenken, mich in das Meer der Liebe zu versenken, die dich bewog, von aller Schuld des Bösen uns zu erlösen.“

Das innere Erleben des Karfreitags handelt von der Hingabe: von dem unverdrossenen, gehorsamen Sich-Fallen-Lassen in die liebevoll-tragenden Hände Gottes.

Gottes Liebe ist für mich die Matrix, die „innere Mutter“ des Karfreitags-Geschehens. Man könnte auch sagen: Karfreitag erzählt von der Unzerstörbarkeit der Liebe – sogar und auch im Angesicht äußerster Gottverlassenheit.
In unserem heutigen Predigttext, der die Kreuzigung aus der Perspektive des Matthäus schildert, sind denn auch die letzten Worte Jesu kein beruhigendes: „Es ist vollbracht“, sondern ein schreiendes „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Psalm 22,1)

Der Karfreitag als inneres Geschehen ist das Geschehen des Verlassen-Werdens. Er ist der radikale Rückzug Gottes aus der Welt. Er ist die Abwesenheit Gottes von der Welt. Er ist die Zerstörung der menschlichen Natur Gottes.

Und genau dies ist die Katastrophe!

Der Weg zur Katastrophe ist vorgezeichnet. Es ist ein Kreuzweg. An dem sich die Geister scheiden. Am Ende bleibt Jesus allein übrig. Bei Matthäus – anders als bei Johannes – stirbt er ganz alleine. Ich werde jetzt den Text in Abschnitten Ihnen vortragen – und mich fragen, wo ich stehen könnte

„Und als sie an die Stätte kamen mit Namen Golgatha, das heißt Schädelstätte, gaben sie ihm Wein zu trinken mit Galle vermischt; und als er’s schmeckte, wollte er nicht trinken.“

„Galle“ wurde beigemengt, damit „es schneller geht“. Eine Art Betäubungsmittel. Wer betäubt ist, muss die Schmerzen nicht so spüren. Also ein kleiner Akt von Humanität? Vielleicht. Vielleicht wollte man sich aber auch das Geschrei der unbetäubt am Kreuz zugrunde Gehenden ersparen.

Galle steht aber auch für die Bitterkeit und Verbitterung.
Ich frage mich: wo betäube ich mich? Welche Schmerzen will ich nicht aushalten? Und:  bin ich auch verbittert? Mische ich auch in den mir vom Leben eingeschenkten Wein die Galle meines Misstrauens, ja meines Hasses?
Jesus lehnt übrigens dieses Getränk ab. Hat er wirklich die Kraft, nüchtern und ohne verbittert zu sein diesen letzten Weg zu gehen? Es gibt nur eine Kraft, die dies ermöglicht: die Kraft der bedingungslosen Hingabe an die Gegenwart dessen, was ist. Habe ich Zugang zu dieser Kraft, um mein eigenes Kreuz zu tragen? Habe ich Zugang zu meiner Fähigkeit zu lieben.
„Es ist, was es ist – sagt die Liebe.“

„Als sie ihn aber gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider und warfen das Los darum.“

Jesus hängt nackt am Kreuz. Bloß gestellt und entblößt. Seine Kleider werden verlost. Sie sitzen unter dem Kreuz und geben sich dem Glücksspiel hin. Gedankenlos – nichts ahnend.
Ich frage mich: wage ich es, mich nackt anzuschauen. Wer bin ich, wenn ich meine Titel, meinen Status, mein Geld, mein Auto, mein Haus weglasse. Wer bin ich  – in meinem nackten Sein – vor Gott? Oder ziehe ich es vor, mir lieber nicht selbst zu begegnen? Sind wir nicht alle Meister darin geworden, uns abzulenken? Deutschland sucht den Superstar – wer wird Germanys next Topmodell, schafft es Bayern ins Europapokalfinale, wie entwickelt sich der DAX, wohin fahren wir in den nächsten Urlaub.

„Und sie saßen da und bewachten ihn. Und oben über sein Haupt setzten sie eine Aufschrift mit der Ursache seines Todes: Dies ist Jesus, der Juden König.“

Ob die Bewachung nötig war? Na ja, sicher ist sicher. Immerhin: hier hängt der Juden König. Angeblich. Aber es gibt kein großes Interesse an diesem König. Keinen Aufstand, um ihn zu befreien, um ihn vom Kreuz zu holen. Stattdessen prasselt noch einmal Spott und Hohn über diesen einsamen gekreuzigten König mit seiner merkwürdigen Krone aus Dornen.

„Und da wurden zwei Räuber mit ihm gekreuzigt, einer zur Rechten und einer zur Linken. Die aber vorübergingen lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe und sprachen: Der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz.! Desgleichen spotteten auch die Hohenpriester mit den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen: Anderen hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Ist er Der König von Israel, so steige er nun vom Kreuz herab. Dann wollen wir ihm glauben. Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm hat; denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn. Desgleichen schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren.“

Jesus antwortet nicht mehr. Alles, was zu sagen war, hat er gesagt.
Schweigen.

Ich frage mich: wie schaut es mit meinem Hang zum Lästern aus? Ist es nicht reizvoll über andere zu lästern. Und ist es nicht am reizvollsten, das hinter dem Rücken der Anderen zu machen? Da bringt man so schön die eigene Gehässigkeit unter. Ganz harmlos. Was gibt es Schöneres, als gemeinsam sich lustig zu machen. Über die unfähigen Politiker, über die scheinheiligen Pfarrer, über die faulen Arbeitslosen, über die gemeinen Lehrer, über die blöden Schüler, über die unmöglichen Autofahrer? Ist es nicht reizvoll zu denken: „Recht geschieht es ihm, hast den Mund eben zu voll genommen!“
Schadenfreude ist die schönste Freude!

„Und  von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, eli, lama asabtani? das heißt: mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Einige aber, die da standen, als sie das hörten, sprachen sie: Der ruft nach Elia. Und sogleich lief einer von ihnen, nahm einen Schwamm und füllte ihn mit Essig und steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm trinken. Die andern aber sprachen: Halt, lass sehen, ob Elia komme und ihm helfe! Aber Jesus schrie abermals laut und verschied.“

Eine letzte Verspottung: „Lass sehen, ob Elia komme, ihm zu helfen…“
Das war’s.
Ein letzter Schrei.
Jesus ist tot.

Und jetzt?

Ich frage mich nicht mehr.
Es ist stumm geworden in mir.
Aus und vorbei.

Gibt es ein Darüber hinaus?
Bei Matthäus kommt schnell der Satz: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!“

Mir geht das zu schnell. In mir bleibt es nachdenklich.
Wirkliche Veränderung ist etwas anderes als das Kippbild zwischen zu Tode betrübt und himmelhoch jauchzend.
Wirkliche Veränderung braucht Zeit.
Sie wächst. Im Dunklen.
Gleicht einem Samenkorn.

„Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein …“

Wirkliche Veränderung fühlt sich immer auch nach Sterben an. Sterben für das Leben. Für ein neues Leben, das sich losgelassen hat. Das sich gelöst hat von dem Kreisen um sich selbst. Das sich nicht mehr selbst erschaffen muss. Das in seinem Loslassen Gelassenheit erlernte.

Aus der Gott-Verlassenheit keimt die Gott-Gelassenheit. Nicht mehr von Gott verlassen, sondern: in Gott gelassen. Nichts kann mich mehr vertreiben aus der Barmherzigkeit Gottes.

Gelassen in Gott leben und sterben und leben und sterben … dazu verhelfe uns das Gedenken an das Leiden seines Sohnes, AMEN

Predigt über Matthäus 27,33-50 an Karfreitag 2013 Read More »

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