Predigt über Matthäus 27,33-50 an Karfreitag 2013

Predigt am Karfreitag 2013 in der Petruskirche in Solln über Matthäus 27, 33-50

Liebe Gemeinde,

ich spüre Widerwillen.

Widerwillen gegen diese grausame Kreuzigungsgeschichte.
Es ist derselbe Widerwille, mit dem ich in der Zeitung über Grausamkeiten und Gewalt lese. Sei es im Kleinen, im Familiären, sei es im Großen, in einzelnen Staaten, in der Welt.

Was ist das mit der Gewalt?
Woher stammen diese Grausamkeiten?

Es ist anzuerkennen: die Fähigkeit, grausam zu sein ist eine Menschliche. Ein Lebewesen zu quälen, es an ein Kreuz zu nageln, wo es elendiglich verendet, ist eine menschliche Fähigkeit. Tiere töten um zu überleben. Im Tierreich gibt es nicht den Gedanken einer „Strafe“.

Vorsätzliche, bewusste Grausamkeit ist ein höchst intensives Beziehungsgeschehen. Sie hat damit zu tun, jemanden etwas „spüren“ zu lassen.
„Wer nicht hören will muss fühlen“ – steht schon im Struwwelpeter.
„Wen der Herr liebt, den züchtigt er“ – steht schon im Alten Testament.

Die Grausamkeit ist also ein von uns Menschen erfundenes Mittel, mit dem Anderen in eine bestimmte Art der Beziehung zu treten. In eine Beziehung, in der ich dem Anderen zeige: „So nicht!“ „Du musst dich ändern!“ Oder: „Du hast dein Leben verwirkt! Und jetzt lasse ich dich meinen Hass spüren.“

Wir müssen anerkennen, dass der Mann, dessen Gedanken uns so tief berühren, dessen Gebete wir nachsprechen, den wir als unseren Messias bekennen,-  wir müssen anerkennen, dass unser „Herr und Meister“ von und vor dieser Welt als Verbrecher verhaftet und mit dem Tode bestraft worden ist.

Sein angebliches Verbrechen war: sich als Gottes Sohn auszugeben. Wobei – hätte er es beim Predigen belassen, wäre ihm wohl eher nichts passiert. Aber als er nicht mehr nur predigte, sondern begann zu handeln, als er die Geschäftsleute aus dem Tempel hinaus warf: da wurde er zu einer echten Bedrohung. Es ist nicht gut, sich mit den herrschenden Wirtschaftsmächten anzulegen. Das gilt heute genauso wie damals:

Man macht sich nicht beliebt, wenn man gegen die Massentierhaltung predigt. Oder gegen die Ölbohrungen in der Arktis.
Oder gegen die Unterdrückung von Freiheit und Demokratie im Dienste wirtschaftlicher Interessen.
Oder gegen Tierversuche in der Kosmetikindustrie.

Man macht sich nicht beliebt, wenn man den Finger auf die Wunde legt, von deren Nicht-Heilung einige Wenige auf Kosten einer großen Mehrheit profitieren. Und noch weniger beliebt macht man sich, wenn man nicht nur predigt, sondern handelt. Stellen Sie sich vor, unsere Führer, Bischöfe und Kardinäle würden geschlossen dazu aufrufen, Unternehmen, die ihre Angestellten nachweislich abhören, ausbeuten und unterdrücken, zu boykottieren. Oder Firmen, die nachweislich unsere Umwelt gefährden. Oder  sie würden dazu auffordern, nur noch den Umweltbanken Geld zur Verfügung zu stellen. Und alle Christen würden sich geschlossen daran halten.

So weit – so gut. Dies alles ist wichtig. Und richtig. Und es bleibt im Außen. Ich möchte diesen Faden hier nicht weiter verfolgen. Ich wäre nur dankbar, wenn sich die christlich-religiösen Führungspersönlichkeiten bewusst machten, dass unser „Jesus“ nicht vom einfachen Volk, nicht von den Armen gekreuzigt wurde, sondern vom religiösen Establishment seiner Zeit in Zusammenarbeit mit der weltlichen Führungsmacht, den Römern. Und ein wesentlicher Grund für seine Hinrichtung war sicherlich, dass er sich mit den „Händlern“, also den wirtschaftlich Mächtigen anlegte.

Aber jetzt zu Wichtigerem: dem „inneren“ Erleben, der „inneren“ Bedeutung des Karfreitags. Dies erscheint mir deshalb als wichtiger, weil echte Veränderung im Inneren beginnt, von innen nach außen wirkt. Veränderung nur im außen zu suchen verdeckt eigene Starrheit: anstatt sich selbst in Frage zu stellen, sollen die Verhältnisse, das System, jedenfalls etwas, was „draußen“ ist, sich ändern.

Wenden wir also unseren Blick nach innen. Wovon könnte das „innere“ Erleben des Karfreitags handeln?

Gerade haben wir gesungen: „Herr, lehre mich, dein Leiden zu bedenken, mich in das Meer der Liebe zu versenken, die dich bewog, von aller Schuld des Bösen uns zu erlösen.“

Das innere Erleben des Karfreitags handelt von der Hingabe: von dem unverdrossenen, gehorsamen Sich-Fallen-Lassen in die liebevoll-tragenden Hände Gottes.

Gottes Liebe ist für mich die Matrix, die „innere Mutter“ des Karfreitags-Geschehens. Man könnte auch sagen: Karfreitag erzählt von der Unzerstörbarkeit der Liebe – sogar und auch im Angesicht äußerster Gottverlassenheit.
In unserem heutigen Predigttext, der die Kreuzigung aus der Perspektive des Matthäus schildert, sind denn auch die letzten Worte Jesu kein beruhigendes: „Es ist vollbracht“, sondern ein schreiendes „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Psalm 22,1)

Der Karfreitag als inneres Geschehen ist das Geschehen des Verlassen-Werdens. Er ist der radikale Rückzug Gottes aus der Welt. Er ist die Abwesenheit Gottes von der Welt. Er ist die Zerstörung der menschlichen Natur Gottes.

Und genau dies ist die Katastrophe!

Der Weg zur Katastrophe ist vorgezeichnet. Es ist ein Kreuzweg. An dem sich die Geister scheiden. Am Ende bleibt Jesus allein übrig. Bei Matthäus – anders als bei Johannes – stirbt er ganz alleine. Ich werde jetzt den Text in Abschnitten Ihnen vortragen – und mich fragen, wo ich stehen könnte

„Und als sie an die Stätte kamen mit Namen Golgatha, das heißt Schädelstätte, gaben sie ihm Wein zu trinken mit Galle vermischt; und als er’s schmeckte, wollte er nicht trinken.“

„Galle“ wurde beigemengt, damit „es schneller geht“. Eine Art Betäubungsmittel. Wer betäubt ist, muss die Schmerzen nicht so spüren. Also ein kleiner Akt von Humanität? Vielleicht. Vielleicht wollte man sich aber auch das Geschrei der unbetäubt am Kreuz zugrunde Gehenden ersparen.

Galle steht aber auch für die Bitterkeit und Verbitterung.
Ich frage mich: wo betäube ich mich? Welche Schmerzen will ich nicht aushalten? Und:  bin ich auch verbittert? Mische ich auch in den mir vom Leben eingeschenkten Wein die Galle meines Misstrauens, ja meines Hasses?
Jesus lehnt übrigens dieses Getränk ab. Hat er wirklich die Kraft, nüchtern und ohne verbittert zu sein diesen letzten Weg zu gehen? Es gibt nur eine Kraft, die dies ermöglicht: die Kraft der bedingungslosen Hingabe an die Gegenwart dessen, was ist. Habe ich Zugang zu dieser Kraft, um mein eigenes Kreuz zu tragen? Habe ich Zugang zu meiner Fähigkeit zu lieben.
„Es ist, was es ist – sagt die Liebe.“

„Als sie ihn aber gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider und warfen das Los darum.“

Jesus hängt nackt am Kreuz. Bloß gestellt und entblößt. Seine Kleider werden verlost. Sie sitzen unter dem Kreuz und geben sich dem Glücksspiel hin. Gedankenlos – nichts ahnend.
Ich frage mich: wage ich es, mich nackt anzuschauen. Wer bin ich, wenn ich meine Titel, meinen Status, mein Geld, mein Auto, mein Haus weglasse. Wer bin ich  – in meinem nackten Sein – vor Gott? Oder ziehe ich es vor, mir lieber nicht selbst zu begegnen? Sind wir nicht alle Meister darin geworden, uns abzulenken? Deutschland sucht den Superstar – wer wird Germanys next Topmodell, schafft es Bayern ins Europapokalfinale, wie entwickelt sich der DAX, wohin fahren wir in den nächsten Urlaub.

„Und sie saßen da und bewachten ihn. Und oben über sein Haupt setzten sie eine Aufschrift mit der Ursache seines Todes: Dies ist Jesus, der Juden König.“

Ob die Bewachung nötig war? Na ja, sicher ist sicher. Immerhin: hier hängt der Juden König. Angeblich. Aber es gibt kein großes Interesse an diesem König. Keinen Aufstand, um ihn zu befreien, um ihn vom Kreuz zu holen. Stattdessen prasselt noch einmal Spott und Hohn über diesen einsamen gekreuzigten König mit seiner merkwürdigen Krone aus Dornen.

„Und da wurden zwei Räuber mit ihm gekreuzigt, einer zur Rechten und einer zur Linken. Die aber vorübergingen lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe und sprachen: Der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz.! Desgleichen spotteten auch die Hohenpriester mit den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen: Anderen hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Ist er Der König von Israel, so steige er nun vom Kreuz herab. Dann wollen wir ihm glauben. Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm hat; denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn. Desgleichen schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren.“

Jesus antwortet nicht mehr. Alles, was zu sagen war, hat er gesagt.
Schweigen.

Ich frage mich: wie schaut es mit meinem Hang zum Lästern aus? Ist es nicht reizvoll über andere zu lästern. Und ist es nicht am reizvollsten, das hinter dem Rücken der Anderen zu machen? Da bringt man so schön die eigene Gehässigkeit unter. Ganz harmlos. Was gibt es Schöneres, als gemeinsam sich lustig zu machen. Über die unfähigen Politiker, über die scheinheiligen Pfarrer, über die faulen Arbeitslosen, über die gemeinen Lehrer, über die blöden Schüler, über die unmöglichen Autofahrer? Ist es nicht reizvoll zu denken: „Recht geschieht es ihm, hast den Mund eben zu voll genommen!“
Schadenfreude ist die schönste Freude!

„Und  von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, eli, lama asabtani? das heißt: mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Einige aber, die da standen, als sie das hörten, sprachen sie: Der ruft nach Elia. Und sogleich lief einer von ihnen, nahm einen Schwamm und füllte ihn mit Essig und steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm trinken. Die andern aber sprachen: Halt, lass sehen, ob Elia komme und ihm helfe! Aber Jesus schrie abermals laut und verschied.“

Eine letzte Verspottung: „Lass sehen, ob Elia komme, ihm zu helfen…“
Das war’s.
Ein letzter Schrei.
Jesus ist tot.

Und jetzt?

Ich frage mich nicht mehr.
Es ist stumm geworden in mir.
Aus und vorbei.

Gibt es ein Darüber hinaus?
Bei Matthäus kommt schnell der Satz: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!“

Mir geht das zu schnell. In mir bleibt es nachdenklich.
Wirkliche Veränderung ist etwas anderes als das Kippbild zwischen zu Tode betrübt und himmelhoch jauchzend.
Wirkliche Veränderung braucht Zeit.
Sie wächst. Im Dunklen.
Gleicht einem Samenkorn.

„Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein …“

Wirkliche Veränderung fühlt sich immer auch nach Sterben an. Sterben für das Leben. Für ein neues Leben, das sich losgelassen hat. Das sich gelöst hat von dem Kreisen um sich selbst. Das sich nicht mehr selbst erschaffen muss. Das in seinem Loslassen Gelassenheit erlernte.

Aus der Gott-Verlassenheit keimt die Gott-Gelassenheit. Nicht mehr von Gott verlassen, sondern: in Gott gelassen. Nichts kann mich mehr vertreiben aus der Barmherzigkeit Gottes.

Gelassen in Gott leben und sterben und leben und sterben … dazu verhelfe uns das Gedenken an das Leiden seines Sohnes, AMEN

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