Liebe Gemeinde,
was haben die folgenden Sätze gemeinsam?
„Jetzt hab‘ ich mir soviel Mühe für die Vorbereitung des Gottesdienstes gegeben. Und jetzt sind nur so Wenige gekommen Menschen.“
Oder: „Jetzt bin ich stundenlang in der Küche gestanden, um so was Leckeres zu kochen – und jetzt sagst du, dass du keinen Hunger hast … „
Oder, als Reaktion auf einen Therapieabbruch: „Ich hab mich in Ihnen getäuscht. Ich dachte, Sie wollten ernsthaft an sich (therapeutisch) arbeiten …“
Oder: „Ich habe doch immer so gesund gelebt. Und jetzt bekomme ich die Diagnose Krebs. Das glaube ich nicht!“
Oder – aus unserem Predigttext -: „Sind nicht die zehn rein geworden. Wo sind aber die neun? Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrt, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde?“
Der Inhalt dieser Sätze ist sehr unterschiedlich.
Und doch gibt es eine Verbindung, eine Klammer.
Es geht um ein Gefühl. Umgangssprachlich heißt dieses Gefühl: „Frust“.
Zu deutsch: „Enttäuschung“.
In allen Sätzen spricht jemand, der enttäuscht ist.
Enttäuschung gibt es, weil es Erwartungen gibt. Das Gefühl der Enttäuschung entsteht, wenn eine Erwartung nicht eintrifft. Wenn ich mir eingestehen muss: Ich habe mich in dem, was ich erwartete getäuscht.
Enttäuschung ist ein schmerzhaftes Gefühl, ein Gefühl, das so gar keinen Spaß macht,
Und: Enttäuschungen gehören zum Leben dazu. Sowohl für kleine als auch für große Menschen.
„Ich war mir so sicher, dass ich hier der Prinz/die Prinzessin bin. Und jetzt wird mir ein Geschwister vor die Nase gesetzt. Was soll denn das?“
Und weil Enttäuschungen sehr unangenehme Gefühle mit sich bringen, tun wir Menschen – egal ob klein oder groß – viel dafür, sie nicht spüren zu müssen.
Deshalb ziehen wir Menschen es vor, in Täuschungen oder auch Illusionen zu bleiben.
Wir wollten doch allesamt nicht wahrhaben, dass Putin zu solch einem brutalen Krieg im Stande ist. Dabei hat sein Engagement in Syrien genau das gezeigt. Dabei hat er gestz- und völkerrechtswidrig 2014 die Krim besetzt und annektiert.
Oder: Noch immer gibt es Menschen, gerade auch unter Politikern, die nicht wahrhaben wollen, dass es einen von uns Menschen gemachten Klimawandel gibt, der ein hohes zerstörerisches Potential hat. (Erstmals hat der Club of Rome in einer Studie aus dem Jahr 1975 darauf hingewiesen.)
Auf der anderen Seite ist es wohl so, dass wir Menschen zum Leben, zum Überleben, Illusionen brauchen. Die Bereitschaft, diese Illusionen aufzugeben, erfordert sehr viel Kraft,. Es ist ein Weg in die Nüchternheit, in die Anerkennung der nüchternen Wirklichkeit. Die Populisten aller Zeiten verführen damit, dass es gut ist, sich der Wirklichkeit nicht zu stellen. Dass es gut ist, sich den eigenen Illusionen hinzugeben, die eigene Lust zu leben. Die Realisten werden gerne als „Untergangspropheten“ oder „Moralapostel“ abgewertet und abgelehnt. Sie sind die „Miesmacher“.
„Es gibt keinen menschengemachten Klimawandel – wir nennen es Wetter“ ist z.B. so ein populistischer Satz. Ein Satz, der im Angesicht verheerender Waldbrände und Überschwemmungen etwas Zynisches hat.
Liebe Gemeinde,
ich habe heute über eine Geschichte aus dem Lukasevangelium zu predigen, die davon handelt, dass auch einem Jesus Gefühle der Enttäuschung nicht fremd gewesen sind. Nachdem er 10 Aussätzige geheilt hatte, kehrte nur ein einziger von den geheilten Aussätzigen zurück: „… und pries Gott mit lauter Stimme und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm.“ (Vers 15b)
Und Jesus? Wie reagiert er? Er nimmt ihn zunächst gar nicht zur Kenntnis, sondern ist mit sich und seiner Enttäuschung und Empörung beschäftigt: „Sind nicht die zehn rein geworden? Wo aber sind die neun? Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben als dieser Fremde?“ (Vers 17b-18).
Das Verhalten von diesem Jesus ist – jedenfalls für mich – schwer verdaulich. Genauer: Es passt nicht in mein persönliches (höchst subjektives) Bild, das ich mir von Jesus mache, Sein Verhalten erlebe ich als kalt, abweisend, von oben herab. Es scheint ihm überhaupt kein Bedürfnis zu sein, sich persönlich dem dankbaren geheilten Rückkehrer zuzuwenden. Jesus ist gekränkt, enttäuscht und verärgert. Anstelle sich zu freuen, dass da einer wirklich dankbar ist, wird er auch noch abgewertet: „dieser Fremde“ heißt es. Gut: In Jesus ist Gott Mensch geworden. Aber gleich so ein wenig sympathischer Mensch: Muss das sein?
Doch halt! Jetzt erlebe ich ja gerade selbst, wovon ich vorhin gesprochen habe: Über diesen Jesus bin ich enttäuscht! Gut – Gott ist Mensch geworden – aber für mich heißt Mensch-sein, gelernt zu haben, mit den eigenen Gefühlen von Enttäuschung umgehen zu können, sie bei sich halten zu können – und schon gar nicht, sie an Anderen auszulassen! Dies erwarte ich von mir, von Eltern, von Lehrern, von Vorgesetzten, von Pfarrern auch von Jesus. Wäre der „Fremde“ selbstbewusst gewesen, hätte er sagen müssen: „Ich wollte mich nur bei dir bedanken. Aber dir scheinen die Anderen wichtiger zu sein als mein Dank!“
Und schon wieder ruft eine Stimme in mir: Halt!
Wie oft hast du denn schon deine Enttäuschung an anderen Menschen ausgelassen?
Du solltest nicht etwas predigen, was du selber nicht kannst!
Und noch eins:
Die „Aussätzigen“ unserer Geschichte sind jene Menschen, mit denen niemand etwas zu tun haben will. Sie haben Lepra, und das ist hoch ansteckend. Also wurden sie aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Die Aussätzigen wurden „ausgesetzt“ – um die Gemeinschaft zu schützen.
Daraus erwuchs ihr Selbst-Verständnis: Wir sind die Ausgeschlossenen!
Von daher ist es doch sehr verständlich, wenn die große Mehrheit dieser Aussätzig-Ausgeschlossenen sich nicht für das Heil-Werden bedankt. Jesus, der Heiler, hat ihnen das genommen, wovon sie gelebt haben: Ihre Identität. Ihr Selbstverständnis. Und dafür soll man sich auch noch bedanken?
Wer den Mut hat, sich auf einen echten Veränderungsprozess einzulassen, der erlebt übrigens notwendiger Weise Gefühle von Verwirrung. Veränderung heißt „anders“ werden. Dazu gehört, dass man sich nicht mehr auskennt. Wirkliche Veränderung führt notwendig zum Verlassen des Vertrauten, zum Verlassen der „Komfort-Zone“. Echte Veränderung führt in Neuland. Und Neuland heißt: Ich kenne mich nicht aus. Habe keine vertrauten Ankerpunkte! Das ist übrigens meines Erachtens der entscheidende Grund, dass Psychoanalyse keine beliebte Therapieform ist. Wir Menschen mögen keine in die Tiefe gehende Veränderung. Sie verunsichert. Und Verunsicherung ängstigt! Am vertrauten Unglück festzuhalten hat einen riesigen Vorteil: Ich kenne mich aus.
Liebe Gemeinde,
jetzt ist passiert, was mir öfters passiert. Ich kenne mich nicht mehr aus!
Ich hatte mir vorgenommen, über Dankbarkeit bzw. Undankbarkeit zu predigen. Und bin bei der Frage nach Veränderung/Heilung herausgekommen. Das ist auch so ein Veränderungs-Geschehen im Entwerfen einer Predigt: Irgendetwas macht sich da selbstständig. Dieses „Irgendetwas“ ist der Fluss meiner Gedanken. Die suchen sich ihr ganz eigenes Flussbett – und mein Ich steht irgendwie blöd daneben. Wieder einmal ist es anders gekommen, als ich dachte: Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt …
Eigentlich wollte ich ja diese Predigt mit dem schönen Satz beginnen: „Ich danke, also bin ich!“ Es ist eine Abwandlung des berühmten Descartschen „cogito, ergo sum“ (Ich denke, also bin ich.) Nur ein einziger Buchstabe ist anders – und schon ergibt sich ein neuer Sinn. Aber: Ist das wirklich ein neuer Sinn – oder ein neuer Nicht-Sinn, ein Un-Sinn (Nonsense)? Das würde ja bedeuten, die Grundlage meines Lebens, meiner Existenz wäre der Dank. Dazu würde der Satz von Meister Eckhart passen: „Hätte der Mensch nicht mehr mit Gott zu schaffen, als dass er dankbar ist, es wäre genug.“ (Predigt 34, Deutsche Werke S. 374, 6)
Und bei Paulus – auf den sich Meister Eckhart bezieht – heißt es: „… eure Gedanken mögen in Danksagung oder Flehen bei Gott erkannt werden“ (Phil. 4, 6b)
Und wie gelange ich in solch eine Haltung der Dankbarkeit?
Dankbar sein ist etwas sehr anderes als danke zu sagen.
Danke sagen geht leicht und schnell.
Aber dankbar sein? Was ist das?
„Ich danke dir Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner…“ (Lukas 18,11) Das ist das Dankgebet eines Selbstgerechten. Das Gebet des Zöllners lautet: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ (ebd. 13c).
„Gott sei mir Sünder gnädig!“ Hier fehlt das Wort „danke“. Und doch führt der Weg in die Dankbarkeit über das Erleben des eigenen Unvermögens, des eigenen Nicht-Könnens. Der Weg aus den Illusionen, wie toll ich doch bin, und dass ich in allem recht habe, führt über das Sich-Eingestehen: Da habe ich mich getäuscht. So grandios, wie ich meinte, bin ich nicht. Erst wenn ich mir dies eingestehen kann, wenn ich mir mein „Sünder-Sein“ eingestehen kann, kann ich um Gnade beten. Und erst dann kann ich Barmherzigkeit erleben. Die Selbstgerechten, die Allwissenden, die Pharisäer brauchen keinen barmherzigen Gott. Und die in ihrem Sünder-sein stecken Gebliebenen, die um ihr „Fehler“ und Selbstvorwürfe Kreisenden . , die bekommen keinen barmherzigen Gott, weil sie meinen, dies stehe ihnen nicht zu.
Beide sind immun gegen das Erleben von Gnade geworden.
Wer meint, er kann aus sich heraus leben, und wenn es gerade nicht weiter geht, dann muss man sich halt neu erfinden – der braucht keine Barmherzigkeit, der braucht keinen Gott. Wer meint, seine Existenz ist es, vor Gott und auch sonst zu wenig zu sein – der muss Barmherzigkeit ablehnen. Der eine kann sich nichts schenken lassen, weil er alles schon selber hat, der andere kann sich nichts schenken lassen, weil er der Überzeugung ist, dies stehe ihm nicht zu. Beiden gemeinsam aber ist: Es ist gibt keine Bewegung hin zu einem neuen Leben in Gott. Und zwar ganz einfach deshalb: Weil die Bereitschaft fehlt, sich etwas schenken zu lassen.
Im Paradies ist es Satan, der damit verführt zu sagen: Wozu braucht Ihr Gott? Ihr seid doch selber Gott gleich. Lass Euch doch von diesem Gott nicht irgendwelche sinnlosen Verbote aufdrücken. Lebt, was Euch Spaß macht, esst, worauf Ihr Lust habt! Genau: Wir lassen uns doch unsere Lust am Essen nicht verbieten. Reist, wohin Ihr wollt und womit Ihr wollt! Genau: Wir lassen uns doch unsere Lust am Reisen nicht verbieten! Heizt, womit Ihr wollt. Genau: Was soll dieser Schwachsinn mit Wärmepumpen, Windrädern und Solarmodulen!
So gesehen ist Satan der erste Populist.
Er hat nicht die Kraft, „sein Joch“ auf sich zu nehmen, sich der Realität, der Wirklichkeit unseres menschlichen Lebens zu stellen. Er lebt in seinen Illusionen. Und es gibt für ihn keine Möglichkeit, diese zu modifizieren. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als für seine Art zu leben, zu werben und zu verführen. Die Populisten verführen mit einfachen Pseudo-Lösungen. Dies betrifft auch die Geschichte der christlichen Religion. Hier lautet die populistische Verführung: Wenn du brav bist und gottgefällig lebst, darfst du ewig im Paradies leben.
Anders unsere Vorfahren, Eva und Adam. Sie haben sich zunächst (auch) von Satan verführen lassen. Aber dann – und das ist entscheidend – machen Sie sich auf ihren ganz eigenen Weg. Dazu müssen sie das Paradies verlassen. Und indem sie dies tun, bejahen sie ihr Leben, bejahen das, was auf uns Menschen zukommt, wenn wir es wagen, erwachsen zu werden: Arbeiten, Kinder kriegen, alt werden und am Ende wieder verschwinden.
Übrigens: Dass das Verlassen des Paradieses nichts mit einem „bösen“ strafenden Gott zu tun hat, kann man an einem wunderschönen Detail erkennen, das gerne weggelassen wird:
„Und Gott der Herr machte Adam und seiner Frau Röcke von Fellen und zog sie ihnen an,“ (Genesis 3, 21). Gott macht das, was gute Eltern tun: Sie statten ihre Kinder damit aus, im Leben zurecht zu kommen. Dazu brauchen die Eltern die Kraft und die Fähigkeit, ihre Kinder ihren eigenen Weg gehen zu lassen.
Sie sein zu lassen.
Und wenn es heißt: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen“ (ebd. V. 19b.) – dann ist keine Drohung und auch keine Strafe in dem Sinne: Das habt Ihr jetzt davon, weil Ihr so böse gewesen seid und Euch nicht an mein Gebot gehalten habt.
Es ist vielmehr die Beschreibung dessen, was es heißt, als Erwachsener zu leben.
Ja, so ist das: Arbeit ist anstrengend. Wer meint, das Leben ist ein Ponyhof – auf dem man übrigens auch ins Schwitzen kommen kann – wer meint, Leben heißt, möglichst viel Lust zu erleben und Unlust zu vermeiden, der wird immer enger, immer starrer, immer abhängiger davon, dass er diese Lust erleben kann. Bis er am Ende süchtig geworden ist: süchtig nach Lust. Die Kehrseite davon ist der mörderische Hass auf alles, was seinem Lusterleben im Wege steht. Für die totalitären Herrscher ist das die Demokratie. Sie ist es deshalb, weil sie ein relatives System ist, das auf Diskurs und Meinungsverschiedenheit aufgebaut ist. Dies auszuhalten macht Un-Lust; und es verunsichert. Die Botschaft des Satans, die Botschaft der Populisten aber lautet: Wenn Ihr mir nachfolgt, braucht ihr keine Unlust erleben.
„Ich führe Euch herrlichen Zeiten entgegen“, hatte Kaiser Wilhelm II. zu Beginn des 1. Weltkriegs gesagt.
Jesus hat gesagt: „Wer mir folgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich täglich und folge mir nach.“ (Lukas 9, 23)
Und weiter: „Denn wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren; wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s erhalten.“ (ebd. V. 24) AMEN.