Predigt über 1. Petrus 5, 1-4 am Hirtensonntag 2023 (misericordias domini)

Liebe Gemeinde,

die Barmherzigkeit Gottes steht im Mittelpunkt dieses Sonntags. Ich will ewig singen von der Barmherzigkeit Gottes heißt es in Psalm 89, 1.

Nun – ich will predigen von der Barmherzigkeit Gottes. „Rachamim“ heißt Barmherzigkeit im Hebräischen. Es ist abgeleitet von „Rächäm“ – „Mutterleib. Das Verb dazu heißt „racham“ – sich erbarmen. Es geht um die „weichen Gefühle“, um die Fähigkeit, sich „einzufühlen“ (Empathie) – sich auch dann noch in den Anderen einzufühlen, wenn ich Recht habe. Es geht um die Kraft des Perspektivenwechsels: Immer wieder zu versuchen, die Welt aus der Perspektive des Anderen zu sehen. Die Früchte eines Lebens in und aus Barmherzigkeit sind Gelassenheit, innere und äußere Ruhe und Kreativität.

In unserem Alltag tritt leicht an die Stelle der Einfühlung der Vorwurf. Gerade im Umgang mit Schwächeren, mit Kindern oder Älteren wird gerne der erhobene Zeigefinger ausgepackt. Und so geht auch unserer heutiger Predigttext mit einem erhobenen Zeigefinger an: „Ich ermahne“ euch, heißt es da – griechisch: „parakaleo“. Wörtlich heißt das jedoch „ich rufe herbei…“. Im Johannesevangelium ist der „Heilige Geist“ der Paraklet – er ist der „herbeigerufene Tröster“, der die Jünger über die Abwesenheit ihres Freundes und Meisters hinweg tröstet. Es geht also nicht um eine moralische Ermahnung mit erhobenem Zeigefinger. Es geht vielmehr um Trost, um Stärkung und Ermunterung im Sinne eines „Ihr kriegt das schon hin! Ich glaube an Euch!“

Und was soll man hinkriegen? Ich lese aus dem ersten Petrusbrief 5, 1-4.

„Die Ältesten unter euch ermahne ich, der Mitälteste und Zeuge der Leiden Christi, der ich auch teilhabe an der Herrlichkeit, die offenbart werden soll: Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist, und achtet auf sie, nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt, nicht um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund, nicht als solche, die über die Gemeinden herrschen, sondern als Vorbilder der Herde. So werdet ihr, wenn erscheinen wird der Erzhirte, die unverwelkliche Krone der Herrlichkeit empfangen. Desgleichen ihr Jüngeren, ordnet Euch den Ältesten unter.“

Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Briefes ist das Christentum auf dem Weg, sich aus einer jüdischen Sekte heraus zu verwandeln. Eine eigene Religion zu werden. Es hat sich ausgebreitet, viele christliche Gemeinden sind entstanden. Und wenn Menschen in Gruppen zusammen kommen, bedarf es einer Ordnung. Unser Text ist also auch ein Zeugnis darüber, wie versucht wurde, eine Ordnung in die noch junge Gruppe der Christenmenschen zu bringen.

Petrus bzw. der Verfasser des ersten Petrusbriefes, bezieht seine eigene Autorität als „Mitältester“ daraus, selbst Zeuge der Leiden Christi gewesen zu sein – verbunden mit der „Teilhabe“ an seinem „Glanz“ (doxa), was Luther als Herrlichkeit übersetzt. Aus dieser, seiner Autorität heraus, wird jetzt gesagt, was die Identität und Aufgabe eines Ältesten, eines „Leiters“ einer Gemeinde ist: Seine Identität ist „Hirte zu sein“. Seine Aufgabe ist die „Herde Gottes“ zu „weiden“ im Sinne von „behüten“. Und zwar so, dass die Erfüllung dieser Aufgabe nicht aus einem äußeren Zwang heraus geschieht – sondern „freiwillig“ – auch nicht aus „Gewinnsucht“ sondern von „Herzensgrund“ wie Luther so schön übersetzt. Anders ausgedrückt: Das Leiten einer Gemeinde sollte eine „Herzensangelegenheit“ sein. Und schließlich sollte der „Älteste“ nicht danach streben, über seine Gemeinde zu „herrschen“ – sondern er sollte selbst zum Vorbild für seine ihm anvertrauten „Schafe“, seine Gemeindeglieder werden.

Auch wenn das Bild des Hirten, der seine Schafe weidet, antiquiert ist: Die dahinter stehende Idee ist doch sehr bemerkenswert. Der gute Hirte ist ein „Kümmerer“ – und dieses Sich-Kümmern ist ihm eine Herzensangelegenheit. Abgegrenzt davon wird die „schändliche Gewinnsucht“.

Der „gute Hirte“ übt seine Aufgabe „bereitwillig“ aus – er fragt nicht danach: „Was bringt mir das?“ Diese Frage stellt sich dann nicht, wenn ich mit dem, was ich tue, in leidenschaftlich-liebevoller Verbindung stehe. Wenn es mir eben eine „Herzensangelegenheit“ ist. Eltern, die ihr Kind lieben, werden sich nicht fragen: Was bringt es mir, wenn ich für das Wohlergehen meines Kindes sorge? Menschen, die ihr Haustier, ihren Hund oder ihre Katze lieben, werden die „Was bringt mir das“-Frage ebenso wenig stellen. Und ein guter Hirte, ein guter Leiter einer Gemeinde, denkt bei seinem Tun nicht an den (narzisstischen) Gewinn, sondern an seine Gemeinde, an das Wohl der ihm anvertrauten Menschen. Dies ist für mich um übrigen auch das entscheidende Kriterium für einen guten Politiker.

Die Ausübung dieses Hirtenamtes ist für Petrus kein „herrschen“ im Sinne eines den Anderen zu etwas „Zwingen“ – die Ausübung des Hirtenamtes geschieht, indem der Hirte zum „Vorbild der Herde“ wird. Das griechische Wort, das hier steht, heißt: „typos“. Es gehört eigentlich in den Bereich der Bildhauerei: Ein Stein wird so lange „geschlagen“ (typto) bis er eine bestimmte Form erhalten hat oder bis ihm die gewünschte Form eingeprägt worden ist. So bedeutet typos auch Prägung. Ein Mensch, der eine Gemeinde leiten möchte, sollte also „prägend“ sein: Er soll über eine Ausstrahlung, über ein Charisma verfügen, das die Menschen anspricht, an dem zu orientieren sie Lust haben. Ein guter Hirte prägt sich seiner Gemeinde ein: Indem er vormacht, wie „Führung“, wie „Leitung einer Gemeinde“ geht: nicht als Herrscher sondern als einer, der die Anliegen seiner Gemeinde wahrnimmt, versteht und ernst nimmt. Dabei heißt verstehen durch aus nicht alles billigen, bei allem mitspielen, zu allem „Ja und Amen“ sagen. Ein guter Hirte stellt sich seinen Schafen auch mal in den Weg, wenn er weiß, dass dieser Weg in einen gefährlichen Abgrund führt.

Der Lohn für das Hirte-Sein, so heißt es weiter, ist der „unverwelkliche Siegeskranz der Herrlichkeit.“ Dieses Bild eignet sich natürlich auch für die Befriedigung eigener unerlöster und ungelöster narzisstischer Bedürfnisse. Der unverwelkliche Siegeskranz – das ist ja mindestens eine olympische Goldmedaille. Und damit geht es um Leistung, um Konkurrenz, um siegen und verlieren. So ist es verführerisch, sein Amt als Pfarrer vor allem dafür zu verwenden, sich in der Gemeinde zu „verewigen“ – wofür sich z.B. Prestige trächtige (Bau-) Pprojekte eignen. Je ausgeprägter das Bedürfnis nach „unverwelklich“ ist – desto schwieriger wird es dann, das eigene Altwerden, die eigene Pensionierung und – damit unweigerlich verbunden – den eigenen Nachfolger zu ertragen. Das ist im übrigen für mich die Nagelprobe eines wirklich großen Führers. Ob er über die Kapazität verfügt, einen kompetenten und potenten Nachfolger nicht nur zu „ertragen“, sondern auch mithilft, ihn aufzubauen. Und seine größte Hilfe ist, den eigenen Platz für den Neuen, den Anderen zu räumen.

Dahinter aber steht das Ertragen von Vergänglichkeit. Es gibt in der Wirklichkeit dieser Welt keine unverwelklichen Blumen. Unverwelklich heißt im Griechischen „amarantos“. „Amaranthen“, das sind jene legendären Blumen, die nicht verwelken. Sie gibt es in der Mythologie – aber nicht in der Realität. In der Wirklichkeit gibt es Amaranthen – es sind Fuchsschwanzgewächse – deren Samen man in leckeren Gerichten zubereiten kann. Aber sie sind nicht ewig.

Unsere Wirklichkeit unterliegt dem Gesetz von Werden und Vergehen.

Und hierin sehe ich die eigentliche Lebensaufgabe von uns Menschen: Lernen zu ertragen, dass alles der Vergänglichkeit unterliegt und gerade so sich an der Einmaligkeit und Schönheit des Lebens zu freuen..

Ich verbinde diese Aufgabe mit der Aufforderung, die am Ende unseres Textes steht und bis vor kurzem noch zu unserem Predigttext gehörte: „Alle aber – das heißt Hirten wie ihre Herde – alle umkleidet Euch mit Demut: und zwar im Umgang miteinander.“

Die Demut beginnt damit anzuerkennen: Ich bin nicht allmächtig. Ich kann mir Mühe geben, ich kann mein Amt gewissenhaft ausüben – aber ich bin nicht allmächtig. Ich kann es nicht allen recht machen. Und: Ich bin nicht allwissend. Ich kann mich täuschen. Ich kann auch Fehler machen. Oft ist es im Nachhinein viel leichter, etwas als Fehler zu erkennen als dann, wenn ich in einer Situation drin stecke. Im Nachhinein war es falsch und naiv, sich energiewirtschaftlich derart von Russland abhängig zu machen. Irgend wer hat einmal gesagt: Der Blick auf unser Leben ist wie beim Rudern: Das, was auf einem zukommt, ist im Rücken. Und im Rücken hat man keine Augen. Erst im Nachhinein überblickt man die Biegungen und Windungen des eigenen Lebensflusses.

 

Liebe Gemeinde,

 

vielleicht enttäuscht auch meine Predigt Ihre Erwartungen an mich als Pfarrer und Prediger. Sollte nicht gerade am Ende meiner Predigt betont werden, dass es ein ewiges Leben gibt, dass wir an den glauben, der den Tod endgültig besiegt hat? Dass wir nicht nur in seinen Tod hinein – sondern genauso in seine Auferstehung hinein getauft sind?

Ja – das sind wir. Nur verstehe ich diese Auferstehung nicht konkretistisch, so als ginge das Leben nach einer kurzen Unterbrechung, genannt Tod, ewig weiter. Für mich ist der „unverwelkliche Siegeskranz“ die Hingabe an das eigene Leben. Die Hingabe daran, wie es gerade ist. Die Hingabe daran, was ich gerade zu erleben habe.

„Die Liebe sagt: Es ist, was es ist“ heißt es in einem Gedicht von E. Fried.

Hingabe an das „Es ist“ heißt: Das Dagegen-Sein aufzugeben. Loszulassen. Zu lösen.

Der vermeintliche Vorteil des Dagegen-Seins ist, etwas in der Hand zu haben. Trotzig Kinder ballen ihr Hände zu Fäusten, stampfen mit ihren Füßen auf den Boden. Ich will das nicht, schreien sie. Große trotzige Kinder gründen dann Protest-Parteien, die vom Protest leben. Wir „Protestanten“ könnten uns dazu zählen. Müssen wir aber nicht. Pro-testare heißt zunächst einmal: Etwas bezeugen, für etwas Zeugnis einlegen.

Jesus sagt: „Wer sein Leben, (seine Seele) retten will, der wird es verlieren – wer es verliert wird es erhalten.“ (Lukas 19, 33)

Das eigene Leben zu erhalten, das eigene Leben er-leben zu können und zu dürfen: Das hat für mich ganz viel mit Auferstehung und Osterfreude zu tun.

Gott lädt uns all-täglich ein. „Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde“ heißt es in Psalm 23, dem Hirten-Psalm.

Wir aber sagen: Was soll ich denn mitbringen? Das kann ich doch nicht annehmen!

Bring mir dein Leben mit, antwortet Gott.

Bring dich selbst mit – gerade so, wie du bist.

Du musst mir auch nichts vorspielen.

Ich kenne dich doch.

Ich habe dich schon erkannt, da warst du noch im Leib deiner Mutter.

Aber – sagen wir – : Dann stehe ich ja mit leeren Händen da.

Genau, antwortet Gott. Nur so hast du deine Hände frei, etwas Neues zu empfangen, zu begreifen. Dann bist du wirklich mit Demut bekleidet.

Und dann kann ich das tun, was ich am liebsten tue: Dir meine Gnade, dir meine Barmherzigkeit schenken. AMEN.

Nach oben scrollen