Predigt über Lukas 17, 20-24 – „Das Reich Gottes ist inmitten von Euch!“ (07.11.2022)

Liebe Gemeinde,

„dein Reich komme“ so beten wir jeden Sonntag im Gottesdienst.

Es ist die zweite Bitte des Vaterunsers.

Es sind die Bitten, in denen es um das Leben Gottes selbst geht:

„Geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe …“

Danach kommen die Bitten, bei denen es um unser Leben geht:

„Unser tägliches Brot gibt uns heute“, „führe uns nicht in Versuchung“, „vergib uns unsere Schuld“.

Das vorhin gehörte Evangelium beschäftigt sich mit der Frage: Wann kommt denn dieses Reich?

Das ist zu der Zeit, als Lukas sein Evangelium schrieb, eine nahe liegende Frage. Dachte man doch, dass die Rückkehr des auferstandenen Messias nicht lange auf sich warten lässt. Und jetzt war doch längere Zeit verstrichen, die Menschen lebten weiter wie bisher, starben weiter wie bisher. Keine Zeitenwende, kein Umbruch war in Sicht. So machten sich Unglaube und Ungeduld breit. Die Protagonisten der jungen, der neuen Religion, die sich auf diesen Jesus aus Nazareth bezog, mussten sich also etwas einfallen lassen.

Für mich ist spannend, dass nicht danach gefragt wird, wie dieses Reich aussieht, wie es gestaltet wird oder sich selbst entfaltet. Das fände ich eigentlich interessanter, als die Frage nach dem „Wann“. (Nebenbei: Es wäre spannend zu hören, welche Bilder jeder Einzelne von Ihnen zum Reich Gottes hat.)

Auch Jesu Antwort lässt das „Wann“ des Reiches Gottes offen, wenn er sagt:

„Das Reich Gottes kommt nicht mit äußeren Zeichen; man wird auch nicht sagen: Siehe hier!, oder: Da! Denn sehet, das Reich Gottes ist mitten unter euch.“

Die Frage nach dem Wann richtet sich auf die unbekannte Zukunft. Dazu hat Jesus nichts zu sagen.

„Es ist schon da“, sagt Jesus. „Es ist inmitten von Euch.“ Und er könnte hinzufügen: „Wer Ohren hat zu hören, der höre!“ (vgl. Lukas 8, 8; 14,35).

Und was heißt das jetzt: „inmitten von uns ist das Reich Gottes!“

Wo ist denn das „inmitten“?

Na ja – es ist irgendwo hier; irgendwo und irgendwie „zwischen uns“. So genau kann man das nicht sagen.

Mir fällt der berühmte Satz von Augustinus über die „Zeit“ ein:

„Was ist also ‚Zeit‘?“, so fragt er sich. „Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht.“ (Confessiones IX. Buch, 14,17)

Wenn mich niemand fragt, was da inmitten von uns ist, weiß ich es, wenn ich es erklären soll, weiß ich es nicht!

Das Problem ist: Ich kann es nicht sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen – die mir vertrauten Sinne, die mir helfen, mich in der Welt zu orientieren, versagen an dieser Stelle.

Damit aber betreten wir einen „Bereich“, den der Heilige Johannes vom Kreuz „Die „dunkle Nacht der Sinne“ nennt.

Über das Reich Gottes reden heißt also zunächst einmal: „in der Dunkelheit tappen“. (Ohne mit einer Taschenlampe oder einem Suchscheinwerfer ausgestattet zu sein!)

Dies mach leider überhaupt keinen Spaß – im Gegenteil: Es macht Angst.

„Gott will im Dunkel wohnen“, sagt König Salomo bei der Einweihung des Tempels (1. Könige 8, 12b). Von daher ist es in sich logisch, dass sein Reich, dass das Reich Gottes ein Reich der Dunkelheit ist. Nun aber auch wieder nicht so, dass man gar nichts erkennen könnte. Wäre dem so, müsste man über Gott und sein Reich schweigen: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ (Wittgenstein)

Wir benötigen eine Sprache, die Licht in die Dunkelheit bringt – ohne dass sie die Dunkelheit zerstört. Wir benötigen eine Sprache, die selbst aus der Dunkelheit entsteht. Dies ist die Sprache der Mystik.

Sie ist nicht eingängig und es geht ihr nicht um Befriedigung.

Worum es ihr geht, das ist der Versuch, die Dunkelheit Gottes selbst abzubilden.

Dieses Abbild ist das „Licht“ des Sohnes, das in die Welt kam. (Johannesevangelium Kapitel 1)

Eine Sprache, die versucht, die Dunkelheit Gottes selbst abzubilden: Das ist eine Sprache, deren Eindeutigkeit und Klarheit aus dem Eingeständnis des eigenen Nicht-Wissens stammt. Es ist eine Sprache, die genau nicht darauf aus ist, das eigene (vermeintliche) Wissen zu zementieren und in vielen Wendungen zu wiederholen. Es ist eine Sprache, die sich öffnet für bislang Ungedachtes, Unbekanntes, eben Neues.

Von daher ist für mich alle Rede vom Reich Gottes ein Sprechen in Vorläufigkeit. Vor der Klammer steht stets: „Soweit ich sehe … und ich weiß, mein Blick, ist begrenzt, meine Sichtweise ist eine subjektive…“ Von daher heißt vom Reich Gottes reden sich in Bescheidenheit üben.

Und zugleich ist für mich alle Rede vom Reich Gottes ein Sprechen in Selbstbewusstheit. Vor der Klammer steht: „Dies ist MEIN Blick, MEINE Perspektive, MEINE Sicht der Dinge, MEIN Weg … Und dazu stehe ich auch, bis mich etwas Anderes mehr überzeugt!“ Und ich bin mir dessen sehr bewusst, dass es unendliche viele andere Wege, andere Perspektiven usw. gibt. Indem ich mir meiner Relativität bewusst bin, höre ich auf, meinen Standpunkt absolut zu setzen.

Dazu bedarf es eines starken und mutigen Ichs. Ein starkes und mutiges Ich zeichnet sich dadurch aus, dass es in gutem Einverständnis mit alledem ist, was es nicht weiß und nicht kann. Dass es nicht gekränkt ist, wenn offenbar wird, was es nicht weiß und nicht kann.

Wir leben in einer Zeit, die dem eigenen Gekränkt-Sein sehr viel Raum einräumt. Gekränkt-beleidigtes Sich-zurück-Ziehen aber verunmöglicht weiteres Lernen. Verunmöglicht Entwicklung und weitere Erkenntnis. Es ist derselbe Fehler, den Menschen mit Kreuzschmerzen machen: Sie meinen, sich etwas Gutes zu tun, indem sie in eine Schonhaltung gehen, sich wenig oder gar nicht mehr bewegen.

Das Gegenteil ist der Fall!

Es geht um ein gesundes, durchaus liebevolles sich Fordern. Andernfalls wird man körperlich wie seelisch immer schwächer, hält immer weniger aus. Es geht darum, die eigene Unlust zu akzeptieren ohne ihr allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken.

„Alt-werden ist nichts für Feiglinge!“ sagt die Hollywood-Diva Mae West.

Dasselbe gilt für das Reich Gottes: Es ist nichts für Feiglinge!

„Und wann kommt es jetzt?“

Diese Frage will oder kann sich von den Predigtgedanken nicht erreichen lassen.

Sie verweigert den Weg in die Dunkelheit.

Das Reich Gottes ist als Möglichkeit jederzeit mitten unter uns. Die einzige Frage ist, ob wir je und je stark und mutig genug sind, es auch zu verwirklichen.

Es wird dann Wirklichkeit, wenn wir es wagen, unsere vertrauten und uns Halt gebenden Muster und Strukturen in Frage zu stellen. Wenn wir es wagen, uns selbst ein wenig über die Schulter zu schauen. Wenn wir es wagen, neugierig auf uns selber zu werden. Das geschieht immer dann, wenn ich mich auf etwas einlasse, dem ich bislang ausgewichen bin. Nur so kann ich ja eine neue Erfahrung machen.

Und eine neue Erfahrung muss nicht immer angenehm sein. Auch das ist eine Täuschung, zu meinen, das Reich Gottes sei ein Schlaraffenland, in dem endlich meine Wünsche alle erfüllt werden. Es hat sich schon sehr viel verändert, wenn es gelingt, mir meiner eigenen Wünsche und Sehnsüchte ein wenig bewusster zu werden. Und natürlich auch meiner eigenen Enttäuschungen.

Das alles meine ich mit selbst-bewusst: sich seiner selbst bewusst sein.

Und all dies in einer liebevoll-neugierigen Haltung: zu mir selbst und zu allem, was mich umgibt. Denn „daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt“ sagt der Christus des Johannesevangeliums (13, 35).

Lieben aber heißt nicht verwöhnen. Weder sich selbst noch den Andern. Es ist schön, wenn mir ein Wunsch von meinen Augen abgelesen wird. Aber es muss kein Zeichen von Liebe sein.

Lieben heißt, mich selbst und den Anderen wahrnehmen, ernst nehmen, respektieren.

Und zwar an genau den Stellen, wo Verschiedenheit und Anders-Sein deutlich wird. Im Reich Gottes ist genug Platz: für mein Eigen-Sein und für das Eigen-Sein meiner Mitgeschöpfe. „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“, hat Albert Schweitzer gesagt. Das ist ein echter Reich-Gottes-Satz! Auch der Löwe will leben – und zu seinem Löwe-Leben gehört es, die Antilope zu jagen, zu töten und zu fressen. Das ist nicht böse – das ist das Eigen-Sein des Löwen.

So gesehen ist das Reich Gottes etwas sehr Nüchternes.

Und weit weg von der Vorstellung eines Paradieses, in dem Löwe und Lamm nebeneinander lagern. Das ist kein Reich Gottes, sondern Ausdruck einer tiefen Sehnsucht nach einer Harmonie, die auf und in dieser Welt nicht verwirklicht ist.

Und wenn wir nicht einer unrealisierbaren Sehnsucht hinterherlaufen wollen, bleibt uns ob wohl oder übel nichts anderes übrig, als diese unsere Welt so zu nehmen wie sie nun einmal ist. Und das Beste daraus zu machen.

Und am Naheliegendsten ist es, damit bei sich selbst anzufangen.

Denn, so wie es keine andere Welt gibt, so gibt es auch mich nur so, wie ich gerade bin. Und nicht so, wie ich (vielleicht) gerne wäre. Oder wie andere mich gerne hätten.

Ich bin … ein winziges Sandkorn im unendlichen Getriebe dieser Welt – damit beginnt der dunkle Weg zu Gott. AMEN.

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