Gedanken zum Volkstrauertag 2022

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

Meister Eckhart hat einmal gesagt: “ … soviel bist du in Gott, so viel du in Frieden bist, und so viel außer Gott, wie du außer Frieden bist“ (Tractatus 2, S. 433) In Frieden mit sich selbst, dem eigenen gelebten Leben und in Frieden mit dem Leben und dem Verhalten meiner Mitmenschen.

Geht das? Oder gehört das zu auch zu jenen Illusionen, die laut Meinung ihrer Kritiker von den Religionen befeuert werden.

Kann ich in Frieden mit jemand seien, der meine Familie bedroht, der Mitglieder meiner Familie getötet hat, der mein Haus zerbombt hat?

Nein. Das geht nicht! Das wäre übermenschlich. Wie soll ich in Frieden zu jemanden kommen, der diesen Frieden überhaupt nicht will?

Dessen Ziel es ist, mich anzugreifen, ja mich zu vernichten.

Die Geschichte lehrt uns, dass wir Menschen offenbar nicht wirklich friedensfähig sind. Alltäglich erleben wir, dass Hass, Gewalt und Rücksichtslosigkeit ganz offensichtlich zu uns Menschen, zu unserem menschliche Leben dazu gehört.

Dies ist nüchtern anzuerkennen.

Wir erleben aber auch alltäglich, dass wir Menschen zu Rücksichtnahme, zu Einfühlung, zu Liebe fähig sind.

Die Frage ist: Gibt es eine Brücke zwischen diesen beiden Polen oder Systemen – zwischen dem System Hass und dem System Liebe?

Ein Beispiel: In diesem Jahr jährte sich der Geburtstag des großen jüdischen Geigers Isaac Stern zum 100. Mal. Zeit seines Lebens lehnte er es ab, in Deutschland zu konzertieren.

An seinem 75. Geburtstag jedoch gab er einen Kammermusikkurs in Deutschland. Er sagte dazu:

„Er sei nicht gekommen, um zu vergeben oder zu vergessen, oder um jemanden Schuldgefühle zu machen, die er nicht von sich aus habe. Sein Kommen sei ein Ausdruck des Humanismus und der Anerkenntnis, dass es nicht ‚menschlich‘ sei, eine feste Position zu beziehen ohne Rücksicht auf den Wandel der Zeit und den Schmerz, den eine solche Position bei Anderen auslöst“. Innerhalb dieses Rahmens war es Stern möglich, nach Deutschland zu kommen. Seine eigene Guaneri-Geige – Symbol dessen, woran wirklich sein Herz hängt – hatte er nicht mitgebracht. Insofern ist er seinem „Schwur“, in Deutschland nie wieder zu konzertieren, treu geblieben.

Für mich ist das ein beeindruckendes Beispiel dafür, was (uns) Menschen möglich ist – und was auch nicht. Er sei nicht gekommen, „um zu vergeben, zu vergessen oder um Schuldgefühle zu machen!“ Er ist gekommen, weil er (dringend) gebeten worden ist, doch von seinem Wissen und seiner Kunst des Violine Spielens etwas weiter zu geben. Und er hat sich von diesen Bitten erreichen lassen als Ausdruck des Humanismus und weil es nicht menschlich sei, eine Position zu beziehen ohne Rücksicht auf den Wandel der Zeit und den Schmerz, den eine solche Position bei anderen auslöst. Und ich füge hinzu: Es tut auch der eigenen Seele nicht gut, in den Verhärtungen zu verharren, und so sich unerreichbar zu machen. Dies führt zu nichts weiter als zu Verbitterung, verbunden mit dem Ausruf: „Das hätte nie passieren dürfen!“

Andererseits – und das ist auch eine sehr nüchterne Erkenntnis: Es bedarf eines

sehr starken Ichs, das über den Mut verfügt, auch ein „Jenseits“ dessen, was geschehen ist und niemals hätte geschehen dürfen, zuzulassen. Es bedarf des Mutes, nicht länger den Stimmen zu folgen, die Härte und Rache propagieren. Die jede Form des Kompromisses und des Aufeinander-zu-Gehens als Ausdruck von Schwäche und Selbstverrat denunzieren. Und es bedarf der Zeit, die bekanntlich Wunden heilt. I. Stern ist an seinem 75. Geburtstag zum ersten Mal in Deutschland gewesen: das war 1997 – also mehr als ein halbes Jahrhundert nach Ende des Nazi-Regimes.

Was er aber vorgelebt hat, das ist wirkliche Stärke. Zu ihr gehört die nüchterne Anerkenntnis der Wirklichkeit und der Verzicht auf süßliche „Jetzt haben wir uns doch alle wieder lieb“-Romantik. Nur in dieser Nüchternheit ist es auf der anderen Seite möglich, eine Zukunft zu finden, die aus der Hölle des ewigen und eisernen Festhaltens an dem, was gewesen ist, heraus führt.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

vielleicht sind Sie ein wenig überrascht, von einem Pfarrer solch‘ „weltliche“ Gedanken zu hören. Ohne Verweis auf ein Jenseits, in dem alles besser werden wird.

Ja, das stimmt: Der Glaube an ein derartiges Jenseits ist mir fremd.

Und ich weiß mich an dieser Stelle in guter Gesellschaft mit Jesus aus Nazareth. Der hat auf die drängende Frage, wann denn (endlich) das Reich Gottes käme, geantwortet:

„Das Reich Gottes kommt nicht mit äußeren Zeichen; man wird auch nicht sagen: Siehe hier!, oder: Da! Denn sehet, das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ (Lukas 17, 23)

Und im Johannesevangelium sagt Christus:

„Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht.“

“ … soviel bist du in Gott, so viel du in Frieden bist…“ AMEN.

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