Predigt über Hesekiel 37, 1 – 14 an Pfingsten 2024

(Die Predigt wurde auf dem Hintergrund der bevorstehenden „Entweihung“ der Petruskirche gehalten.)

Ihr Lieben!

Pfingsten gilt als Geburtstag der Kirche.

Und Pfingsten ist das Fest der Ausgießung des Heiligen Geistes.

Pfingsten ist also einerseits ein Geburtstagsfest, bei dem wir singen können:

„Wie schön, dass du geboren bist, wir hätten dich sonst sehr vermisst!“

Pfingsten ist andererseits ein Abschiedsfest:

Die Ausgießung des Heiligen Geistes ist die Folge der Rückkehr Jesu zu seinem Vater. Für seine ersten Jünger bedeutete diese Rückkehr ein Verlassen-Werden. Ein Zurück-Gelassen-Werden. Weil dieses Geschehen des Verlassen-Werdens mit sehr schmerzhaften Gefühlen verknüpft ist, sagt Jesus: Aber ich lasse „Euch nicht verwaist zurück“. Der Trost, den Jesus ankündigt, ist der Trost des Heiligen Geistes. Es ist der „Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht sieht noch ihn kennt.“ (Johannes 14,17)

So nah sind Abschied und Neuanfang zusammen.

Dies gilt für Leben überhaupt. Ohne Abschied gibt es keinen Neubeginn. Neues kann es nur geben, wenn Altes verabschiedet worden ist. Viel Leid, viel Qual von uns Menschen hat mit der Unfähigkeit zu tun, loszulassen, und ja zu sagen zu dem, was gerade ist. Dass es so eben nicht weiter geht.

Hautnah erleben wir dieses Geschehen mit unserer Petruskirche.

Auch von ihr heißt es demnächst, Abschied zu nehmen.

Und auch hier gilt: „Ich lasse Euch nicht verwaist“ zurück.

Der Geist der Petruskirche, der Heilige Geist, ist unzerstörbar.Und er wirkt, wo und wann er will.

Die Kirche, die Gemeinschaft, die auf diesen Geist gründet, ist unzerstörbar. Sie lässt sich nicht „entweihen“ oder gar schließen. Sie ist jederzeit und für jeden offen.

Pfingsten ist auch der Geburtstag der Kirche, habe ich gesagt. Geburtstag feiern heißt auch, anerkennen, dass wieder ein Jahr gelebten Lebens vorbei ist. Der Depressive sieht an seinem Geburtstag nur, dass „schon wieder ein Jahr vergangen ist“. Was er nicht erleben kann, das ist die Freude und die Dankbarkeit für das, was er in diesem Jahr alles erleben „durfte“. Deshalb sagt Meister Eckhardt: „Wäre das Wort ›Danke‹ das einzige Gebet, das du je sprichst, so würde es genügen.“

Dies gilt auch für hier:

Danke, liebe Petruskirche, was wir in und mit dir erleben durften!

Freude und Dankbarkeit lässt sich freilich nicht auf Knopfdruck „machen“. Es ist ein Geschehen, das – Gott sei Dank – unserer Manie des „Nichts ist unmöglich“ entzogen ist. Dankbarkeit, Freude, Freundschaft, Friede, Liebe all‘ dies sind Ausdrücke für ein Geschehen, das sich von uns Menschen nicht machen lässt. Alles, was wir tun können, – und das ist nicht wenig – ist, ein Klima, ein Milieu, eine „Haltung“ zu finden, innerhalb derer Freude Dankbarkeit und Liebe sich entfalten, aufblühen können.

Zu dieser Haltung gehört wesentlich ein Gefühl der Gelassenheit.

Meister Eckhardt war neben vielem Anderen der Erfinder dieses Wortes und er meinte damit: „Losgelassen-Sein“ im Sinne von: „an nichts festhalten“. Was er damit nicht meinte, ist ein fatalistisches „Laisser faire“.

Auf diesem Hintergrund möchte ich mich jetzt mit Ihnen dem heutigen Predigttext zuwenden, einem Abschnitt aus dem 37. Kapitel des Buches Hesekiel (in der Übertragung Martin Bubers, die dem Hebräischen am Nächsten kommt.)

Hesekiel 37, 1-14

1 Über mir war SEINE Hand, im Geistbraus entführte mich ER, ließ mich nieder inmitten der Ebne, die war voller Gebeine. 2 Er trieb mich rings, rings an ihnen vorbei, da, ihrer waren sehr viele hin über die Fläche der Ebne, und da, sehr verdorrt waren sie. 3 Er aber sprach zu mir: Menschensohn, werden diese Gebeine leben? Ich sprach: Mein Herr, DU, du selber weißt. 4 Er aber sprach zu mir: Künde über diese Gebeine, sprich zu ihnen: Ihr verdorrten Gebeine, höret SEINE Rede! 5 so hat mein Herr, ER, gesprochen zu diesen Gebeinen: Da, Geistbraus lasse ich kommen in euch, und ihr lebt. 6 Ich gebe über euch Sehnen, ich lasse Fleisch euch überziehn, ich überspanne euch mit Haut, Geistbraus gebe ich in euch, und ihr lebt und erkennt, daß ICH es bin. 7 Ich kündete, wie mir war geboten. Als ich gekündet hatte, geschah ein Rauschen, und da, ein Schüttern, die Gebeine rückten zusammen, Gebein zu seinem Gebein. 8 Ich sah, da waren über ihnen Sehnen, Fleisch überzog sie, Haut überspannte sie obendrauf, doch kein Geistbraus war in ihnen. 9 Er aber sprach zu mir: Künde auf den Geistbraus zu, künde, Menschensohn, sprich zum Geistbraus: So hat mein Herr, ER, gesprochen: Von den vier Brausewinden, Geistbraus, komm, wehe diese Erwürgten an, daß sie leben! 10 Ich kündete, wie er mir geboten hatte. Der Geistbraus kam in sie ein, sie lebten. Sie standen auf ihren Füßen, ein sehr sehr großes Heer. 11 Er aber sprach zu mir: Menschensohn, diese Gebeine, die sind alles Haus Jissrael. Da sprechen sie: Verdorrt sind unsre Gebeine, geschwunden unsere Hoffnung, losgeschnitten sind wir! 12 Darum künde, sprich zu ihnen: So hat mein Herr, ER, gesprochen: Da, ich öffne eure Gräber, ich ziehe euch aus euren Gräbern, mein Volk, ich lasse euch kommen zu dem Boden Jissraels. 13 Dann werdet ihr erkennen, daß ICH es bin. Wann ich öffne eure Gräber, wann ich euch ziehe aus euren Gräbern, mein Volk, 14 gebe in euch meinen Geistbraus, daß ihr lebet, lasse euch nieder auf eurem Boden, dann werdet ihr erkennen, daß ICH es bin, ders redet, ders tut. SEIN Erlauten ists.“

Liebe Gemeinde,

welch‘ eine Vision, die der Prophet Hesekiel hier vor uns ausbreitet!

Hesekiel, hebräisch Jecheskel, heißt: Gott stärkt mich; Gott gibt mir Kraft; auch: Gott ist mein Halt. Er war Exilsprophet und erlebte sowohl die 1. Vertreibung der Juden aus ihrer palästinischen Heimat 597 v. Chr. durch die babylonische Weltmacht als auch die sich anschließende 2. Vertreibung. Diese ging mit der Zerstörung des Zentralheiligtums in Jerusalem im Jahre 587 v. Chr. einher.

Man könnte auch sagen: Hesekiel war ein schwer traumatisierter Mann – er hat die Zerstörung all dessen, was ihm, was seinen Eltern (er stammt aus einem alten Priestergeschlecht), was seinen Landsleuten heilig ist, erlebt. Und – als wäre das alles noch nicht genug: Dann wurde er auch noch aus seiner eigenen Heimat vertrieben.

Auf diesem Hintergrund verstehe ich die Vision des Propheten auch als Versuch einer einer „Selbst-Heilung“. Ich meine das nicht in dem Sinne, als könne man sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Ich meine das so:

Knochen = עֲצָמוֹת azamot bedeutet im Hebräischen auch: Das „Wesen“ eines Menschen, sein „wesentliches Selbst“, oder auch: das „eigene Eigene“ (Bollas). Meister Eckhardt spricht von der „Selbigkeit“ des Menschen. Wir würden heute vielleicht von seiner „Identität“ sprechen, und meinen damit, das, was den Menschen wesentlich ausmacht. Das „Wesen“ des Menschen.

„Homo“ – das lateinische Wort für Mensch – besagt, so Meister Eckhardt, dass ihm ein „vernunftbegabtes Sein“ mitgegeben ist. „Ein solchermaßen vernunftbegabter Mensch ist der, der sich selbst mit der Vernunft begreift und in sich selbst losgelöst (wörtlich: ‚abgeschieden‘) ist von allen Dingen und in sich selbst gekehrt, je mehr er alle Dinge klar mit seiner Vernunft in sich selbst erkennt, ohne Hinwendung nach außen, um so mehr ist er ein ‚Mensch'“ (Deutsche Werke Band I, S. 176; Predigt 15 über Lukas 19, 12). Das heißt im Umkehrschluss: Je weniger ein Mensch zu Selbsterkenntnis bereit und/oder fähig ist, desto weniger wird er seiner Bestimmung als Mensch gerecht. Oder mit den Worten von Theresa von Avila: „… so hoch die Seele auch stehen mag – nie wird etwas anderes die Selbsterkenntnis ersetzen können, ob man dies will oder nicht“ (Innere Burg, S. 30)

In der Vision des Hesekiels ist das „vernunftbegabte Sein des Menschen“ der Atem Gottes. Luther übersetzt mit „Odem“, was an „Adam erinnert. All dies sind Versuche, das hebräische Wort „Ruach“ einzudeutschen. Ruach kann auch ganz einfach „Wind“ oder „Sturm“ meinen. Bezogen auf Lebewesen beschreibt es ihre die Lebenskraft. Sie ist in innigster Weise verbunden mit dem „Geist Gottes“. Von daher ist eine verbreitete Auslegung der Vision Hesekiels vom „Toten-Acker“, dass es sich um „geistlich Tote“, um „spirituell Gestorbene“ handelt. Hierüber zu streiten, um welche Tote es jetzt geht, um „wirklich Tote“ oder „nur“ um „geistlich Tote“ ist eine Ablenkung vom Wesentlichen.

Das Wesentliche ist: Mensch-Sein bedeutet, nicht nur in Beziehung mit Gottes Geist zu leben, sondern aus seinem Geist heraus zu leben. Wer aus Gottes Geist lebt, der lebt wirklich – und wenn er auch sterben müsste.

Der Heilige Johannes vom Kreuz nennt Gottes Geist „ilama de amor“, die „Liebesflamme“. Er beschreibt ihn als die personifizierte Liebe Gottes, die den Menschen in seinem Wesenskern, in seiner „Selbigkeit“ berührt, um ihn immer mehr dem Gott, der die Liebe ist, gleichzugestalten. Um zu veranschaulichen, wie er das meint, verwendet Johannes das Bild vom Feuer: Gott gleicht einem „verzehrenden Feuer“, das die Seele des Menschen „läutert“, in dem alles verbrennt, was nicht seinem Wesen entspricht. Dies erlebt der Mensch als Schmerzen im Dienste seiner Erleuchtung hin zu Gott. Indem der Mensch dies an sich geschehen lässt, wird er immer tiefer erleuchtet und entflammt, bis er mit der Liebe Gottes gleichgestaltet ist. Den Weg selbst beschreibt Johannes als „Dunkle Nacht“ und veranschaulicht die Gefühle der dunklen Nacht mit dem Bild des noch feuchten Holzscheids, das mit Zischen und Krachen versucht, sich gegen seine Entflammung zu wehren.

Liebe Gemeinde,

Gott ist ein guter Therapeut. Therapeut heißt wörtlich: „Begleitender Diener im Kampf“. Der Kampf, um den es geht, ist der Kampf der sich ausbreitenden Liebe gegen die Mächte des Hasses. Das Futter des Hasses sind die Gefühle des Verlassen-Werdens. Jedes Baby kennt und durchleidet diese Gefühle. Selbst wenn es noch so liebevolle Eltern hat: Es erlebt immer wieder, allein zu sein. Angewendet auf die „Entweihung“ der Petruskirche: Ich bitte Sie und Euch, sich nicht von (naheliegenden) Gefühlen der Empörung leiten zu lassen. Sie eignen sich nur dazu, Schuldige zu finden, und bei ihnen den eigenen Hass und die eigene Enttäuschung unterzubringen.

Noch einmal: Der Geist Gottes braucht keine Räume. Der Geist der entflammenden Liebe lebt – und er ist unzerstörbar. Kirchen kann man entweihen, Lebewesen kann man töten – den Geist Gottes nicht. Drei Mal heißt es in unserem Text:

„Und Ihr werdet erkennen, dass ICH es bin“.

Aus dieser Erkenntnis heraus leben bedeutet, aus der Liebe Gottes heraus zu leben. Dieser Liebe ist es egal, wer du bist, welcher Religion du angehörst, ob du Atheist bist. Diese Liebe lässt sich von Kirchenentweihungen ebenso wenig beeindrucken, wie von den prunkvollsten Kirchenbauten.

„Die Liebe gleicht einem Hund“, sagt Rumi. „Sie packt dich am Genick und schleppt

dich zappelnd zu Gott.“

Und auf seinem Grab steht:

„Komm, wer immer du bist,

Wanderer, Götzenanbeter, den Abschied Liebender.

Es spielt keine Rolle.

Dies ist keine Karawane der Verzweiflung.

Komm, auch wenn du deinen Schwur tausendfach gebrochen hast.

Komm, komm, noch einmal: KOMM!“ AMEN.

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