„Der verlorene Sohn“ bzw. „die verlorene Tochter“: Predigt über Lukas 15 am 3. Sonntag nach Trinitatis 2023

Liebe Gemeinde,

„der Menschensohn ist gekommen zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“ Dieser Satz aus dem Lukasevangelium gibt unserem heutigen Gottesdienst seine Überschrift.

Er ist wohl gut gemeint.

Nur – kommt er auch „gut“ an?

Es könnte ja sein, dass jemand sich eben deshalb versteckt, um nicht gefunden zu werden. Sein Misstrauen und seine Angst sind stärker als das Vertrauen darauf, dass er „selig gemacht“ werden soll.

Es gibt ein wunderschönes Buch des englischen Psychoanalytikers John Steiner über „Orte seelischen Rückzugs“. Die zugrunde liegende Erkenntnis ist die, dass seelisch Not leidende Menschen sich Orte suchen und finden, in denen sie vermeintlich sicher sind. Die ihnen Schutz vor befürchteten Angriffen geben. In denen sie „ihre Ruhe“ haben. Für Kinder ist so ein Zufluchtsort gar nicht selten die Toilette, wo es erlaubt ist, hinter sich abzusperren.

Auch Musik kann sich dafür eignen.

Es muss jedenfalls ein Ort ein, wo der/die Andere nicht hinkommt.

Für mich war und ist so ein Rückzugsort die Spiritualität.

Und wenn ich – wie gerade – einen Gottesdienst leite, dann stehe ich zwar in der Öffentlichkeit, bin also ungeschützt. Aber ich habe die mir vertraute Liturgie des Gottesdienstes und dadurch weiß ich – zumindest meistens – was auf mich zukommt. Dieses Wissen verleiht mir Sicherheit und bindet meine Ängste. Nicht zu wissen, was auf einen zukommt, ist ein ekelhaftes Gefühl. Ich vermute, dass die Angst vor dem Tod zum größten Teil eine Angst davor ist, nicht zu wissen, was da auf einem zukommt.

Jetzt – beim Predigen – habe ich mein Manuskript. Auch das gibt mir Sicherheit. Wenn ich völlig „neben der Spur“ bin, kann ich mich daran festhalten.

Unser heutiges Evangelium, das Gleichnis vom verlorenen Sohn – Sie haben es vorhin wahrscheinlich nicht zum ersten Mal gehört – ist die Geschichte von einem, der sich aus seiner Familie zurückzieht. „Er reiste weg in ein fernes Land“ (V. 13b). Womöglich dachte er: Je weiter ich von zu Hause weg bin, desto freier bin ich. Endlich kann ich mal machen, was ich will!

Dort „verprasste“ – so in der Übersetzung M. Luthers – er sein Erbteil. Dies ist natürlich eine Wertung. Wörtlich steht da: Er „vergeudete sein Vermögen, indem er verschwenderisch lebte“. Was war sein Vermögen? Es war auch aber nicht nur sein Erbteil. Im Griechischen heißt „Vermögen“ „Ousia“, wörtlich: „Existenz“ im Sinne von „Sein“.

Er vergeudete seine „Existenz“ wäre also die wörtliche Übersetzung. Man könnte auch sagen: Er opferte seine Existenz für seine „Lust“, für seinen Spaß, für den Genuss. Ohne es zu merken, bezahlte er einen sehr hohen Preis für sein Verlangen, möglich viel Lust aus dem Leben heraus zu holen. Wenn dies von vorneherein abgewertet wird, geht eine wesentliche Erkenntnis verloren: Dass nämlich vor dem Erwachsen-Werden die Pubertät steht. Für das Erleben-Dürfen einer gesunden Pubertät gehört, die eigenen Eltern in Frage stellen, sich von ihnen trennen zu dürfen. Und es gehört ein Gefühl von Unverletzlichkeit, ja Allmacht dazu. Das ist alles völlig normal. Irgendwann, Mitte zwanzig, kommt dann die Erfahrung: Jetzt geht es so nicht mehr weiter. Dies kann eine Trennung sein, ein Unfall, ein Schicksalsschlag.

Bei dem „verlorenen Sohn“ ging es solange gut, bis er nichts mehr hatte, bis er mit leeren Händen da stand. Da fing er selbst an, „Mangel zu leiden“ (V.14b). Dies führte ihn dazu, „sich an die Fersen“ eines Bürgers aus jenem fremden Land zu „hängen“. Er machte sich von ihm abhängig, da er so wahnsinnig hungrig war. Dieser Mann gab ihm den niedrigsten Job, der damals auf einem Bauernhof zu vergeben war: „Du kannst die Schweine hüten!“ Dies tat er und war noch einmal angetrieben von seiner Begierde: „…er begehrte seinen Bauch zu füllen mit den Schoten, die die Schweine fraßen.“

„Und niemand gab ihm.“ Heißt: Und niemand kümmerte sich um ihn. Er spürte: Das ist keine Lösung! Ich bin so hungrig und so werde ich nicht satt.

„Als er aber zu sich kam…“ (V.17a). Dies ist der Wendepunkt in der Geschichte des verlorenen Sohnes: „Er kommt zu sich!“

Das heißt: Eigentlich handelt seine Geschichte davon, wohin es führt, wenn man sich selbst verliert. Wenn man sich zu sehr davon leiten lässt: Was macht mir Spaß, was vermehrt meine Befriedigung? Dann ist die Gefahr groß, zum Sklaven der eigenen Lust, zum Sklaven der eigenen süchtigen Suche nach Befriedigung werden.

Es ist die große Schwäche des Kapitalismus, dass er das Prinzip: „Ich mache, was ich will“ verherrlicht. „Wir leben in einer Demokratie – d.h. jeder kann essen, was er will“, hat unser Ministerpräsident vor kurzem gesagt. Das ist leider Ausdruck eines schwachen Ichs, das sich der eigenen Begierde unterwirft. Und weil es zu beschämend ist, sich das einzugestehen, heißt es: „Ich will das gerade so!“

Ein starkes Ich aber zeichnet gerade nicht dadurch aus, dass es darauf angewiesen ist, jederzeit machen zu können, was es will. Ein starkes Ich zeichnet aus, dass es stärker ist als die eignen Begierden und Gelüste. Ein starkes Ich ist per definitionem ein soziales Ich. Es hat gelernt, im Dienste von sozialer Verantwortung zu geben, zu nehmen – und zu verzichten. Ein starkes Ich kann und will seine eigenen Begierden hemmen – für ein konstruktives Miteinander. Mit anderen Worten: Ein starkes Ich kann sich selbst (zurück-)halten.

Damit sich etwas verändert, ist es notwendig, „zu sich zu kommen“. Der verlorene Sohn kommt nicht freiwillig zu sich, sondern weil ihm das Geld ausgegangen ist. Wirkliche Veränderung geschieht nur über das Erleiden dessen, dass es „so nicht weiter geht“. Zur wirklicher Veränderung gehören die Gefühl von Katastrophe. Dass wir in Deutschland (noch – und hoffentlich noch lange!) in einer stabilen Demokratie leben dürfen, hat mit dem katastrophalen Ende des nationalsozialistischen Regimes zu tun. In gewisser Weise muss man anerkennen: uns wurde die Demokratie aufgepfropft. Die jetzigen Versuche, Energie zu sparen, klimaneutral zu leben, fließen auch aus der Einsicht, dass „es so nicht weiter geht“. Und natürlich gibt es auch den Widerstand dagegen, der sich „nichts vorschreiben lassen will“.

Der verlorene Sohn ist dabei, sich selbst zu finden, indem er „umkehrt“. Es ist die Bewegung der Rückkehr, der Umkehr, die zu meinem Selbst führt. Diese Bewegung geht notwendig einher mit Reue: „Ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir, ich bin nicht mehr würdig, dein Sohn zu heißen.“ (V.18bf)

Und ich füge hinzu: „Ich habe gesündigt vor meinem eigenen Selbst. Ich habe mein eigenes Leben verraten, habe mein Vermögen, mein Können, meine Existenz verkauft. Jetzt, wo ich zurückkehre, merke ich: „Lieber bin ich ein Tagelöhner – aber ich weiß, wo ich hingehöre, bin mit mir, mit meiner Identität in guter Verbindung.“ Wer mit sich selbst in liebevoller Verbindung ist, der benötigt keine Rückzugsräume. Er muss sich nicht länger über Flucht und Rückzug schützen.

Die liebevolle Verbindung zu und mit sich selbst ist auch unabdingbar dafür, was das Schwierigste im Leben ist: Sich selbst zu vergeben. Der Weg in die ersehnte Freiheit führt über das Loslassen der alten vertrauten Fesseln. Loslassen aber heißt weggeben. Eben vergeben.

Der verlorene Sohn hat auf seinem Heimweg, auf dem Weg zu sich nach Hause, einen neuen Vater gefunden: Einen Vater, der vergibt. Ein Vater der sich mit seinem Sohn freut über den Weg, den sein Sohn gehen konnte. Echte Freude kann nur der erleben, der all das, womit er nicht einverstanden ist, was alles in seinem Leben nicht hätte passieren dürfen – losgelassen hat. Nicht im Sinne eines billigen „Schwamm drüber“. Sondern im Sinne eines ehrlichen Betrauerns dessen, was man anderen Menschen und sich selbst an Leid zugefügt hat.

„Vergib uns unsere Schuld – wie auch wir vergeben unsern Schuldigern!“

Diese Bitte geht für den Menschen in Erfüllung, der das Risiko auf sich nimmt, zu sich und so zu Gott zurück zu kehren. Dazu braucht er einen Gott, der fähig und bereit für Vergebung ist.

Wie schwierig das ist, wird am Verhalten des anderen Sohnes, seines älteren Bruders deutlich. Er kann und will nicht einsehen, dass das so „einfach“ gehen soll. Er ist zornig, fühlt sich sehr ungerecht behandelt. „Siehe, so viele Jahre diene ich dir und niemals habe ich ein Gebot von dir übertreten, und mit hat du niemals ein Böckchen gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich gewesen wäre. Da aber dieser dein Sohn gekommen ist, der deine Habe mit Huren durchgebracht hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet.“ (V. (V. 29b-30)

Aus ihm spricht der Neid des vermeintlich zu kurz Gekommenen. Im Neid ist Vergeben und Verzeihen unmöglich. Neid und Hass sind Geschwister. Sie wollen festhalten. Es wird auch deutlich, dass sein erst geborener Bruder gar nicht aus innerer Beteiligung und Freude sein Leben auf dem Hof des Vaters gelebt hat, sondern aus dem Pflichtgefühl heraus, „es recht zu machen“. „Ich habe alle deine Gebote gehalten“ sagt er. Und der Vater antwortet: „Kind, du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, ist dein. Aber man musste doch jetzt fröhlich sein und sich freuen; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden und verloren und ist gefunden worden.“ (V.32)

Natürlich haben die Menschen dieses Gleichnis in Bezug zu Gott gehört. Und es hat sie radikal verunsichert. Was redet Jesus da? Gott freut sich über die Umkehr eines Sünders so sehr, dass er ihm seine Verfehlungen nicht übel nimmt? Ja – er scheint sich über die Umkehr eines Sünders mehr zu freuen, als über denjenigen, der von Anfang an ein Gott gefälliges Leben lebt? Das ist doch unerhört! Wozu gebe ich mir dann überhaupt soviel Mühe, die Gebote zu halten?

Jesus hat die Schwäche dessen schonungslos aufgedeckt, was man pharisäische Moral nennen könnte. Es ist insofern eine verdrehte Moral, als sie nicht „von Herzen“ kommt. Es ist eine Moral, die darauf aus ist, vor Gott gut da zu stehen. Und es ist eine Moral, die es gar nicht mag, kritisiert zu werden. Diese Moral ist selbstgerecht und überheblich. Überheblichkeit oder Arroganz sind im übrigen auch verbreitete Schutzräume von Menschen mit einem unsicheren Ich.

Jesus Kritik an der pharisäischen Moral provoziert ihre Vertreter, die Pharisäer, so sehr, dass sie ihn töten mussten. Sie meinten, damit auch seine Gedanken beseitigen zu können. Auch unser Gleichnis ist eine einzige Provokation an diejenigen (unter uns?), die der Meinung sind, doch alles richtig zu machen. Der Gott, den Jesus verkündet, legt keinen Wert auf die „Rechthaber“ und „Richtig-Macher“. Er legt Wert auf die, die fähig und bereit sind, sich selbst und das was sie denken und tun, kritisch zu hinterfragen. Und die den Mut und die Kraft haben, neue Erkenntnisse auch zu realisieren. Was sich nicht selten als 180 Grad-Wendung, oder biblisch: als Umkehr anfühlt. Diese Wendung zu vollziehen fällt so schwer, weil mit ihr das Verlassen der vertrauten Denk- und Schutzräume einher geht.

Aber: „… was nützt es einem Menschen, die ganze Welt zu gewinnen und sein Leben einzubüßen?“ (Markus 8, 36) Das ist auch so eine Provokation dieses Mannes aus Nazareth!

AMEN

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