Predigt über Lukas 18, 1-8 am drittletzten Sonntag im Kirchenjahr (10.11.2013)
Liebe Gemeinde,
„drittletzter Sonntag“ weist auf Ende hin. Das Ende des Kirchenjahres steht unmittelbar bevor.
Das Zu-Ende-Gehen wird meist mit unangenehmen Gefühlen begleitet. Während „allem Anfang ein Zauber innewohnt“, scheint dem Ende eher Entzauberung, ja Ernüchterung inne zu wohnen.
Ende heißt ja auch: „das war’s – es kommt nichts mehr nach.“
Ende hat mit end-gültig zu tun. „Es ist vorbei!“
Der Sommer ist vorbei.
Die Schule ist vorbei.
Die Jugend ist vorbei.
Der Großteil meines Lebens ist vorbei.
Vorbei heißt – ich kann nichts mehr daran ändern.
Weder an dem Guten, noch an dem Schlechten.
Ich muss mich damit auseinander setzen, dass es so und nicht anders gewesen ist. Was heißt ich muss – ich muss gar nicht.
Wenn ich das nicht aushalte – wenn ich mich der Wirklichkeit meines gelebten und erlebten Lebens nicht stellen kann, werde ich davor ausweichen. Bleibt mir nichts anderes übrig, als die Wirklichkeit zurecht zu biegen. Sie mir schön oder wenigstens erträglich reden. Oder sie vergessen. „Glücklich ist, wer vergiss, was doch nicht z ändern ist.“ Operettenseligkeit mit einem Gläschen Sekt. „Ist doch alles nicht so schlimm!“
Oder: „Schwamm drüber!“ „Jetzt nach vorne blicken!“ Die Zukunft soll retten. Wie geht es weiter? Und wenn es nicht mehr weiter geht. Weil die Arbeitslosigkeit endgültig geworden ist, die Krankheit chronisch, das Alter unaufhaltsam?
Wenn dann die Schmerzen zu groß, die Verletzungen unerträglich sind, so habe ich keine Möglichkeit, der Wirklichkeit und Wahrheit dessen, was und wie es gewesen ins Auge zu blicken. Als Mahnmal bleiben namenlose körperliche Schmerzen über, die ihres Sinnes beraubt wurden. Die einzige Möglichkeit, die dann noch bleibt, ist, sich zu betäuben.
Was haben unsere heutigen Texte dazu zu sagen? Bekommen wir Nahrhaftes zu diesem unerfreulichen Thema? Oder billige Vertröstungen auf eine bessere Zukunft im Jenseits. Religion als Droge?
„Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, jetzt ist der Tag des Heils.“ (Der Wochenspruch aus dem 2. Korintherbrief)
Für denjenigen, der die Gegenwart nicht aushält, ist der Wochenspruch blanker Sarkasmus. Was soll daran heil sein, wenn es mir schlecht geht? Wenn ich meinen ganzen Trost darauf richte, von einer besseren Zukunft zu träumen?
Paulus ist anderer Meinung. Das Ertragen-Lernen des Hier und Jetzt macht stark. Nicht die Flucht davor. „Der wichtigste Augenblick ist immer die Gegenwart“, sag Meister Eckehart.
Aber was ist: wenn die Gegenwart zuviel ist? Wenn sie unerträglich wird? Wenn man nur noch schreien könnte? Wenn man in der Nacht von entsetzlichen Albträumen gequält wird? Wenn man das Gefühl hat, nicht mehr schlafen zu können? Wenn die Zeit zerstört, der Raum vernichtet ist? Wenn es nur erstarrte, dunkle, kalte Ewigkeit gibt? Gepaart mit dröhnenden Schmerzen.
(Dann ist es Zynismus zu sagen: „Siehe, jetzt ist der Tag des Heils…“)
Das Problem ist die Unerreichbarkeit. Je mehr sich jemand zurück gezogen hat, desto unerreichbarer hat er sich gemacht. Für ihn bleiben auch so starke Sätze, wie: „Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn; ob wir also leben oder sterben, wir sind des Herrn…“ (Lesung: Röm14,7-9) hohle Formeln.
Menschen, die sich „unerreichbar“ gemacht haben, sind für ihre Mitmenschen nur schwer erträglich. Und je bedürftiger ich bin, je angewiesener ich darauf bin, den Anderen zu erreichen, desto unerträglicher ist es. Kinder wissen intuitiv, ohne wahrgenommen zu werden, können sie nicht überleben. Der Kampf darum, den anderen zu spüren, von ihm etwas zu „bekommen“ kann für Kinder ein Überlebenskampf sein. Kinder, die das Gefühl haben, ich kann meinen Papa, ich kann mein Mama nicht erreichen, kämpfen mit Gefühlen entsetzlicher Verzweiflung. Sie kämpfen ums seelische Überleben.-
Unser heutiger Predigttext handelt von einer Beziehung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass zwei unerreichbar füreinander sind. Der einzige Ausweg ist der Gedanke an Gewalt. Gewalt als letzter Ausweg dafür, dass der andere mich wahrnimmt. Leider auch heute noch gar nicht so selten. Unser Text ist ein Gleichnis aus dem Lukasevangelium, das Gleichnis vom ungerechten Richter oder – wie es auch heißt – von der bittenden Witwe:
„1 Er sagte ihnen aber ein Gleichnis, dass sie allezeit beten und nicht nachlassen sollten. 2 Es war ein Richter in einer Stadt, der fürchtete sich nicht vor Gott und scheute sich vor keinem Menschen. 3 Es war aber eine Witwe in derselben Stadt, die kam zu ihm und sprach: Schaffe mir Recht gegen meinen Widersacher. 4 Und er wollte lange nicht. Danach aber dachte er bei sich selbst: Wenn ich mich schon vor Gott nicht fürchte noch vor keinem Menschen scheue, 5 will ich doch dieser Witwe, weil sie mir soviel Mühe macht, Recht schaffen, damit sie nicht zuletzt komme und mir ins Gesicht schlage. 6 Da sprach der Herr: Hört, was der ungerechte Richter sagt! 7 Sollte da Gott nicht auch Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen, und sollte er’s bei ihnen lange hinziehen? 8 Ich sage euch: er wird ihnen Recht schaffen in Kürze. Doch wenn der Menschensohn kommen wird, meinst du, er werde Glauben finden auf Erden?“
Das sind alle beide keine sympathischen Typen, die uns in diesem Gleichnis vorgestellt werden. Auf der einen Seite eine Witwe, die wohl in aufdringlichster Weise dem Richter auflauert, ihn versucht zu nötigen, sich an keine Instanzen und an keinen Rahmen hält. Womöglich scheut sie nicht einmal davor zurück, dem Richter „eine zu scheuern“, wenn er nicht endlich tut, was sie erwartet. Es ist keine „bittende“ Witwe, sondern eine „stalkende“ Witwe, würde man heute sagen.
Auf der anderen Seite ein egozentrischer Richter, dem Gott und die Menschen gleichermaßen egal sind. Selbstgerecht um sich zu kreisen – das scheint alles zu sein, was ihn auszeichnet.
Beiden Menschen fehlt eine wesentliche Fähigkeit, über die allererst so etwas wie „Menschlichkeit“, „menschliche Wärme“ in die Welt kommt: die Fähigkeit, sich in den Anderen (hinein-)zufühlen. Der Richter interessiert sich überhaupt nicht für die Bedürfnisse der Anderen. Die Witwe auch nicht. Sie will nur eines: „ihr Recht bekommen“. „Schaffe mir Recht gegen meinen Widersacher!“
In beiden Menschen ist Raum zerstört. Es gibt keinen Denk-Raum, innerhalb dessen Verbindungen hergestellt werden können: kein Bemühen, die andere Seite zu verstehen, sich in den Anderen einzufühlen.
Nun verwendet Jesus dieses Gleichnis merkwürdigerweise nicht dafür, die Bedeutung der Wahrnehmung des Anderen, der Einfühlung in den Anderen herauszustellen. Vielmehr heißt es: „Jesus sagte ihnen ein Gleichnis darüber, dass sie allezeit beten und nicht nachlassen sollen.“
Werden wir also dazu aufgerufen, Gott zu nötigen, ihn zu bedrängen, ihm in den Ohren zu liegen? Dann wäre ja Gott so ähnlich wie der Richter. Der, wenn überhaupt, aus Angst Recht schafft.
Sollen wir so beten? Sollen wir zu Gott sagen, wenn du dich nicht endlich für mein Recht einsetzt, dann schlage ich dir ins Gesicht?
Wohl kaum.
Was sollen wir dann aus dem Gleichnis lernen? Es ist gesagt worden, dass die Witwe für die Armen und Benachteiligten steht, dass Lukas diese ermuntert, zu Gott zu schreien – und dass Gott sich gerade ihrer annimmt. Lukas – der Evangelist der Armen. Diese Deutung mag historisch korrekt sein – aber berührt sie uns Heutige? Hier, im reichen Pullach?
Mich berührt sie jedenfalls nicht. Und es ist ganz sicher kein Gleichnis, das mich dazu bewegt, meine Praxis des Betens zu überprüfen. Es schreckt mich eher ab. Und ich kann die Stimmen gut verstehen, die sagen, dass man daran sieht, wie veraltet das NT ist.
Mich ärgert es übrigens auch, wenn ich genötigt werden soll. Ich kann auch gegenüber der Witwe keine Sympathie empfinden. So wenig, wie ich Sympathie empfinden kann, wenn mich jemand mit dem Kauf eines Zeitungsabonnements bedrängt oder jemand Sturm läutet, um mir zu sagen, dass er/sie Hunger habe, aber mich ganz böse anschaut, wenn ich dann etwas zu essen anbiete – und kein Geld.
Auf der anderen Seite ist es keine Frage, dass das (zu) große Gefälle zwischen arm und reich auf Dauer katastrophal ist, und zwar nicht nur für die Armen, sondern genauso für – uns: die Reichen.
Aber darum geht es jetzt nicht. Die große Frage ist: wie geschieht Veränderung. wie kann es gehen, dass jemand seine verhärteten Positionen, seine Vorurteile über sich und die Anderen in Frage stellt, dass jemand beginnt, sich in den Anderen, in das „Fremde“ einzufühlen?
Jesu Vorschlag lautet: über unablässiges Beten. Dasselbe rät Paulus den Thessalonikern: „Betet ohne Unterlass!“ (1. Thess. 5,17) Aber wie soll das gehen? Soll die Witwe beten: Lieber Gott mach’, dass der ungerechte Richter mir endlich recht gibt? Oder der Richter: Lieber Gott, befreie mich von der Witwe, mach dass sie verschwindet – wie, ist mir egal? Dies ist ein Missbrauch des Gebets. Eine Verwendung des Gebets, das noch einmal betoniert, dass es kein Verständnis für den Anderen gibt.
Dies kann Jesus schwer gemeint haben. Wenn man sich seine Gebete anschaut, dann handeln die vom Loslassen. „Dein Reich komme. Dein Wille geschehe…“ Und der Beter will nicht Gerechtigkeit, sondern er betet um Vergebung: „wie ich vergebe meinen Schuldigern…“
In solchen Gedanken, in solchen Gebeten geschieht „Heil“. Das heißt: wird etwas „heil“, etwas, was zerbrochen war, wird „ganz“.
„Betet ohne Unterlass“ heißt also: betet dafür, dass ihr lernt loszulassen davon, euch um euch selbst zu drehen. Wer sich um sich selbst dreht, der hält sich für den Mittelpunkt der Welt. Gleichzeitig – und das ist die Tragik dahinter – ist er blind für sich: er spürt sich nicht, kann sich selbst nicht wahrnehmen, kann sich auch selbst nicht berühren. Und wer sich selbst nicht berühren kann ist auch für andere unberührbar geworden.
So sind der Richter und die Witwe Repräsentanten von sehr, sehr einsamen Menschen. Die in der Tiefe ihrem Hass auf das Leben ausgeliefert sind. Und den Anderen als Bestätigung dafür verwenden, dass ihr Hass in jedem Fall berechtigt ist.
Das Einzige, was ihnen helfen könnte, ist die Fähigkeit, sich selbst, das eigene Denken in Frage zu stellen. Sich selbst zu relativieren. Und genau dazu sind sie nicht in der Lage. Sie wollen/müssen an ihrem Hass festhalten – er scheint das einzig Verlässliche zu sein. Das ist ja der große Vorteil des Hasses: dass er Trennung unmöglich macht. Der Richter und die Witwe sind im Hass untrennbar aneinander gebunden. Solche Beziehungen sind die Hölle auf Erden. Aber noch schlimmer scheint die Vorstellung der Trennung, des Loslassens zu sein. Das muss man hinzu nehmen, um zu verstehen, weshalb Menschen sich in grausamsten Beziehungen aufhalten.
Von daher kann ich das Gleichnis nur so verstehen: betet ohne Unterlass, damit ihr nicht in einer derartigen Hassbeziehung erstarrt, wie es zwischen Richter und Witwe geschehen ist. Dazu gehört dann auch das vorhin gehörte Evangelium: „Das Reich Gottes ist inwendig in euch!“ Oder auch: „Das Reich Gottes ist mitten unter euch!“
Das Reich Gottes geschieht da, wo Menschen loslassen können von ihrem Hass und lernen, die Wirklichkeit anzunehmen. Es ist ein Problem der Wahrnehmung des Anderen und der Einfühlung in den Anderen. Den Anderen kann „Ich“ erst wahrnehmen, wenn ich irgendwie mich von mir selbst distanzieren kann. Wenn ich den Anderen nicht mehr dafür brauche, meinen Hass und all das Andere Unangenehme, das ich in mir habe, aber bei mir nicht wahr haben will, beim Anderen unter zu bringen.
Ganz konkret heißt das: immer wenn der Ärger über den Anderen in mir hoch kochen will, bete ich: „Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner!“ Oder auch: „Erbarme dich seiner!“ Damit nehme ich meinem Hass die Spitze.
Oder wenn ich meinen Hass auf mein Alt-Werden spüre und meinen Neid auf die Jugend. „Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner!“
Sie werden sehen – es funktioniert. Aber es funktioniert natürlich nur, wenn ich mich von meinem Hass distanzieren will. Solange ich ihn liebe, gibt es gar kein „Dran-Denken“, meinen Hass zu verwandeln. Im Gegenteil: es macht ja auch noch heftige Lust- und Triumphgefühle, dem Anderen eine reinwürgen zu können. Es ihm mal so richtig zeigen zu können, „wo der Bartl den Most holt!“
Anstatt diese Gefühle auszuleben – ihnen Einhalt zu gebieten; anstatt über den Anderen zu triumphieren „unablässig zu beten“: erscheint als ziemlich dämlich.
Aber ein paar so Dämliche findet man immer wieder. Meister Eckehart gehört dazu. „Die wichtigste Zeit ist der Augenblick.“ Und es heißt weiter: „Und der wichtigste Mensch ist der, der dir gerade gegenübersteht. Und das notwendigste Werk, das stets zu üben ist, ist – zu lieben.“
Wobei „lieben“ nicht heißt, dem Anderen (oder sich selbst) alles durchgehen zu lassen und so zu tun, als wäre nichts. Lieben heißt zunächst einmal: ich nehme wahr, ich nehme ernst, ich bin aufmerksam: für das was in mir vorgeht und für das, was ich beim Anderen beobachte. Und wenn ich wahrnehme, dass dies etwas Destruktives ist, dass ein Missbrauch geschieht, dann heißt „lieben“: Einhalt gebieten, Grenzen ziehen. Es kann ein Akt erkennender Liebe sein, sich zu trennen. Wissend: ich tue mir selbst und dem Anderen nichts Gutes, zu allem Ja und Amen zu sagen.
Dass wir in diesem Sinne lieben lernen, dass wir immer tiefer in diese Haltung wahrnehmender Liebe fallen und aus ihr heraus unser Alltag sich gestaltet – darum lasst uns wirklich beten – ohne Unterlass, AMEN.