Predigt am 4. Advent über Jesaja 52,7-10

Liebe Gemeinde,

je älter ich werde, desto stärker wächst in mir die Überzeugung, dass ich viel weniger weiß als früher. Am meisten wusste ich – oder glaubte ich zu wissen – so zwischen 15 und 25. Dann war noch einmal ein Höhepunkt, als ich begann Psychoanalyse zu studieren. Die Arbeit mit meinen Patienten und meine eigenen alltäglichen Erfahrungen, nicht zuletzt mit meinen Kindern, haben mich in vielen durchaus mühsamen Schritten eines Besseren belehrt.

Die größte Herausforderung war (und ist?) für mich dabei einzusehen, dass weder die mir Nahestehenden noch die mir Ferner stehenden so sind, wie ich sie gerne hätte. Wie sie meiner Meinung nach („und ich meine es ja bloß gut!“) sein sollen. Am wenigstens halte ich es aus, wenn ich jemand anderem entgegen komme, und der das nicht einmal zu bemerken scheint. Wenn ich mir Mühe gebe mit dem Kochen, und doch keine Chance haben gegen Dr. Oetkers Fertigpizza. Wenn ich jemand anderem großzügig die Durchfahrt freihalte und – keinerlei dankbare Rückmeldung bekomme.

Wenn ich mich dann ärgere – und ich kann mich da ziemlich ärgern – dann halte ich das zunächst einmal für völlig normal. Übergangen-werden. Übersehen-werden ist ärgerlich. Noch etwas tiefer: übersehen-werden löst Panik aus. Denn: wir sind Säugetiere. Und wir haben alle eine Zeit erlebt, in der zu langes Übersehen-werden mit Vernichtungsängsten verknüpft worden ist.

Anders ausgedrückt: wenn ich lernen soll zu akzeptieren, dass ich alleine in der Welt stehe und dass ich es nicht in Hand habe, auch wenn ich mir die größte Mühe gebe, ob und wie der Andere auf mich reagiert – wenn ich das lernen will, muss ich irgendwie mit meinen alten Vernichtungsängsten lernen umzugehen.

Und genau das ist die Stelle, warum ich Christ bin. Ich durfte und darf erfahren, dass es eine Kraft, eine Macht, eben „Gott“ gibt, der mich in meinem Allein-Sein aushält. Deutlicher noch: je näher ich diesem „Gott“ komme, je ununterscheidbarer es zwischen mir und Gott wird, desto leichter, desto freier, desto freudiger wird es in mir und (Verblüffung!) um mich herum.

Die Botschaft an diesem vierten Adventssonntag handelt von dieser Freude und Leichtigkeit: „ Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich: Freuet euch! Der Herr ist nahe!“ Dies ist das Eingangsportal für heute.

Freuet euch! Der Herr ist nahe“

Wir haben vorhin (als Evangelium) ein Lied gehört, das in poetischer Sprache die „Innen-Ansicht“ dieses Satzes ausdrückt. Das Magnifikat ist das Lied einer Seele, die erlebt: „Der Herr ist nahe!“ Es ist das Lied einer durchlässig gewordenen Seele, die befreit wurde von einem Ich, das den Anderen für die eigene Ich-Sicherheit braucht. Denn das vorhin beschriebene Geschehen: „Ich gebe mir solche Mühe, dann musst du aber auch so sein, wie ich dich haben will“ – ist ja letztlich ein Geschehen, in dem zwei aneinander gefesselt werden.

Diese „Lösung“ der Seele in ihre Freiheit hinein hat zu tun mit dem Sich Lösen von diesem klammernden, zwingenden Ich. Ganz wörtlich übersetzt heißt der Anfang des Magnifikat: „Es erhebt meine Seele Gott, den Herrn“ – und nicht: „Ich erhebe den Herrn“. Welches Ich sollte denn auch in der Lage sein, Gott selbst zu erheben? Luther hat dies erkannt, wenn er den ersten Satz so auslegt: „als wollte Maria sagen: ‚Es schwebt mein Leben samt all meinen Sinnen in Gottes Liebe, Lob und hohen Freuden, dass ich, meiner selbst nicht mächtig, mehr erhoben werde als mich selber erhebe zu Gottes Lob.’“

 

Spüren Sie die Schönheit dieser Worte?

 

In ihnen drückt sich für Maria, und Maria ist ein Bild für „unsere gläubige Seele“ die Bedeutung von Advent aus.

Glücklich, wer so etwas von sich sagen kann. „Meine Seele erhebt den Herrn“ – das ist weder das depressive „ich bin bedrückt und nieder-geschlagen, meine Ängste und Sorgen nagen an meiner Seele“ noch das manisch-euphorische „ich stehe über den Dingen, meine Seele kann fliegen.“

 

Das Erleben der Nähe des Messias drückt sich aus in Einfachheit, Schönheit und Wahrheit. Dies bildet sich auch in dem heute zu predigenden Text ab, einem Wort des Propheten Jesaja (c. 52, 7-10):

JESCHAJAHU

Wie anmutig sind auf den Bergen

die Füße dessen, der (frohe) Botschaft bringt,

der hören lässt: Friede!,

der gute Nachricht bringt,

der hören lässt: Befreiung!

der zu Zion spricht:

Dein Gott trat die Königschaft an!

Stimme deiner Späher,-

sie erheben die Stimme,

sie jubeln vereint,

denn Aug in Aug sehn sie,

wie ER nach Zion zurückkehrt.

Aufjauchzet, jubelt vereint,

ihr Trümmerstätten Jerusalems,

denn ER tröstet sein Volk,

er löst Jerusalem aus.

Entblößt hat ER

den Arm seiner Erheiligung

vor aller Weltstämme Augen,

dass sehn alle Enden der Erde

die Befreiertat unseres Gottes. (M. Buber)

Wie anmutig sind auf den Bergen die Füße dessen, der frohe Botschaft bringt: Frieden!“

Anmutig“ ist ein altes Wort – es bedeutet so etwas wie „Lust erwecken“ auch „Liebreizend“. Luther übersetzt: „Wie lieblich…“

Man sieht es dem Überbringer der Botschaft an – man merkt es an seinem Schritt: er hat eine wirklich frohe Botschaft mitzuteilen: „Friede“! Es ist ein leichter tänzerischer Schritt, nicht der niedergedrückte schleppende Schritt des Denkers oder Grüblers und auch nicht der soldatische Stechschritt der Macht.

Das Lied des Friedens ist weder ein Trauermarsch noch ein Triumphmarsch.

Friede!“

Und damit untrennbar verbunden: „Befreiung“!

Und warum?

Dein Gott trat die Königsherrschaft an.“

Dein Gott – und niemand anders – regiert.

Lass ihn regieren – und du wirst es erleben: Friede – Befreiung – Freude!

Unglaublich, oder?

Was bedeutet das?

Das bedeutet, dass alles „weltliche“ Regieren ein Vorläufiges ist. Wir Menschen können und dürfen das Regiment Gottes nicht ersetzen. Alles was wir können, und das ist zugleich unsere Aufgabe, ist: SEINEN Platz frei zu halten.

Es scheint mir nämlich so zu sein, dass jeder Mensch von seinem inneren „Regiment“, einer inneren ihn leitenden und steuernden Kraft geführt wird.

Bildlich ausgedrückt: jeder von uns hat ein inneres Parlament, in dem diskutiert wird, in dem Entscheidungen getroffen werden, die schließlich im „Außen“ ausgeführt werden. Je unfreier und unfriedlicher wir uns erleben bzw. (was eher der Wirklichkeit entspricht) von unseren Mitmenschen erlebt werden, desto wahrscheinlicher ist es, dass unser inneres Parlament kein demokratisches sondern ein diktatorisches ist. Das heißt, dass es einen Machthaber oder auch eine kleine Gruppe von Mächtigen gibt, denen es nicht um das Wohl des Ganzen, sondern um das Durchsetzen der eigenen Macht geht. Freie Meinungsäußerung, zuhören, sich Gedanken machen, versuchen anders Denkende und Anders-Handelnde zu verstehen – ist nicht erwünscht.

Dies sind die Feinde der „Königsherrschaft Gottes“. Denn sie wissen: wenn Gott selbst die Macht ergreift, sind sie entmachtet, wird ihre Propaganda durchschaut, zerfallen ihre Lügen zu Staub.

Der Herr ist nah!“ heißt also: der Friede ist nah, die Freiheit ist nah! Friede und Freiheit sind so nah, wie es uns Menschen gelingt, uns von unseren inneren totalitären Strukturen befreien zu lassen. „Zu lassen“: wir können uns nicht aktiv befreien – aber wir können aktiv verhindern, uns befreien zu lassen. Das Verhindern hat mit unerträglichen Gefühlen zu tun, die mir das Erkennen der „ganzen Wahrheit“ macht. Es ist nämlich nur die halbe Wahrheit, dass ich der bin, der es mit den Anderen stets gut meint. Die andere Hälfte ist, dass ich auch der bin, der den Anderen mit seinen Bedürfnissen ignoriert, dass ich der bin, der meint zu wissen, was richtig ist, was sich gehört, was gut schmeckt usw.

Friede und Freiheit beginnen da, wo mein Wissen seine Beschränktheit einsieht und sich nicht mehr selbstherrlich absolut setzen muss. Wo mein Ich lernt, seine eigene Endlichkeit und Vorläufigkeit anzuerkennen. Wo es nicht mehr darum geht, dass mein „Ich“ recht hat.

Die große Frage ist, ob mein inneres Regiment ausgerichtet ist auf die eine unauslotbare und unerkennbare Wahrheit dessen, was gerade geschieht.

Damit ändert sich der Blickwinkel radikal.

Was geschieht gerade zwischen uns. Von außen betrachtet (sinnenfällig) scheint es so zu sein: ich rede – Sie hören zu. Die Innen-Ansicht ist eine ganz Andere. Wofür verwende ich meine Worte? Was will ich damit?

Wofür verwenden Sie meine Worte. Was wollen Sie damit? Kommen wir über diese Worte in Beziehung? Und wenn ja: in welche? Ich hoffe, dass sich meine Worte für weiteres Denken, für Nach-Denken eignen. Ich will ihr Denken anregen – nicht will ich Sie von irgend etwas überzeugen. Und ich will mir Mühe geben, nicht zu enttäuscht zu sein, wenn Sie meine Gedanken nicht bekömmlich finden. Wenn Sie lieber zur vertrauten Fertig-Pizza greifen. Das kann ich dann halt auch nicht ändern.

Indem ich überzeugen will, stehe ich in der Gefahr, mich auf den Platz zu setzen, der IHM, der Gott allein zusteht. Damit entkräfte ich SEINE Herrschaft. Die Königsherrschaft Gottes wird erst da wirksam und glaubwürdig, wo Freiheit entsteht. Freiheit für Ihr anders-denken und anders-sein. Wo Raum entsteht für unser Verschieden-Sein. Wo unser Verschieden-Sein nicht nur geduldet, sondern willkommen geheißen wird.

Unser Text handelt auch von der Rückkehr Gottes „nach Hause“. Sein zuhause ist im Alten Testament die Stadt Jerusalem: „….wie ER nach Zion zurückkehrt“. Übertragen bedeutet das die Rückkehr Gottes in mein Leben. Seine Rückkehr als Herrscher meines Lebens führt zur Entmachtung der Tyrannei meines allmächtigen und allwissenden Ichs. So ist der härteste Gegner Gottes nicht im außen bei den Anders- oder Un-Gläubigen zu suchen und zu finden, sondern im eigenen Inneren. Mein eigenes inneres Regime hat Gott ins Exil gezwungen.

Liebe Gemeinde,

Freude, Friede und Freiheit entstehen und geschehen in der Anerkennung des eigenen Allein-Seins auf dieser Welt. Ein Allein-Sein, das zwar einsam aussieht, sich aber nicht einsam anfühlt. Denn in diesem Allein-Sein wird der Messias geboren. Maria konnte vom Heiligen Geist nur so befruchtet werden, indem sie sich leer gemacht hat. Das bedeutet ihre Jungfräulichkeit: Gott als leeres Gefäß zur Verfügung zu stehen. Diese Leere mag unser Ich ganz und gar nicht. Je näher wir Gott „an uns heran lassen“, desto mehr lösen sich unsere vertrauten Denkmuster, mit denen unser Gehirn angefüllt ist, auf. Am Ende stehen wir mit leeren Händen da, befinden uns, wie der Heilige Johannes vom Kreuz immer wieder betont, in einer dunklen Nacht.

Weihnachten ist das Fest dieser dunklen Nacht.

ich wünsche uns allen einen vierten Adventssonntag voller Freude und ein gesegnetes Weihnachten angefüllt mit Frieden und Freiheit, in dem wir die Dunkelheit Gottes aushalten anstatt uns von blendenden Trugbildern verführen zu lassen. AMEN.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all‘ unsere menschliche Vernunft, und die Freude Gottes, die anmutiger ist als all‘ unsere Schönheit und die Freiheit Gottes, die ganzheitlicher ist als all‘ unser Streben nach Befreiung – bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, AMEN.

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