Predigt am Sonntag Sexagesimae 2005

Predigt über Markus 4,26-29 am Sonntag Sexagesimae 2005 in Pullach

Von Lothar Malkwitz

Liebe Gemeinde,

 

ich möchte Sie heute am Beginn meiner Predigt um etwas Ungewöhnliches bitten: vergessen Sie alles, was Sie über Jesus gehört und gelernt haben. Vergessen Sie, dass heute Bibelsonntag ist. Vergessen Sie, dass es überhaupt eine Bibel gibt. Vergessen Sie, dass wir hier in der Kirche sind und Gottesdienst feiern.

 

Vergessen Sie Ihre Wünsche an meine Predigt. Vergessen Sie Ihre Wünsche an Gott. Vergessen Sie Ihre Vorstellung von Gott! Vergessen Sie Ihre Erwartungen, dass Sie jetzt etwas kriegen. Ein Wort zur Erbauung oder so was.

 

Oder anders ausgedrückt: ich bitte Sie, machen Sie sich leer. Lassen Sie los von dem Gewicht Ihrer Erinnerungen an Früheres, von dem Gewicht Ihrer Wünsche für Zukünftiges und von Ihrer Hoffnung auf Verstehen.

Gar nicht so leicht – oder?

Und natürlich gefährlich. Warum will der das von uns? Um uns manipulieren zu können? Dass er jetzt in unsere Leere seine Worte hineinsetzen kann? Der ist doch auch noch Psychotherapeut. Leben die nicht davon, ihren Patienten was einzureden?

 

Misstrauen ist angesagt. Zurecht. Aus dem Misstrauen erwächst die Vorsicht – was will der von mir?

 

Nichts – außer dass Sie die Freundlichkeit haben mir weiter zu zuhören.-

Aber Sie haben doch gesagt, ich soll das alles vergessen: meine Erinnerungen, meine Wünsche, mein Verstehen.

Stimmt. Aber nicht ich will das von Ihnen, sondern ich möchte Ihnen anbieten, sich in eine bestimmte Art des Erlebens zu versetzen. Ein Erleben, bei dem die alten Sicherheiten des Wissens und Verstehens aufgegeben sind.

 

Ja und dann?

Irgendwann muss doch jetzt der Predigttext kommen? Will er uns darauf vorbereiten?

 

Ich möchte Sie nicht auf einen Text vorbereiten, sondern versuchen mit Ihnen gemeinsam etwas zu erleben. Etwas was sich nur über den Weg des sich Leer-Machens erleben lässt.

 

Ich gebe diesem etwas jetzt noch keinen Namen, weil jede Benennung einengt.

 

Stattdessen möchte ich Ihnen eine Geschichte erzählen.

 

Die geht so: „Mit dem Reiche Gottes ist es so, wie wenn ein Mann den Samen auf die Erde streut und dann schlafen geht und wieder aufsteht, bei  Nacht und bei Tage, und der Samen geht auf und wächst empor, ohne dass er selbst davon weiß. Von selbst bringt die Erde Frucht, erst den Halm, dann die Ähre, und endlich das volle Korn in der Ähre. Sobald aber die Frucht es zulässt, legt er die Sichel an, denn die Ernte ist da.“

 

Diese Geschichte stammt nicht von mir, sondern von einem jüdischen Wanderprediger. Er zog vor vielen Jahren durch die Lande des heutigen Palästinas und erzählte Geschichten. Er erzählte nicht von sich, sondern von dem altehrwürdigen Gott, den seine Zeitgenossen Jahwe nannten. Jahwe das war Geheimsprache – das hieß soviel wie: der, dessen Name nicht genannt werden darf (Harry Potter lässt grüßen) nur dieser Gott galt nicht als eine finstere Macht, kein Lord Voldemort, sondern der allmächtige, Schöpfer usw. Dieser jüdische Rabbi hat diesen Gott „abba“ genannt –  das ist Kleinkindersprache, „Papa“. Und dazu passte seine Botschaft: habt Vertrauen, wurde er nicht müde zu sagen, Vertrauen zu diesem „abba“ – es ist doch unser aller „Papa“: Sein bekanntestes Gebet geht mit diesem „Papa“ an: „Vater unser!“ Dafür wurde er verlacht. Dieser allmächtige Gott ist doch kein Papa – das ist vielleicht kindisch – sagten die einen. Der ist ja größenwahnsinnig, sagten die anderen. Der tut ja so, als hätte er eine ganz besondere Beziehung zu unserem Gott, gerade so, als wäre er sein Sohn – sagten die dritten. Diese Stimmen missverstanden unseren jüdischen Lehrer: es gibt keine Stelle, an der er sagt: „Ich bin der Sohn Gottes“ – alle Stellen im NT (Johannes: „Ich bin der Weg etc. wurden ihm nachträglich in den Mund gelegt.) Auch in der Geschichte, die ich Ihnen vorhin vorlas, geht es nicht um den, der diese Geschichte erzählt. Das ist ein wichtiges Zeichen dafür, dass diese Geschichte wirklich von diesem Lehrer stammt also historisch ist. Es geht auch nicht einfach um Gott, sondern um das Reich Gottes. Und was da über das Reich Gottes gesagt wird, ist weder kindisch noch größenwahnsinnig, sondern sehr nüchtern. Das Reich Gottes wird verglichen (deshalb hat man diesen Text ein Gleichnis genannt) mit – ja womit eigentlich?

In moderneren Übersetzungen heißt unsere Geschichte „Das Gleichnis vom Wachsen der Saat, oder von der selbstwachsenden Saat“. In älteren Lutherbibeln kann man auch „Gleichnis vom geduldigen Landmann“ lesen. Wie dem auch sei – es geht um Wachsen. Unsere Geschichte ist eine Wachstumsgeschichte. Wachstum – und zwar von etwas Lebendigem.

Wachsen. Wie geht das eigentlich? Unser Geschichtenerzähler sagt: Wachsen geht von selbst, ohne dass der Bauer etwas davon mitbekommt geht der Same auf und ein Halm wächst empor.

 

Lächerlich – wendet da unsere fortschrittliche Vernunft ein: mag sein vor 2000 Jahren, die hatten keine Ahnung: was eine Zelle ist, wie Zellteilung geht, dass es eine DNA gibt, die man sogar manipulieren kann. Dass man düngen muss, Schädlinge bekämpfen muss usw. Von wegen selbst wachsende Saat!

Stimmt das? Haben wir mehr Ahnung vom Wachstum als die Menschen vor 2000 Jahren?

 

 

Nehmen wir z.B. unsere Lebenserwartung: vor kurzem hörte ich von einer Statistik, dass eine heute 65jährige Frau nach statistischer Wahrscheinlichkeit 100 Jahre alt werden wird – ein 65jähriger Mann wird 98 Jahre alt.

Ist das nicht Wachstum? Sind wir nicht Meister im Vergrößern, Verbreitern, Verlängern, Erhöhen, Vermehren, Expandieren …?

Aber warum vergrößert sich das Reich Gottes nicht – warum hören die Kriege nicht auf, warum hören die Naturkatastrophen nicht auf, warum hört das Leiden nicht auf, warum immer diese Schmerzen?

 

Ganz einfach: weil das Reich Gottes nicht das Paradies ist.

 

Und weil die Wachstumsregeln des Reiches Gottes nichts mit Mengenwachstum zu tun haben. Und das ist zugleich das Problem: Mengenwachstum ist quantitatives Wachstum: und das ist messbar und sichtbar. Das Reich-Gottes-Wachstum ist qualitatives Wachstum – und deshalb unsichtbar. Was ich sehen kann und messen kann ist das Gewachsene – der Halm des Getreides, die Länge eines Kindes – aber nicht das Wachstum selber. Mengenwachstum ist die Vermehrung desselben. Ob ich einen oder 10 Äpfel in einem Korb habe – das ändert an den Äpfeln gar nichts. Es bleibt bei der 1. Mathematisch ausgedrückt geht es um das Problem, wie sich Veränderung abbilden lässt. Qualitatives Wachstum ist Transformation: wie komme ich von der 1 zu 2 zur 3 zur 4? Differential- und Integralrechnung beschäftigen sich mit dieser Fragestellung und ich denke auch die Quantenphysik, von der ich leider viel zu wenig verstehe.

 

Jesus – Sie wissen es längst, von ihm stammt das Gleichnis vom Wachsen – hatte eine tiefe Intuition für die Wachstumsgesetze des Reiches Gottes: Vertrauen, Geduld und Todesangst sind die wesentlichen Elemente seiner Lehre vom Wachstum des Reiches Gottes. Und wie hängen diese Elemente miteinander zusammen?

Nun – Jesus sagt: Indem ihr anfangt zu vertrauen beginnt auch schon das Reich Gottes. Ihr müsst viel weniger „machen und tun“ als ihr meint. Statt „machen und tun“ ist Geduld angesagt: die Geduld, die das Nicht-machen-Können aushält. Und nicht machen können heißt nicht kontrollieren können. Wenn ich jeden Tag das Samenkorn, das ich eingepflanzt habe, ausbuddele, um es zu kontrollieren, störe ich sein natürliches Wachstum – im schlimmsten Fall wird es absterben. Hinter dem alltäglichen „ich meine es doch nur gut mit dir“ steckt oft ein ungeduldiges: „Ich halte es nicht aus, wenn du deinen eigenen Weg gehst.“ „Bitte entwickle dich so, wie ich dich brauchen kann!“ Die weniger liebevolle Variante davon lautet: „Solange du deine Füße unter meinem Tisch hast …“ Misstrauen, Angst und Ungeduld führen zur Macht. Macht aber verhindert natürliches Wachstum – es geht nicht mehr um Wachsen, sondern um unterwerfen.

 

Aber warum gibt es so wenig Vertrauen in dieser Welt – warum spielen Kontrolle und Sicherheit und Macht eine so große Rolle in unserer Welt?

 

Weil der Weg in das Reich des Vertrauens über den Tod führt. Das Getreidekorn muss absterben: damit geht es los und nur damit geht es los!

 

Lukas hat eine andere Variante des Gleichnisses überliefert: das Korn das auf den Weg fällt und das auf den Felsen fällt: meidet die Finsternis der Erde, des Todes. So bleibt es unfruchtbar.

 

An der Stelle war Jesus unbeirrt – und das ist sein Messias-Sein, seine messianische Idee: der Weg in das Reich Gottes, in das Reich des Vertrauens führt durch die Todesangst hindurch. Etwas von dieser Todesangst können Sie erleben, wenn Sie sich in der Tiefe auf das einlassen, wovon ich am Anfang sprach: auf das Vergessen. Das Sterben des Getreidekorns ist das Aufgeben von allem, was es hat und ist. Ist ein sich hineinbegeben in das Fremde, das Andere, das Unbekannte – im Bild: die Erde. Nur wenn sich Erde und Korn wechselseitig befruchten entsteht Neues – tausendfaches Leben!

Nun sind wir alle keine Getreidekörner – sondern Lebewesen, die fühlen und spüren. Und das macht die Sache so schwierig. Bei uns löst das Sich-Hinein-Begeben in das Fremde, Unbekannte Todesängste aus, die weiteres Wachstum blockieren können.

 

Wer sich wirklich auf dieses Absterben einlässt – der steht in der Finsternis. Und wer schon einmal völlige Finsternis erlebt hat – so dass man nicht die eigene Hand vor Augen sieht, der weiß, wie bedrohlich dieses Gefühl ist. Und doch ist dieses Gefühl nötig für den Ruf

„Dein Wort sei unseres Fußes Leuchte“!

Das Licht, das in meine Gottesfinsternis hineinleuchtet – das ist das wirklich rettende Licht, das gänzlich unerwartete, völlig neue Licht, das alles in neuem Licht erscheinen lässt. Im Gleichnis: das Korn hat ausgetrieben, es spitzt aus der Erde heraus – und entdeckt die Sonne. Zu diesem Licht ist es gelangt, weil es vertraut hat in der Dunkelheit der Mutter Erde – vertraut hat, dass es da jemand oder etwas gibt – das sein Wachstum will. Und dieses Dritte, diese neue dritte Kraft ist nichts anderes als das Wort.

Das Wort Gottes ist es, das Vertrauen stiftet, das das Reich Gottes zum Reich des Vertrauens macht. Im Reiche Gottes wird miteinander gesprochen – in gegenseitigem Respekt und völliger Gleichwertigkeit. Dieses Reich ist nicht von dieser Welt und kann nicht von dieser Welt sein. Es lässt sich nicht materialisieren. Aber es ragt in diese Welt hinein – und es steht jedem Menschen frei, sich immer wieder auf die Suche nach diesem Reich zu machen.

Die Ausrüstung für den langen Weg in dieses Reich ist:

 

Vertrauen, Geduld und sich von den eigenen Ängsten nicht blockieren lassen.

Der Kompass aber ist das Wort Gottes: diesen Kompass zu gebrauchen heißt, sich immer wieder neu auf das Fremde, Unbekannte, Unverstandene einzulassen, immer wieder neu unsere Todesangst zu besiegen.

 

Allerdings haben wir einen Weggenossen und Vorläufer.

 

Gebe Gott, dass dieser Christus in uns lebendig werde und bleibe, uneingeplant und unkontrolliert dem Neuen zugewandt – auf dass wir wachsen und aufgehen und Frucht bilden in unserer natürliche Bestimmung hinein in das Reich Gottes.

AMEN.

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