Predigt über Johannes 4, 19-26 am Israelsonntag 2013 in der Apostelkirche Solln
Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und Christus Jesus unserem Herrn, AMEN.
„Meine Lieben, es tut mir leid dies sagen zu müssen, aber niemand hat bis jetzt begriffen, dass Ödipus nicht von der Aufdeckung der Wahrheit, sondern von ihrer Vertuschung handelt. Alle wissen von Anfang, wer Ödipus ist, und alle verschließen sich davor. Genau wie bei Watergate. Genau wie durch die ganze Geschichte hindurch – die Lüge ist es, worauf sich die Gesellschaften gründen.“
Dieses außergewöhnliche Zitat, liebe Gemeinde, möchte ich meiner heutigen Predigt am Israelsonntag 2013 voranstellen. Es stammt aus dem Jahr 1974, von einem nicht sehr bekannten Theaterdirektor namens Pilikian.
Und ich möchte dieses Zitat gegenüberstellen, einem anderen außergewöhnlichen Zitat, das zugleich den Höhepunkt des heutigen Predigttextes bildet: „Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.“ Es stammt aus dem Jahr 110 n. Chr. (ungefähr) von einem weltberühmten Religionsgründer, namens Jesus (aus Nazareth).
Und ich möchte eine Verbindung zwischen den beiden Zitaten herstellen: weder Gott noch die Wahrheit bedürfen der Überzeugungsarbeit, oder gar der Mission. Sie gelten aus sich heraus. Ihre Existenz gilt unabhängig davon, ob irgend jemand Interesse daran hat, sie zu erkennen. Die Täuschung und Lüge hingegen leben vom Subjekt des Lügners: ohne ihn zerfallen sie zu Staub.
Das heißt: während der Lügner sein Subjekt in den Mittelpunkt stellt, stellt sich Wahrheit von selbst dar. Oder anders: Wahrheit kann – bestenfalls – gefunden werden, sie ist gewissermaßen immer schon „da“. Lüge hingegen wird gemacht, erzeugt, hergestellt. Der Lügner verfolgt mit seiner Lüge eine (verborgene) Absicht. Er hält nicht aus, dass „die Wahrheit (von selbst) ans Licht kommt“. Ego-Zentrik ist die gegenläufige Bewegung zum Suchen von Wahrheit.
Nun hat Freud zurecht darauf hingewiesen, dass der Mythos von Ödipus Ausdruck menschlich-seelischer Entwicklung schlechthin ist. Er drückt den mächtigen Drang aus, sich nicht an Grenzen zu halten: da sind zunächst einmal die Eltern, die aus Angst und Panik ihr eigenes Babys dem Tode preis geben, anstatt es zu pflegen und um es sich zu kümmern. Aus diesem Baby wird ein Mann, der keine Ahnung hat, wer er ist. Er ist in Täuschung aufgewachsen, da seine Adoptiveltern ihm in bester Absicht „weiß machten“, sie seien seine wirklichen Eltern. So nicht auf das Leben vorbereitet, durchbricht der junge erwachsene Ödipus alle Grenzen, ermordet seinen Vater, heiratet seine Mutter. So dringt der bei seiner Geburt gewaltsam Ausgeschlossene ebenso gewaltsam in die Beziehung seiner wirklichen Eltern ein, setzt sich selbst gewaltsam an die Stelle des Vaters.
Der heutige Israelsonntag ist ein Gedenktag: indem wir des Leidens gedenken, das dem Volk Israel (gerade auch von Christen) zugefügt worden ist, können wir auch bedenken, dass dieses Leiden viel damit zu tun hat, dass Menschen nicht in der Lage waren (und sind), das Sein des Anderen, seine Beziehung zu Gott und der Wahrheit zu achten und zu respektieren. An die Stelle der gemeinsamen Für-Sorge und der gemeinsamen Suche nach Wahrheit, nach Gott tritt ein gewaltsames „entweder du oder ich“. Dahinter steht Verunsicherung. Solange ich panische Angst davor habe, die freie Entwicklung des Anderen wird mich vernichten (und eben dies hatte das Orakel den Eltern von Ödipus vorhergesagt) bin ich gezwungen, in entweder-du-oder-ich zu denken. Entweder du oder ich bedeutet: es darf nichts zwischen dir und mir sein, entweder ich verschmelze mit dir, oder du mit mir. Entweder du bemächtigst dich meiner, oder ich bemächtige mich deiner. Ein Drittes gibt es nicht – genauer: das Dritte ist vernichtet!
Unsere christliche Religion eignet sich sehr gut für diese Art von Bemächtigung über Andersdenkende, da wir ja der Überzeugung sind, unser Jesus ist wirklich Gottes Sohn. In ihm – und in niemand anderem – ist Gott Mensch geworden. Unser heutiger Predigttext aus dem Johannesevangelium eignet sich ausgezeichnet, darüber nachzudenken, was das eigentlich bedeutet: wir bekennen in Jesus den Messias.
Der Text ist ein Ausschnitt aus der Begegnung Jesu mit einer Samariterin, die sich an einem Brunnen (dem Jakobs-Brunnen) ereignet, wo Jesus, „müde von der Reise“, rastet, während seine Jünger in die Stadt gegangen sind, um Essen zu besorgen. Jesus bittet die Frau, ihm zu trinken zu geben, worüber sich diese sehr wundert, da üblicherweise ein Jude mit Samaritern nichts zu tun haben wollte. Jesus antwortet der erstaunten Frau: „Wenn du erkenntest die Gabe Gottes und wer der ist, der zu dir sagt: gib mir zu trinken!, du bätest ihn und er gäbe dir lebendiges Wasser“ (4,10).
Hier ist die erste Gefahr für Täuschung. Der, der „lebendiges Wasser“ geben kann, muss eine Verwandlung durchlebt haben, ansonsten bleiben wir in einem gefährlich konkreten Denken stecken. Ansonsten entsteht das üble Argument: Die Juden waren zu dumm, um zu erkennen, dass der Messias unter ihnen ist. Noch schlimmer: aus diesem Konkretismus heraus entsteht die unselige Idee, selber als Stellvertreter dieses allmächtigen Messias hier schalten und walten zu können. Dies ist eine Verblendung, unter der die Kirche leidet, seit es sie gibt. Wenn das Zentrum unser christlichen Religion lautet: „Gott ist Mensch geworden“, so heißt das keineswegs: „Wir sind Gott!“ Unsere Aufgabe ist es vielmehr, Menschen zu werden, für die das Adjektiv „menschlich“ oder „human“ eine Aussagekraft hat, die in Richtung Erhaltung, Bewahrung, Zusammenarbeit und Liebe geht, und nicht in Richtung Überheblichkeit und Zerstörung.
Und diese Zusammenarbeit gilt natürlich ganz besonders innerhalb der verschiedenen Konfessionen.
Doch schauen wir, wie sich das Gespräch am Brunnen weiter entwickelt:
„Die Frau spricht zu ihm: Herr, ich sehe, du bist ein Prophet“ (In Klammer: Jesus hatte ihr auf den Kopf zu gesagt, dass sie in moralisch fragwürdigen Beziehungen mit Männern lebte und lebt, was die Frau offenbar beeindruckte.) „Unsere Väter haben (Gott) auf diesem Berge angebetet, und ihr sagt, in Jerusalem sei die Stätte, wo man anbeten soll. Jesus spricht zu ihr: Glaube mir, Frau, es kommt die Zeit, dass ihr weder auf diesem Berge noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet. Ihr wisst nicht, was ihr anbetet; wir wissen aber, was wir anbeten; denn das Heil kommt von den Juden. Aber es kommt die Zeit und ist schon jetzt, in der die wahren Anbeter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn auch der Vater will solche Anbeter haben. Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.“
Bemerkenswert am Verlauf dieses Gespräches ist die Bewegung vom Konkreten hin zu etwas „Geistig-Mentalem“. Es ist ein nutzloser Streit, ob Gott auf einem Berg oder in Jerusalem angebetet werden will – viel wichtiger ist die Haltung, in der das Gebet geschieht: im Geist und in der Wahrheit!
Es ist ein nutzloser Streit, ob Jesus „der Messias“ ist, ob Mohammed der einzige wahrhafte Prophet Gottes ist, oder ob der Messias erst kommen wird. Es ist natürlich auch ein gefährlicher Satz, zu sagen: „das Heil kommt von den Juden“. Das „Heil“ kommt von den Juden und von den Christen, von den Moslems und den Hindus, von den Buddhisten und den Taoisten, von den Inkas und den Indianern … das Heil kommt von den Menschen, denen es nicht mehr wichtig ist, ob von ihnen das Heil kommt. Denen es allein um eine Haltung geht, um eine Gebets-Haltung, die in unserem Text so genannt wird: Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.
Und da wir allesamt Menschen sind, die mit einer konkreten Sprache in einer konkreten Kultur aufgewachsen sind, drücken wir diese Gebets-Haltung in unserer Mutter-Sprache aus. Das ist völlig in Ordnung, solange wir dies im Respekt und in der Achtung für die Fülle der Verschiedenheit der religiösen Muttersprachen tun.
In dieser Haltung und nur in dieser Haltung kann ich das Ende unseres Textes lesen: „Spricht die Frau zu ihm: Ich weiß, dass der Messias kommt, der da Christus heißt. Wenn dieser kommt, wird er uns alles verkündigen.“ Jesus spricht zu ihr: Ich bin’s, der mit dir redet.“ Natürlich ist dieses „Ich bin’s“ eine Anspielung auf die berühmte Offenbarung Jahwes im Dornbusch: „Ich bin, der ich bin.“ Natürlich öffnet diese Stelle alle Schleusen für Grandiosität, Überheblichkeit und Allmacht. Aber nur solange, wie wir hierfür verführbar sind. Wenn wir mit unserem Messias gehen und seine Worte wirklich ernst nehmen, dann müssen wir auch ihn selbst hineinverwandeln, „hineinbilden“ in den Satz: „Gott ist Geist und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.“ Wenn wir an diesem Jesus aus Fleisch und Blut festhalten als wäre das unser Besitz, unsere Geheimkampfwaffe, mit der wir unseren Brüdern und Schwestern im Glauben überlegen sind, die uns unbesiegbar macht, haben wir gerade die Botschaft dieses Jesus aus Nazareth verfehlt. Nicht Gewalt, nicht Überheblichkeit ist das Zentrum seiner Rede, sondern die Bereitschaft, sich der Wahrheit dessen, was ist, hinzugeben. Und dazu bedarf es einer Fähigkeit, von deren Bedeutung nahezu jede Geschichte über Jesus und seine Predigten handeln: die Fähigkeit zur Liebe zum Anderen, zu dem mir Fremden. Es bedarf dieser Liebe, um den Schmerz zu ertragen, in der eigenen Wahrheit des So-Seins und So-geworden-Seins gesehen zu werden. In dieser Liebe geschieht echte Verwandlung, die immer auch schmerzhaft und traurig ist.
Und in dieser Liebe wird mir die Kraft geschenkt, meinen Nächsten in seinem So-Sein zu wahrzunehmen und zu respektieren.
In der Geschichte von Ödipus fehlt die Kraft der Liebe. Es ist nicht Liebe, aus der heraus er seine Mutter heiratet, sondern der Lohn seiner Intelligenz, mit der er das Rätsel der Sphinx löste. Tragische Ironie: Abstakt weiß Ödipus, wer der Mensch ist – auf sich und sein Leben angewandt, hat er keine Ahnung davon.
Liebe Gemeinde,
es ist die Kraft der Liebe, die diesen konkreten Jesus in einen „Christus des Glaubens“ verwandelt. Gerade die Liebe zum Anders-Sein des Anderen schenkt mir die Kraft des Loslassens von meiner und seiner Konkretheit, von dem, wie der Andere für mich sein muss, womit er mich befriedigen muss. Erst über die Liebe entsteht Raum zwischen mir und dem Anderen, kann ich mich von meinem Entweder-du-oder-ich-Denken lösen. Diese Lösung, dieses Loslassen, fühlt sich an wie ein Sterben. Und es stimmt auch: Jesus muss sterben dürfen, damit ein Christus aufersteht, der als Geist (bei Johannes ist das der „Tröster“) unter uns wirkt. Und dieser Geist ist ein Frei-Geist („er weht, wo er will“), der sich mit all den Menschen verbindet und verbündet, die sich ernsthaft und liebevoll um Wahrhaftigkeit bemühen und die heftigen Gefühle von Verwirrung und Sterben ertragen. Für diesen „Geist der Wahrheit“ ist die Konfessionalität eines Menschen von untergeordneter Bedeutung. Die Gegenbewegung zu diesem Geschehen ist unsere Angst: es ist nackte Panik, geschürt durch das Orakel, die Ödipus’ Eltern dazu verführt, ihn auszusetzen. Es ist nackte Panik, aus der heraus die berühmte „self fullfilling prophecy” ihre Kraft bezieht. Es ist nackte Panik, aus der heraus ich dem Anderen meine Anschauungen aufzwinge oder mich nötigen lasse, ihm gleich zu werden.
Ich bin im übrigen überzeugt davon, dass wir am Ende unseres Lebens nicht von Gott gefragt werden, welcher Religionsgemeinschaft wir angehörten, sondern: ob wir ein Leben geführt haben, das dem Prädikat entspricht, wozu wir als Lebewesen geschaffen und bestimmt sind: ob wir Menschen waren, die versucht haben, Menschlichkeit – lateinisch: Humanität in diese Welt zu bringen. Und dazu gehört eine Ahnung davon, wer ich bin und wozu der liebe Gott mich in diese große Welt hineingestellt hat. AMEN.
Und die Liebe Gottes, die höher ist als all’ unser menschliches Denken und Predigen, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn, AMEN.