Predigt am 3. Advent 2011 über Römer 15, 4-13 in der Jakobuskirche Pullach
Pfr. Dr. Lothar Malkwitz
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen, AMEN.
Liebe Gemeinde,
diese Predigt, die ich Ihnen heute halten möchte, ist weitgehend eine Kinderpredigt. Sie ist geschrieben für alle die Kinder, die von früh an das Gefühl hatten, dass „irgend etwas nicht stimmt“. Und die dieses Gefühl immer wieder verworfen haben, weil Ihnen von allen Seiten, und besonders natürlich von den Großen, die es ja eigentlich wissen müssen, eingeredet worden ist, dass schon alles in Ordnung sei. Kinder haben ein sehr feines Gespür dafür, dass etwas nicht stimmt. Und suchen natürlich nach Anhaltspunkten für ihr Gefühl. Wenn ihnen dann gesagt wird, „nein, nein, das bildest du dir bloß ein“, sind sie verwirrt. Hinzu kommt, dass oft (jedenfalls bei uns) die materielle Versorgung funktioniert. Nicht die materielle Nahrung ist das Problem, sondern die emotionale. Schlimmer noch: oft wird die materielle Nahrung dafür verwendet, das Kind zu betäuben. Dass es unter keinen Umständen spürt, was es „nüchtern und unbetäubt“ zu spüren gäbe: dass man gar nicht so willkommen ist, wie einem immer vorgemacht wird; dass man vielleicht sogar falsch ist, weil man nicht der ersehnte Junge, das ersehnte Mädchen ist. Dass man vielleicht als Klotz am Bein der Eltern erlebt wird, weil man eine Karrierebremse ist. Je nach Charakter und Möglichkeiten formen sich hieraus die sogenannten bösen und die sogenannten braven Kinder. Den braven Kindern gelingt es super, sich an die Erwartungen und Ansprüche, die an sie gerichtet sind, anzupassen, sie zu erfüllen. Als Erwachsene leben sie davon, gut zu sein, Karriere zu machen, Status zu bekommen. Solange dies gelingt, haben sie keine Probleme. Die bösen Kinder heißen heute schwierige Kinder, haben ADS, bekommen Medikamente zur Ruhigstellung; als Erwachsene tun sich mit allem, was ihnen entgegenkommt, schwer, leben stark davon, nicht zu funktionieren, sich zu verweigern.
Ich vermute, dass wir hier, in der Kirche, eher eine Gemeinschaft der ehemals braven Kinder sind.
Aber wir sollten die ehemals braven und die ehemals bösen Kinder nicht auseinander dividieren: das ist nämlich auch so eine Erwachseneneigenart, zu bewerten: und brav heißt dann, du machst mir keine Probleme und böse heißt, immer habe ich Scherereien mit dir. Sie merken: die Beurteilung in brav und böse ist ausgesprochen egozentrisch. Die Bequemlichkeit meines Egos steht im Zentrum. Oder anders ausgedrückt: je mehr mein ICH darauf angewiesen ist, dass der andere so funktioniert, wie ICH ihn brauche, desto mehr muss ich die Wirklichkeit aufteilen in eine für mich erträgliche und eine für mich unerträgliche. Und wiederhole damit das in meiner Kindheit erlebte: wo die Großen mir vorgelebt haben, was alles an mir unerträglich ist: nämlich anders zu sein als erwünscht.
Liebe Gemeinde,
vielleicht denken Sie sich jetzt: „Themaverfehlung“: diese Einleitung passt doch nicht zu einer Predigt. Wo bleibt die Verkündigung des Evangeliums? Missbraucht da ein Therapeut die Kanzel? Hier soll das Evangelium verkündigt werden, dass Gott in Christus Mensch geworden ist und in Christus uns erlöst hat! Bei mir ist es so: ich kann nur ein Evangelium verkündigen, das mir einleuchtet. Bei dem ich etwas spüre. Das für mich alltäglich stimmt. Das alltagstauglich ist. Deshalb diese Einleitung. Diese Einleitung zu einem Ausschnitt aus dem Römerbrief von Paulus, der zu adventlicher Besinnung einlädt. Da er ein wenig kompliziert ist, will ich ihn Satz für Satz mit Ihnen durchgehen – und schauen, ob er Hilfestellungen anbietet und zwar sowohl für die braven, wie auch für die bösen Kinder. (In Klammern: Paulus spricht auch öfters von Kindern: nämlich von den „Kindern Gottes“, die zu denen wir durch die Taufe geworden sind.)
„… was zuvor geschrieben ist, das ist uns zur Lehre geschrieben, damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift Hoffnung haben.“ (Röm 15,4)
Das „zuvor Geschriebene“ sind für Paulus natürlich Schriften, die wir im Alten Testament finden.
Das „zuvor Geschriebene“ ist auch ein Hinweis darauf, dass es eine Zeit vor uns gab. Dass das Neue nicht vom Himmel fällt, sondern eingebettet ist in einem Rahmen. Einem Rahmen des Her-Kommens. Es ist gut und notwendig für ein orientiertes Leben, eine Ahnung zu haben, wo man herkommt. Die eigene Abstammung: sowohl die leibliche als auch die geistige. Das zuvor Geschriebene: Wenn man weiß, wo man herkommt, hat man es leichter zu erkennen, wer man geworden ist. Wo die Quellen des eigenen Werdegangs liegen. Und dass wir allesamt aus einer Verbindung heraus entstanden sind. Zwar Individuen seiend – gibt es uns nur in der innigen Verbindung einer Samen- und einer Eizelle. Zwar Individuen seiend sind wir von vorne herein etwas Drittes, nämlich eben diese Verbindung unseres Vaters und unserer Mutter. Wir können uns nicht selbst erschaffen. Und wir können uns auch keine anderen Eltern geben als die, die wir hatten. Die uns unser Leben schenkten.
Das „zuvor Geschriebene“ ist uns zur „Lehre“ geschrieben, sagt Paulus: wir können (könnten) lernen aus dem vielen, was Menschen „vor uns“ nieder geschrieben haben. Wir können lernen, wenn wir aushalten, dass wir weder die Welt noch uns selbst neu erfinden können – und auch nicht neu erfinden müssen. Dazu gehört freilich, dass wir uns mit Respekt dem materiellen wie geistigen Erbe unserer Mütter und Väter annähern. „Respekt“ heißt ja wörtlich übersetzt „Rück-Blick“ (re-spicere). Der Rück-Blick ist der Respekt vor dem Vergangenen, ist der Respekt vor unserem gelebten Leben, ist der Respekt vor dem Leben unserer Eltern. Der Respekt vor dem Vergangenen ist leicht, wenn ich das Vergangene wertschätzen kann: wie z.B. Felix Mendelssohn-Bartholdy, der die Musik Bachs wieder-entdeckte. Seinen tiefen Respekt vor ihm drückte er dadurch aus, dass er die Werke von Bach aufgeführt hat. Und damit erweckte er die Musik von Bach zu neuem Leben.
Schwieriger ist es natürlich, wenn man keinen wirklichen Respekt vor dem Vergangenen empfinden kann. Das uns am naheliegendste Vergangene ist die eigene Kindheit. Viele sagen: daran möchte ich nicht mehr erinnert werden. Was vorbei ist, ist vorbei. Andere klammern sich an das Schöne fest, färben Vergangenes schön. Ich kann mich noch gut erinnern, wie mir – als ich ein Kind war – mein Vater aus dem II. Weltkrieg erzählte: das klang wie ein spannender Abenteuerroman mit meinem Vater als dem Helden – und alles Elend, alle Verzweiflung waren eliminiert.
Für Paulus sind es die Schriften, die Geduld und Trost spenden – damit bezieht er sich natürlich auch auf seine eigene Vergangenheit. Paulus kann sich den „Respekt“ seiner Herkunft erhalten und sich dem Neuen, dem „Messianischen“ öffnen. Geduld ist wirklich die Fähigkeit auszuhalten, dass es nicht so ist, wie ich es mir wünsche, und dass es nicht so gewesen ist, wie ich es mir gewünscht hätte. Dass ich nicht so bin, wie ich gerne wäre, dass mein Nächster nicht so ist, wie ich ihn gerne hätte. Geduld hat damit zu tun, auszuhalten, dass „ich, du, er, sie, es“ gerade nicht so ist/sind, wie ich es brauche. Wie mein ICH meint, es zu brauchen. Geduld hat mit der Kraft zu tun, dass ich mein ICH mit seinen drängenden Wünschen irgendwie im Zaum halten kann. Dass Ich mich von meinem mich drängenden und bedrängenden ICH entfernen kann. Erst in dieser Entfernung von meinem Ich habe ich die Möglichkeit, auf mein ICH zurück-zublicken: re-spicere. Und in diesem Rückblick (Respekt) werde ich mir selbst bewusst, entsteht Selbst-Bewusstsein, das im Englischen übrigens „self-respect“ heißt. Man könnte auch sagen: Respekt entsteht dann, wenn ich mich nicht von meinen mich drängenden Impulsen hinreißen lasse. Und in diesem Respekt wird die Aufteilung in brave und böse Kinder als Täuschung entlarvt. In Wirklichkeit gibt es nur Kinder, die sind, und die leben wollen: und zum Leben brauchen sie hinreichende materielle Versorgung und hinreichende emotionale Versorgung. Und das Wichtigste an der emotionalen Versorgung ist die Wahrhaftigkeit, die Aufrichtigkeit der Erwachsenen.
Bei Paulus heißt das so: „Der Gott aber der Geduld und des Trostes gebe euch, dass ihr einträchtig gesinnt seid untereinander, Christus Jesus gemäß, damit ihr einmütig mit einem Munde Gott lobt, den Vater unseres Herrn Jesus Christus. Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob! Denn ich sage euch: Christus ist ein Diener der Juden geworden um der Wahrhaftigkeit Gottes willen, um die Verheißungen zu bestätigen, die den Vätern gegeben sind, die Heiden aber sollen Gott loben um der Barmherzigkeit willen…““
Die „Eintracht“, und die „Einmütigkeit“, von der Paulus hier spricht, haben keinen Selbstzweck, sondern sie dienen der Wahrhaftigkeit und der Barmherzigkeit Gottes. Eintracht entsteht dann und so, wenn wir aufhören, das Fremde, Andere, Unbekannte mit unseren (feststehenden) Urteilen abzuwerten. Christus ist nicht dafür zu verwenden, den Andersgläubigen zu beweisen, wie falsch sie liegen, sondern dafür, dass das Fremde, das Andere, das Unbekannte Raum gewinnt – angefangen bei uns selbst. Für jeden von ist Christus gestorben: das heißt, gerade da werden wir von Christus liebevoll umfangen, wo wir uns selbst so gar nicht mögen: unsere unannehmbaren, dunklen Seiten, unsere zu Kopfschmerzen erstarrten Wut-Tränen, unser Ungenügen, unser Hochmut mit dem wir unsere Versagergefühle mühsam kaschieren – all’ dies uns selbst unannehmbar Erscheinende wird von Christus im österlichen Licht des Kreuzes verwandelt. Von jenem Christus, der nicht gekommen ist, sich dienen zu lassen, sondern zu dienen – für die Wahrhaftigkeit und die Barmherzigkeit Gottes. Mit diesem kühnen Gedanken öffnet Paulus übrigens auch die Türe für die christliche Botschaft weit hinaus über die Grenzen des Judentums. Die Wahrhaftigkeit Gottes stellt seinen Sohn in die Tradition der Verheißungen seines Volkes, die Barmherzigkeit Gottes schenkt seinen Sohn der ganzen Welt. Sein Sohn aber ist nichts anderes als das lebensspendende Wort der Liebe, das seine Geschöpfe miteinander verbindet. Und dann beschließt Paulus seine Adventspost nach einigen atl. Zitaten, die ich hier weglasse, mit dem Wunsch:
„Der Gott der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, dass ihr immer reicher werdet an Hoffnung durch die Kraft des heiligen Geistes.“
Jetzt geht es nicht mehr darum, dass wir durch „zuvor Geschriebenes“ Hoffnung, Trost und Geduld bekommen, sondern der Gott der Hoffnung selbst möge uns erfüllen. Der Gott der Hoffnung kann uns aber erst erfüllen, wenn wir vorher leer geworden sind. Solange wir gefüllt sind mit unseren eigenen Sorgen und Ängsten, kann der Gott der Hoffnung sich nicht in uns ausbreiten. Solange wir uns unsere Sicherheiten selber geben, haben wir gar keinen Bedarf an Vertrauen. Erst wer es wagt, sich verunsichern zu lassen, wer es wagt, zurückzublicken auf seine Vergangenheit und sich mit ihr ehrlich aus einander zu setzen, wie es wirklich war, dem beginnen Worte wie Freude oder Frieden, oder Hoffnung oder Glauben etwas zu bedeuten. Gerade in der Weihnachtszeit stehen solche Worte in der Gefahr, als schöne Verzierung, als Deko missbraucht zu werden. Jene aber, die hungern nach Wahrheit, ihnen können diese Worte zur Nahrung werden, die aus dem Munde Gottes selbst fließt.
Die Hungrigen, das sind die, die mehr Fragen als Antworten haben, die mehr Zweifel als Wissen ihr eigen nennen, die mehr suchen und wenig gefunden haben. Die Hungrigen wollen nicht recht haben, aber sie freuen sich, wenn ihnen ein wenig Wahrheit einleuchtet. Die Hungrigen, das sind die, die Freude am Weg bereiten haben – für den HERRN. Und der HERR, den wir Christus nennen, ist immer und zugleich das unbekannte, undefinierbare, freie Wort Gottes an uns. In diesem Wort Gottes, in Christus, verbindet sich Wahrhaftigkeit mit Barmherzigkeit. Es ist wahrhaft, indem es mich wirklich wahrnimmt und erkennt in den Tiefen und Untiefen meines Seins. Es ist barmherzig, sofern es kein Interesse daran hat, mich zu verurteilen; es möchte mich vielmehr aufrichten für mein Leben, es möchte mich befreien zu meiner Lebendigkeit.
„Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat“ – lassen sie uns diesem adventlichen Aufruf des Paulus folgen, lassen sie uns dieses Wort hinaustragen aus dieser Kirche, und hineintragen in unseren Alltag. Und lassen Sie uns nicht vergessen: annehmen heißt, gerade das Schwierige und Mühsame, das „schwer Annehmbare“ bei mir selbst und bei meinen Mitmenschen liebevoll wahrzunehmen, anzuerkennen und geduldig auf die Gelegenheit zu warten, es so anzusprechen, dass es zu Herzen gehen kann, AMEN.
Und die Liebe Gottes, die unseren Verstand übersteigt, möge unser Fühlen und unser Denken bewahren in Christus Jesus, AMEN.