Predigt über 2. Timotheus 1, 7-10 am 16. Sonntag nach Trinitatis in der Jakobuskirche in Pullach (Taufpredigt für Ida Carolina)
Die Dunkelheit des Vaters und das Lichts des Sohnes und die liebende Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen, AMEN.
Liebe Gemeinde,
„Denn Gott hat uns nicht gegeben einen Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“
Mit Idas Taufspruch beginnt der heutige Predigttext.
Umgedreht heißt das: Der „Geist der Furcht ist nicht von Gott!“
Das griechische Wort für Furcht ist deilias: es meint eine Mischung aus „Verzagtheit und Feigheit“.
Es geht also nicht darum, die Angst abzuschaffen: Angst zu haben, Angst zu erleben gehört zum Mensch-sein dazu. Gesunde Angst schützt vor Tollkühnheit und Übermut. Gesunde Angst ist auf der Seite des Lebens.
Es geht um die Angst, die sich in mir festsetzen möchte. Die sich äußert in Verzagtheit, Feigheit, Lustlosigkeit.
Es geht darum, wenn die Angst mich niederdrückt, mich zum Rückzug aus dem Leben verführt. Wir gebrauchen dafür das zur Sprach-Hülse gewordene Wort „Depression“. Wörtlich: „Nieder-gedrückt-sein.“
Die Geschichte von Lazarus („Gott hilft“) veranschaulicht den Verlauf einer schweren Depression, in der die Lebens-Geister immer mehr versiegen. In der Depression „verschwindet“ der Kontakt, die Beziehung zum Leben – der Depressive wird unerreichbar. Das fühlt sich für die Angehörigen elend an.
Die Frage ist: wer oder was sind denn diese Nieder-Drücker? Und, noch wichtiger: woher beziehen diese Nieder-Drücker ihre Kraft?
Nüchterne Erkenntnis: aus mir selbst! Mein Ich ist der Nährboden.
Kennt ihr den Film „Matrix“?
Die Welt der Maschinen hat die Macht übernommen: und sie beziehen ihre Energie aus den in einer Nährlösung liegenden Menschen. Die Menschen schlafen – und träumen Träume, die sie für die Wirklichkeit halten. Das ist die Matrix, die Scheinwelt, die ihnen vorgegaukelt wird. Die die Menschen für das Leben halten – Das Entscheidende aber ist: die Maschinen legen größten Wert darauf, dass die Menschen nicht aufwachen.
Über den Erwachten hat die Matrix ihre Macht verloren. Sie kann ihn zwar noch töten – aber mehr auch nicht.
Der Erwachte lässt sich von den Verführungen der Matrix nicht mehr einlullen.
Das Erwachen aber ist ein Geschehen, das sich nicht machen lässt.
Es geschieht.
Es geschieht über Hingabe an die Realität, an das, was ist.
In diesem Erwachen höre ich auf, meine eigenen Täuschungen über das Leben zu nähren. Weil sie mir willkommener und angenehmer erscheinen als die nüchterne Wirklichkeit. In dem Erwachen füttere ich nicht mehr meine Illusionen über das Leben, über mein Leben und das Leben der Anderen, sondern erkenne die Wirklichkeit, die Wahrheit meines Lebens an.
Dazu bedarf es eines „Geistes der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit“!
Wer Anhänger des HSV oder gar von TSV 1860 München ist, weiß, was das bedeutet! Ohne diesen Geist würde er nicht überleben.
(Allerdings ist anzuerkennen: Fußball gehört auch zu den Vergnügungen innerhalb der Matrix.)
Der Geist, von dem hier die Rede ist, „weht wo er will“. Er ist nicht machbar und nicht fassbar. Das einzig Mögliche ist, sich mit ihm zu verbünden und zu verbinden. Und in diesem Bündnis zu erleben, was er vermag:
er schenkt die Kraft, das Leben gerade auch in seiner Härte, Unverrückbarkeit und Endgültigkeit anzunehmen. Die Kraft zu ertragen, was es zu ertragen gilt: die Schmerzen, körperlicher und seelischer Art, die Enttäuschungen über das, was nicht so lief, wie ich es wollte, wie ich es mir wünschte, wie ich es für richtig hielt.
Wer Kinder hat, weiß, dass diese Enttäuschungen unvermeidlich sind. Kinder haben nämlich die merkwürdige Angewohnheit, ihr Leben selber bestimmen zu wollen. Und selber heißt ganz einfach: nicht so, wie die Eltern es wollen. Es ist gut, sich immer wieder daran zu erinnern, dass wir alle auch Kinder waren und dass wir alle auch unser Leben selber in die Hand nehmen wollten und – hoffentlich – auch in die Hand genommen haben.
Dazu bedarf es des Geistes der Liebe. Liebe heißt ja nicht, den Anderen dann zu mögen, wenn er gerade so ist, wie ich ihn brauche. Das ist nicht Liebe, sondern Bemächtigung des Anderen. In der Wirtschaft heißt das: „feindliche Übernahme“!
Nein – Liebe heißt, die Sympathie (das „Mit-Fühlen“) für den Anderen gerade da aufrecht zu erhalten, wo er nicht so ist, wie ich ihn brauchen kann, wie ich es für richtig halte! Liebe ist die Fähigkeit, mein Ich mit seinen Erwartungen und Wünschen an den Anderen zurückzustellen. Und mich an der Freiheit und Lebendigkeit des Anderen zu erfreuen. Diese Liebe begleitet die Kinder auf dem Weg zum Erwachsen-Werden. Liebevolle Begleitung heißt – auf der anderen Seite – nicht, alles hinnehmen und alles für gut heißen. Es heißt nur, dass die Beziehung stärker ist als der Impuls sie abzubrechen.
Die schmerzhaften Beziehungsabbrüche beruhen auf Enttäuschung. Vermeintlich ist es angenehmer, die Beziehung abzubrechen als sich die eigene Täuschung einzugestehen. Enttäuschung bedeutet ja nur: eine Täuschung ist zu ende.
Neben der Liebe nennt Paulus noch die „Besonnenheit“ als weiteres Erleben des Geistes. Besonnenheit, „sophrosyne“ heißt wörtlich: geistig-seelische Gesundheit; Selbstbeherrschung und Mäßigung.
Es ist spannend zu sehen, wie Paulus fortfährt:
„Darum schäme dich nicht des Zeugnisses
von unserm Herrn noch meiner, der ich sein Gefangener
bin, ….“
Scham, sich schämen ist ein besonders ekelhaftes Gefühl. Paulus spricht das „Fremd-Schämen“ an. Sich für einen Anderen schämen. Ich vermute, viele von uns kennen das. Fremd-schämen ist Ausdruck von mangelnder Abgegrenztheit in Beziehung. Es fehlt das Gefühl für gute Getrenntheit. Kinder können sich von ihren Eltern nicht in dieser Weise abgrenzen. Für sie sind die Eltern die großen Vorbilder, die, die wissen, wie Leben geht. Von daher ist es für sie besonders schwer erträglich, wenn sie das Gefühl haben, irgend etwas stimmt nicht mir ihren Eltern. Ihr erster Reflex ist, sie in Schutz zu nehmen und ihr eigenes Erleben dafür zu opfern. Sie hoffen, dass sie sich täuschen, dass sie das, was sie meinen wahrzunehmen, sich nur einbilden.
„Das gibt’s doch nicht!“
Auch den Fans des HSV oder von 1860 ist das Thema „sich schämen“ nicht fremd.
„Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen“, hat meine Oma gesagt.
„Deutscher Meister in der Relegation!“
Je stärker ich mit etwas/jemand identifiziert bin, desto näher geht mir das, was er/sie/es machen. Desto näher geht mir, wenn der oder das Andere Ziele nicht erreicht, Leistungen nicht erbringt, nicht in der Champions-League spielt. (Sondern um das Überleben in der zweiten Liga kämpft.)
Das ist die große Tragik der Eltern-Kind-Beziehung.
Kinder sind ausbeutbar, weil sie auf die Liebe der Eltern angewiesen sind. Wenn die Eltern zu Kindern werden, die darauf angewiesen sind, dass ihre Kinder in bestimmter Weise funktionieren (Erfolg, Karriere …) – dann wird es für die Kinder wie für ihre Eltern schlimm. Das ist der Stoff, aus dem die Beziehungsabbrüche gewebt sind.
Der Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit ist ein starker Geist. In ihm lösen sich die Verstrickungen. Und so fährt Paulus fort:
„… leide mit mir für das Evangelium in der Kraft Gottes.“
Das Evangelium ist nichts weiter als die frohe Kunde, die davon handelt, dass es einen Geist, eine Energie gibt, die dich wirklich meint. Dich: und zwar so, wie du gerade bist. Und nicht nur das: für die du auch noch völlig in Ordnung bist, so, wie du gerade bist. Der es egal ist, in welcher Liga du gerade spielst, auf welchem Tabellenplatz du dich gerade aufhältst. Die dich nicht verändern will.
Die Verbindung zu dieser Energie schaffen wir nicht aus eigener Kraft. Aus eigener Kraft versuchen wir, um Anerkennung zu kämpfen, den Trainer zu wechseln, versuchen uns etwas aufzubauen, versuchen, andere zu betrügen, um selber mehr zu haben, versuchen zu manipulieren, zu bestechen, um unseren Willen zu bekommen usw.
Aus eigener Kraft versuchen wir ein möglichst starkes „Ich will das haben“ zu erzeugen. Dafür müssen wir rackern, kämpfen, bestechen, täuschen, dopen usw …
Vor dieser Kraft, der du willkommen bist – so wie du bist – gibt es dies alles nicht. Es geht „nicht nach unseren Werken, sondern nach seinem eigenen Vorsatz und nach der Gnade, die uns gegeben ist in Christus Jesus vor ewigen Zeiten…“
Wir könnten loslassen. Dann hätte die Plackerei ein Ende.
Wir könnten uns in den barmherzigen Schoß Gottes fallen lassen.
Dann würde unser Leben leicht werden.
Wir könnten uns dem Fluss unseres Lebens überlassen.
Hinnehmen, was hinzunehmen ist.
Betrauern, was zu betrauern ist.
Bedauern, was zu bedauern ist.
Und aufhören zu hoffen, dass die Zukunft besser wird.
Und aufhören zu jammern, dass die Vergangenheit nicht gut genug war.
Jedenfalls haben wir überlebt.
Bis heute.
Bis jetzt.
In diesem Geschehen würden wir allmählich wach werden. Wach für die Gegenwart.
Die Gegenwart, in der allein das Leben zu finden ist.
Und warum tun wir’s nicht?
Weil wir Angst haben. Angst davor, die Kontrolle zu verlieren.
„Ja, aber“ sagen wir.
„Oder hätte ich doch…“
Und außerdem haben wir uns unsere Werte, Ziele, Erwartungen – all‘ das, von dem wir meinen, wie Leben geht – doch so mühsam aufgebaut. Und außerdem wurde uns das auch so mühsam antrainiert. Das soll jetzt alles nichts mehr gelten?
Echt nicht! Das würde ja weh tun. Ziemlich weh tun. Deshalb sagt Paulus: „Leide mit mir für das Evangelium!“
Klingt nicht gut. Warum leiden? Da schlafen wir doch lieber noch ne Runde. So schlecht ist die Matrix doch gar nicht. Und es gibt herrliche Ablenkungen. Jetzt noch viel brillanter in HD. Tolle Graphik. Ein kühles Bier dazu und Chips.
So kriegen wir die Zeit schon rum, oder?
Ähneln wir nicht alle dem Mann, von dem der indische Jesuit Anthony de Mello erzählt?
Vor einiger Zeit – sagt er – hörte ich im Radio … von einem Mann, der an wieder einmal am Morgen an die Zimmertür seines Sohnes klopft und ruft:
„Jim, wach auf!“
Und Jim ruft zurück: „Ich mag nicht aufstehen, Papa.“
Darauf der Vater noch lauter: „Steh auf, du musst
in die Schule!“ „Ich will nicht zur Schule gehen.“
„Warum denn nicht? “, fragt der Vater.
„Aus drei Gründen“, sagt Jim. „Erstens ist es so langweilig, zweitens ärgern mich die Kinder, und drittens kann ich die Schule nicht ausstehen.“
Der Vater erwidert: „So, dann sag ich dir drei Gründe, wieso du in die Schule musst: Erstens ist es deine Pflicht, zweitens bist du 45 Jahre alt, und drittens bist du
der Klassenlehrer.“
Gott hat uns gegeben einen Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. Diesen Geist benötigt, wer sich dem eigenen Leben zuwenden will.
Das Leben findet draußen statt! Nicht vorm Handy und nicht vorm PC.
Und das Leben vergeht – egal wie wir es gelebt haben.
Davon handelt der letzte Gedanke unseres Predigttextes, der auch der Wochenspruch ist.
„Christus Jesus, der den Tod zunichte gemacht aber Leben und Unvergänglichkeit ans Licht gebracht hat durch das Evangelium.“
Es ist eine Täuschung zu meinen, das eigentliche Leben kommt erst.
Die Unvergänglichkeit ist die Gegenwart. Nur sie ist ewig.
Gegenwart ist das, was aus der Zeit herausgefallen ist.
In der Gegenwart hat die Matrix keine Chance.
Die Matrix ist nichts anderes als die Verführung, sich aus der Gegenwart zurück zu ziehen. In unsere Grabes-Höhlen – oder auch Grabes-Höllen.
Und es ist offen, ob wir überhaupt bereit sind, wie Lazarus unsere Höhle zu verlassen.
Gebe Gott, dass wir die Kraft und den Mut haben aufzuwachen. Gebe Gott, dass wir es wagen, uns seinem Geist zu überlassen, unser Leben in und von diesem Heiligen Geist führen zu lassen.
Eben dem Geist, der in jedem Augenblick da ist, der nur darauf wartet, sich mit uns zu verbünden – dem Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit, AMEN.
Und der Friede Gottes, der höher und tiefer ist als unsere Vernunft und diese Gedanken, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, AMEN.