Predigt über Apostelgeschichte 6, 1-7 am 13. Sonntag nach Trinitatis 2020

Liebe Gemeinde,

was ihr getan habt einem von diesen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ (Matthäus 25, 40b) Um dieses Wort aus dem Matthäusevangelium gruppieren sich die Texte unseres Gottesdienstes: Im ersten Johannesbrief wird auf die innige Verbindung zwischen Gott und Liebe hingewiesen: „Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt, denn Gott ist Liebe.“ (1. Joh. 4, 8) Ein bemerkenswerter Satz! Würde er doch erklären, inwiefern unsere „gottlose“ Welt eine „lieblose“ Welt ist. Zugleich würde er sich als „innere“ Grenze und Kennzeichen glaubwürdigen Redens von Gott eignen:

Wer im Namen Gottes Hass predigt und lebt, der predigt und lebt gottlos.-

Das berühmte Gleichnis vom barmherzigen Samariter schließlich weist darauf hin, dass Liebesfähigkeit nichts mit gesellschaftlichem Ansehen zu tun hat. Es ist der Samariter – Mitglied einer Sekte in den Augen des damaligen Judentums – der das Werk der Nächstenliebe vollbringt! Und es sind genau die Repräsentanten des damaligen religiösen Establishments – der Priester, der Levit – die keine tätige Hilfe leisten. Und was ist dieses Werk der Nächstenliebe? Den Anderen wahr- und ernst nehmen.

Aber was mache ich, wenn ich sehr wohl den Anderen wahrnehme, nämlich so, dass ich sein Verhalten empörend finde? Was mache ich mit meiner Empörung über die Ignoranz des Priesters und des Leviten? „Und so jemand will ein Pfarrer sein …!“ denke ich mir – und schon bin ich heraus gefallen aus dem, was ich mir doch eigentlich vorgenommen habe: nämlich in der Liebe zu bleiben.

Aber was heißt das dann: In der Liebe bleiben – wenn ich mich doch völlig zurecht empöre. Was mach ich mit meiner Empörung gegenüber der „Amtskirche“ im Allgemeinen, in Corona-Zeiten im Besonderen.

Nun – das naheliegendste und verbreiteste ist: Ich trenne mich – ich trete aus der Kirche aus. „Mit so einem Verein will ich nichts zu tun haben.“ Das ist zwar keine „Lösung“ – aber immerhin bin „raus“.

Unser heutiger Predigttext handelt ebenfalls von Empörung über die leitenden Instanzen des noch jungen Christentums. Es entstand ein „Murren“ heißt es so schön. Der Konflikt entbrannte zwischen den griechisch sprechenden Christen, die sogenannten Hellenisten, und den aramäisch sprechenden „Hebräern“.

Hören Sie selbst:

„In diesen Tagen aber, als die Zahl der Jünger zunahm, erhob sich ein Murren unter den griechischen Juden in der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung.

Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es ist nicht recht, dass wir das Wort Gottes vernachlässigen und zu Tische dienen.

Darum, liebe Brüder, seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll Geistes und Weisheit sind, die wollen wir bestellen zu diesem Dienst.

Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben.

Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut; und sie wählten Stephanus, einen Mann voll Glaubens und Heiligen Geistes, und Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und Nikolaus, den Proselyten aus Antiochia.

Diese stellten sie vor die Apostel; die beteten und legten ihnen die Hände auf.

Und das Wort Gottes breitete sich aus, und die Zahl der Jünger wurde sehr groß in Jerusalem. Es wurden auch viele Priester dem Glauben gehorsam.“

Ja – so war das und so wird das immer sein: Die Einen gegen die Anderen.

Dagegen-Sein stabilisiert. Ich habe etwas, wogegen ich kämpfen kann. Ich habe etwas, worüber ich mich aufregen kann. Das ist wesentlich angenehmer, als sich selber Mühe zu machen, Kompromisse zu finden, in denen die eigenen und die Interessen der „Anderen“ berücksichtigt werden. Gegen „die da oben“ zu sein ist die Position des Kindes. In der Kindheit waren „die da oben“ die „Großen“: die Erwachsenen. In dem Wort „Empörung“ schwingt übrigens etwas von „da oben“ mit: Empörung hat mit „empor“ zu tun.

Und „die da oben“, kurz die „Zwölf“ in unserem Text genannt (gemeint sind die 12 Apostel) fühlen sich angesprochen. Sie reagieren. Das ist wichtig. Ohnmächtige Wut entsteht bei „denen da unten“, wenn sie sich „von denen da oben“ überhaupt nicht wahrgenommen fühlen. Ich vermute, dass die Populisten hieraus ihre Wähler ziehen. Es sind Menschen, die sich von der jeweiligen Führung/Regierung im Stich gelassen fühlen. Und die ein hohes Potential an Enttäuschung und daraus fließenden Hass in sich tragen. Ich denke auch, dass die Zahl der laufend steigenden Kirchenaustritte genau damit zu tun hat, dass sich Menschen nicht mehr von dem, was die Kirche, was ihre Vertreter, die Priester oder Pfarrer sagen, angesprochen fühlen. (Wie oft gehe ich in die Kirche?)

Von daher finde ich es spannend, unseren Text so zu lesen, dass wir daraus für unsere Gegenwart lernen können. Wie ging denn die damalige Führung, die 12 Apostel, mit dem genannten Konflikt unter den Gläubigen um?

Erstens: Sie lassen ihn an sich „rankommen“. Sie nehmen ihn wahr und nehmen ihn ernst. Das klingt so selbstverständlich – ist es aber leider überhaupt nicht. Ignoranz auf Seiten der „Führer*innen“ und Ignoranz auf seiten der „Empörer*innen“ ist verbreitet. Nicht nur in der Kirche, aber leider und gerade auch in der Kirche.

Zweitens: Die „Zwölf“ „rufen die Menge der Jünger zusammen.“ Wesentliche Erkenntnis: Sie verstehen sich nicht als Einzelkämpfer, meinen nicht, alleine das Problem lösen zu müssen. Sie sind „vernetzt“ mit den „Jüngern“, den Anhängern Jesu – wer auch immer das genau gewesen ist. In der katholischen Kirche ist das Stichwort: „Der synodale Weg“!

Drittens: Die „Zwölf“ sagen zunächst einmal „nein!“ „Wir machen das nicht! Wir übernehmen nicht die Bedienung der Witwen. Das schaffen wir nicht – es sei denn wir würden das Wort Gottes vernachlässigen. Das aber kommt nicht in Frage!“

Eine starke Führung kennt die eigenen Grenzen und erkennt sie an. In gesunder Selbstliebe – und in gesunder Gottesliebe. Erinnern Sie sich: „Wer nicht liebt, der erkennt Gott nicht!“ heißt es im ersten Johannesbrief. Eine starke Führung ist nicht verführbar für Ausbeutung. Sie weiß: Sich ausbeuten lassen, allzu oft „ja“ zu sagen, führt zum „Ausbrennen“ der eigenen Seele. Und damit ist keinem gedient.

Und eine starke Führung kennt das Zentrum, die Mitte ihres Auftrages. Für die 12 Apostel war dies die Verkündigung der frohen Botschaft von Jesus Christus. Dass sein Leben und Sterben von Gott in ganz besonderer Weise bejaht worden ist. Dass Gott kein Gott der Macht, sondern der Liebe ist. Einer Liebe, die wahrnimmt, die dem Leiden nicht ausweicht. „Gott ist Liebe. Und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott in ihm.“ (1. Joh. 4, 16)

Viertens: Eine starke Führung lässt die Bedürftigen nicht im Regen stehen. Sie delegiert: „So seht Euch in Eurer Mitte um, Brüder, nach sieben Männern, die einen guten Ruf haben und voll Geistes und voller Weisheit sind. Die wollen wir bestellen zu diesem Dienst. Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben.“

Klare Ansage im Sinne von: „Eure Rede sei ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Bösen.“ (Matthäus 5,37) Und die „Zwölf“ lassen sich das „Zepter“ nicht aus der Hand nehmen: Ihr seht Euch um – wir bestellen zum Dienst. Eine gute Führung ist achtsam und wachsam. Und hält sich an das, was sie sagt. (Es ist Ausdruck einer schwachen Führung und sorgt für weitere Unruhe, wenn es heißt, man solle etwas übernehmen, und dann macht es der Pfarrer/Bischof/ Vorgesetzte doch so, wie er es will. Mit dieser Methode verliert man sehr schnell engagierte und kompetente Mitarbeiter!)

Fünftens: „Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut!“ Gerade so erreicht eine starke Führung die Menschen, indem sie Möglichkeiten zu handeln aufzeigt. Der viel gerufene (genannte) „mündige“ Bürger ist einer, der seinen Mund aufmacht. Nicht um Hassparolen auszustoßen, sondern um Gedanken zu äußern, die der Gemeinschaft dienen. Und aus guten, konstruktiven Gedanken fließen gute, konstruktive Handlungen. „Und sie wählten Stephanus … Philppus … Prochorus … Nikanor … Timon … Parmenas und Nikolaus.“ Das sind allesamt griechische Namen. Sie heißen zu deutsch: Stefanos – einer der sich einen Siegeskranz erworben hat; Philippos – ein Liebhaber von Pferden; Prochorus – ein Vortänzer; Nikanor – ein Sieger; Timon – der Angesehene, der aller Ehren Werte; Parmenas – einer, der Durchhaltevermögen besitzt; Nikolaus – der aus seinem siegreichen Volk stammt. Klingt gut – und es besteht die Hoffnung, dass sie auch ihren Namen gerecht geworden sind.

Sechstens: Dass es lauter Männer sind, die sich der Probleme der griechischen Witwen annehmen, ja: Das ist dem damaligen Zeitgeist geschuldet. Jesus selbst hätte vermutlich gesagt: Ich traue den Witwen zu, dass sie selbst ihr Problem lösen und schlage vor, dass sie aus ihrem eignen Kreis Führerinnen auswählen, die sich um die anstehenden Probleme kümmern. Es ist anzuerkennen, dass Menschen wie Jesus in ihrem Denken und Leben so weit ihrer Zeit voraus gewesen sind, dass selbst ihre eigenen Anhänger wieder dahinter zurückfallen. Diese Anerkenntnis kann vielleicht milder stimmen gegenüber der real existierenden Männer-Führungs-Kirche.

Siebtens: „Diese stellten sich vor die Apostel; die beteten und legten ihnen die Hände auf.“ Das ist ein guter Brauch, der bis heute angewendet wird: die „Handauflegung“! Es wird nicht sogleich und schnell „los gelegt“. Das Hände Auflegen ist ein Innehalten – ein Innehalten vor etwas Größerem – ein Innehalten vor Gott. Es bewahrt vor „blindem Aktionismus“. Allerdings nur dann, wenn es nicht ein entleerter Ritus ist. Dies gilt freilich für alle Riten und Rituale. Wenn sie nicht mit Lebendigkeit gefüllt werden, bleiben sie hohl. Dafür können aber die Riten nichts!

So – jetzt haben Sie sieben Predigtgedanken zu den ersten sieben Versen der Apostelgeschichte gehört, wo es darum geht, dass sieben „bewährte“ Männer zu Diakonen ernannt werden. Für die Kabbala, die jüdische Mystik, ist die sieben eine heilige Zahl. In ihr geschieht das Erleben von „Allem“. In sieben Tagen wurde die Welt erschaffen – die ganze Welt. Die „sieben“ setzt sich aus „drei“ und „vier“ zusammen: Nach alter Tradition ist die drei die Zahl des Himmels, die Vier die Zahl der Erde in und mit ihrer Vielheit. Die Sieben fügt beides zusammen. Multipliziert man nun die Drei mit der Vier, so ergibt sich die Zwölf. Somit sind die Zahl sieben wie die Zahl Zwölf in enger Verbindung mit der Drei und der Vier zu verstehen – in Verbindung mit Himmel und Erde. Beide versuchen Heil-Sein im Sinne von Ganzheit auszudrücken. In Ganzheit leben bedeutet, in und mit guten Verbindungen zu leben. In Beziehung zu allem sein, was einen umgibt – sei es im außen, sei es im innen, sei es im oben, sei es im unten. Aufgespannt zwischen Himmel und Erde: Das ist das, was den Menschen zum Menschen macht!

Solch ein innerlich verbundenes Leben befreit. Ich bin frei für das, was ich auf meinem einmaligen Platz in dieser großen weiten Welt zu tun habe. In dieser Freiheit wächst die liebevolle Zuwendung zu allem Lebendigen wie von selbst. Im Hebräischen heißt „lieben“ auch „erkennen“. Erkennen im Sinne von: sich selbst und den jeweils Anderen freundlich wahrnehmen. Und daraus folgen dann Handlungen, wie die des „barmherzigen Samariters“ in unserem Gleichnis. Solche Handlungen werden dann möglich, wenn ich meine eigenen Bedürfnisse bei mir halten kann. Wenn ich nicht süchtig darauf angewiesen bin, befriedigt zu werden. Dazu bleibt mir aber nichts anderes übrig, als den Weg nüchterner Selbst-Erkenntnis zu gehen.

Und so schließt sich der Kreis: Wirkliche Liebe ist die Lust am Erkennen – am Erkennen Gottes und in einem damit des eigenen So-und-nicht-anders-Gewordens. Auch dies gilt: Gotteserkenntnis ohne Selbsterkenntnis ist wie Schwimmen ohne Wasser. Gott will gelebt werden. Spürbar wird dies am Entstehen meiner Neugierde für das Fremde, für das Andere – in mir und außerhalb meiner. Erst so kann Anderes in seinem Anders-Sein erkannt werden. Und das ist der Nährboden für das Wachstum von Liebe. Die gar nicht anders kann, als zu Gott hin zu wachsen. Die gar nicht anders kann, als sich immer tiefer mit ihrem Ursprung zu verbinden und zu verbünden: „Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott in ihm!“ AMEN.

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