Liebe Gemeinde,
„gedenke Herr an deine Barmherzigkeit!“
Dieses Zitat aus Psalm 25 verleiht unserem heutigen Sonntag seinen Namen.
„Gedenke …“ meint so viel wie: „vergiss nicht! Halte in Erinnerung!“
„Erinnern“ ist eine Bewegung nach „innen“. Die andere Bewegungsrichtung ist „veräußern“ – etwas wird nach außen gegeben, weggeben.
Unangenehmes, Störendes, Quälendes möchte ich gerne loswerden. Veräußern. „Hinauswerfen.“
Angenehmes, Schönes möchte ich behalten, „aufnehmen“, in mich hineinnehmen.
Die einfachste, sinnenfälligste Form des „In-mich-Hineinnehmens“ ist zu essen. Alle sogenannten „Essstörungen“ haben mit Problemen des „Aufnehmens“ zu tun. Und es bedarf eines Vertrauens, dass das, was ich da in mich hineinlasse, mir auch gut tut und mich nicht – im schlimmsten Fall – zerstört. Denn was „in mir drin ist“, das entfaltet in mir seine Wirkung, die ich so ohne weiteres nicht kontrollieren kann.
Nun bedeutet „sich erinnern“ noch etwas anderes: Es hat damit zu tun, in Abwesenheit sich auf etwas zu beziehen. In Abwesenheit heißt: auch wenn das, woran ich mich erinnere, längst vergangen ist. Es hat sich mir „eingeprägt“.
Und es ist so, dass das Unangenehme, das, was einem „angetan“ worden ist, sich wesentlich stärker einprägt, als das Gute und Angenehme. Und je jünger wir sind und dementsprechend ungeschützt, desto tiefer „brennt“ sich das Leid in die Seele hinein. Das dazugehörige Fachwort heißt „Trauma“.
Das Motiv unseres heutigen Sonntags „Reminiscere“ lautet also: „gedenke an deine Barmherzigkeit, erinnere das Gute, erinnere dich an deine Fähigkeit, barmherzig zu sein …“
Je tiefer ich in meiner Wut, in meinem Hass, in meinem Schmerz verstrickt bin, desto schwerer fällt mir die Kraft für Barmherzigkeit. Hass zerstört die Verbindung zu Freundlichkeit, zu Barmherzigkeit. Barmherzig, liebevoll sein kann überhaupt erst entstehen, wenn ich meinen Hass darauf, was mir alles angetan worden ist, irgendwie einrahmen, irgendwie bei mir halten kann. Ein eingerahmter Hass kann sich nicht mehr willkürlich, grenzenlos ausbreiten. Dies ist ziemlich Kräfte zehrend, es viel Energie kostet, mir meines Hasses bewusst zu werden. Erst dann habe ich überhaupt eine Chance, mich von ihm zu distanzieren. Solange ich völlig auf der Seite meines Hasses bin, solange mein Ich von meinem Hass besessen ist, solange habe ich, solange hat kein Anderer eine Chance.
„Sich bewusst werden“ heißt, „sich eingestehen, anerkennen…“ Oder – im Sprachspiel unseres Predigttextes: „etwas ans Licht kommen lassen“.
Die Gegenbewegung ist „vertuschen“, „verschleiern“, „sich und den Anderen etwas vormachen, täuschen, betrügen…“
Johannes nennt dies die „Finsternis, die das Licht nicht annimmt“.
Damit endet unser Predigttext – Sie haben ihn vorhin als Evangelium gehört:
„… die Menschen haben die Finsternis mehr geliebt als das Licht, denn ihre Werke waren böse. Denn jeder, der Arges tut, hasst das Licht und kommt nicht zu dem Licht, damit seine Werke nicht bloßgestellt werden, wer aber die Wahrheit tut, kommt zu dem Licht, damit seine Werke offenbar werden, dass sie in Gott gewirkt sind.“
Diese Aussage ist zeitlos gültig, leider auch für die christliche Kirche selbst. Siehe die bis heute andauernde Vertuschung des Missbrauchs von Abhängigen. „Die Menschen haben die Finsternis mehr geliebt …“ Es gibt in uns Menschen eine starke Kraft dagegen, dass etwas ans Licht kommt, dass mir etwas bewusst wird. Sigmund Freud hat diese Kraft „Widerstand“ genannt. Es wehrt sich etwas in mir, dass ich mir meiner Schattenseiten, meiner Schwächen, all dem, wie ich so ganz gar nicht sein möchte, bewusst werde. Diese Abwehr oder dieser Widerstand hat unmittelbar damit zu tun, dass ich Angst habe, wenn ich mich ganzheitlich erkenne und anerkenne, dass ich dann werde verurteilt werde. Deshalb lieber das „Schlechte“, das „Böse“ vertuschen.
In unserem Predigttext heißt es auch: „Wer an ihn, wer an Christus glaubt, der wird nicht gerichtet.“ Die Wirklichkeit ist also: Wer an die in Christus offenbar gewordene Barmherzigkeit Gottes glaubt, entdeckt die Liebe Gottes – und bleibt so nicht länger seinem eigenen Hass ausgeliefert. Dies geht freilich nur in der Verbindung von Christus und Liebe. Es gibt leider nicht wenige Stellen im Neuen Testament, wo Christus mit einem strafenden Richtergott in Verbindung gebracht wird.
Doch fangen wir von vorne an:
„Und wie Mose in der Wüste die Schlage erhöhte, so muss der Sohn des Menschen erhöht werden, damit jeder, der an ihn glaubt ewiges Leben habe.“
Damit beginnt unser heutiger Predigttext. Dies ist ein Hinweis auf eine berühmte Stelle im AT, wo es heißt, dass Gott zur Strafe für den Ungehorsam seines Volkes „feurige Schlangen“ sandte, die das Volk bissen und töteten. Der Ungehorsam bestand in der „Ungeduld“ des Volkes, seinem Hadern auf dem Weg durch die Wüste: „… und das Volk redete gegen Gott und gegen Mose: Wozu habt ihr uns aus Ägypten heraufgeführt? Damit wir in der Wüste sterben? Denn es ist kein Brot und kein Wasser da, und unsere Seele ekelt es vor dieser elenden Nahrung.“ (4. Mose 21, 5) Mit der „elenden Nahrung“ war das „Manna“ gemeint, womit Gott sein Volk in der Wüste stärkte. (Das ist ein Vorläufer von: „Mama, ihm schmeckt’s nicht!“) Als Mose gegenüber Gott stellvertretend für sein Volk bereut und die Sünde des Volkes benennt, wird er von Gott damit beauftragt, eine Schlange aus Bronze zu machen, diese auf eine Stange zu geben. „…und es geschah, wenn eine Schlange jemanden gebissen hatte und er schaute zu der ehernen (bronzenen) Schlange auf, so blieb er am Leben.“ (Vers 9) Um dies zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, dass das hebräische Wort für Schlange denselben Zahlenwert hat, wie das Wort „Messias“. Das heißt, in der alttestamentlichen Geschichte ist vor-geformt, was Johannes über die Bedeutung Christi sagen will:
Wer den Mut hat, zu Gott zu Christus zurückzukehren, der wird gerettet werden. Nicht die Schlange an sich ist zerstörerisch, sondern ihre Ausbreitung im Horizontalen, ihre rein quantitative Vermehrung. Durch die Vertikale kommt eine andere, gänzlich neue Dimension ins Spiel und der Blick verändert sich, weitet sich. Es gibt nicht nur ein links und rechts von mir, sondern auch ein oben und unten.
Und es ist die rein mechanische leb- und lieblose Vermehrung, die tödlich ist. Alles was mit Massen- beginnt: Massentierhaltung, Massenproduktionen, Massenbevölkerung…
Durch Christus kommt eine neue Perspektive, eine neue Blickrichtung auf die Welt, in die Welt: die Perspektive der Liebe. In dieser Perspektive verbindet sich Horizontales und Vertikales. Liebe heißt: gute Verbindungen entstehen.
So heißt es in unserem Text weiter: „Denn so hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde.“
Keine Rede von einem beleidigten Gott, der in seinem Zorn unversöhnlich geworden ist, und deshalb sich selbst in der Person seines Sohnes opfert, um die Welt mit sich zu versöhnen. Das war die unglückselige Lehre von Anselm von Canterbury, bei der wir Menschen zu Marionetten eines beleidigt in sich selbst verliebten Gottes werden. Weil Adam und Eva von der verbotenen Frucht gegessen haben, haben sie Gottes Majestät beleidigt. Nur Gott selbst konnte diese Majestäts-Beleidigung „wieder gut machen“ – also schickte er seinen eigenen Sohn, der stellvertretend für die Menschheit sich opferte.
Sie merken, dass uns Menschen in diesem Gedankengang völlige Unfähigkeit zugeschrieben wird. Und zugleich sind wir an allem schuld. Das ist so, wie wenn ein Kind bei Tisch z.B. etwas verschüttet, es geschimpft wird (Zorn), es aber keine Gelegenheit bekommt, den Tisch zu säubern. „Lass das, das kannst du nicht!“ heißt es. Und vielleicht noch: „Nichts als Arbeit machst du, du Nichtsnutz!“ Häufen sich solche Erfahrungen, lernt das Kind, dass es keinerlei Einfluss nehmen kann, auf das, was passiert, dass es nichts gestalten kann, dass es nichts taugt und nichts wert ist. Und schon gar nicht lernt es, Verantwortung zu tragen für sein Tun.
Nichts von alledem in unserem Text, nichts davon im Johannesevangelium.
Die Offenbarung Gottes in Jesus Christus ist kein Akt irgend einer Wiedergutmachung. Sie ist ganz einfach und ganz anders zu verstehen: als Ausdruck der Liebe Gottes. Und wir sind auch keine Marionetten Gottes; wir sind befreit dazu, auf Gottes Liebe zu antworten: indem wir selbst lernen zu lieben. Die Antwort der Liebe ist unsere Ver-Antwortung, die wir Gott, unserem Schöpfer gegenüber tragen.
Und lieben beginnt damit, sich seiner selbst bewusst zu werden. Im Hebräischen heißt lieben auch erkennen. „Und Adam erkannte sein Weib.“ … Und wirkliches Erkennen ist immer auch Selbst-Erkenntnis: Theresa von Avila sagt: „Denn so hoch die Seele auch stehen mag, nie wird etwas anderes die Selbsterkenntnis ersetzen können, ob man dies nun will oder nicht.“ (Innere Burg, S. 30)
Damit Selbst-Erkenntnis aber wirkungsvoll werden kann, ist es notwendig, dass sie eingehüllt ist in Barmherzigkeit, Es geht überhaupt nicht darum, zu „richten“ oder „gerichtet“ zu werden. Beides heißt, in falsch und richtig eingeteilt zu werden oder einzuteilen, heißt bewertet werden oder bewerten. Genau darum geht es nicht!
Es geht vielmehr darum, „gerettet“ zu werden. Das griechische Wort für retten, „sozo“, bedeutet wörtlich: „unversehrt“, „gesund“ sein. Immer wenn ich die Welt in „falsch“ und „richtig“ einteile, wenn ich bewertend und richtend mich über meine Mitmenschen äußere, zerreiße ich, was zusammen gehört.
Dieses „Richten“ lässt sich natürlich auch auf mein eigenes Leben anwenden. Es geht so schnell und ist so leicht, sich und Andere mit Vorwürfen zu überhäufen. Diese Vorwürfe und Selbst-Vorwürfe verwenden Erkenntnis und Selbst-Erkenntnis für Hass und Selbst-Hass – und nicht für Liebe und Selbst-Liebe.
Und Hass hält gefangen. Im Hass baue ich mir mein Gefängnis. Und die Gitterstäbe meines Gefängnisses sind aus meiner Rechthaberei gemacht. „Mein Hass steht mir zu…“ Ja, dein Hass steht dir zu, ich kann ihn sogar verstehen. Er macht dich halt nicht frei. Er trennt dich von der Liebe Jesu Christi.
Es ist ein großes Geschenk, einen Beichtvater, einen Freund, einen Therapeuten zu finden, der nicht mich nicht verurteilt, mich nicht in falsch und richtig unterteilt. Stattdessen liebevoll mir dabei hilft zu lernen, mein gewordenes Leben immer ganzheitlicher sehen und tragen zu lernen. Das hat nichts mit „billiger Gnade“ zu tun, derart: „Mach dir nichts daraus, das geht anderen auch so, jeder hat mal seinen Partner betrogen, jeder lügt mal …“ Das würde bedeuten, dem, der „Arges“ getan hat, dabei zu unterstützen, dass seine Werke nicht ans Licht kommen.
Nein, das ist nicht der Weg. Liebe vertuscht nicht – liebe deckt auf – aber liebevoll!
Der Weg der liebevollen Selbsterkenntnis ist ein schmaler Grat zwischen dem Berg des Selbst-Hasses und der Selbst-Kasteiung auf der einen und dem Abgrund der Gleichgültigkeit auf der anderen Seite: „Was soll’s, das machen doch alle!“
Dieser Weg beginnt mit liebevoller, wohlmeinender Neugierde auf sich selber. Ohne Verurteilungen. Ohne Gericht. Ohne: „Wie konnte ich nur?“ Und auch ohne: „Ich bereue nichts…“ „Alles, was ich getan habe, war richtig.“ Auch dies ist eine Bewertung. Es gibt jene, die sich unentwegt entschuldigen und jene, die gar nicht daran denken, sich zu entschuldigen. Beides hat mit Liebe und Barmherzigkeit nichts zu tun.
„Wer … die Wahrheit tut, kommt zu dem Licht, damit seine Werke offenbar werden, dass sie in Gott gewirkt sind.“ Damit endet unser Predigttext und damit endet meine Predigt. Und zwar mit einer kleinen Geschichte, die ich bei Anthony de Mello gefunden habe:
Ein Licht
Schüler: Was ist der Unterschied zwischen Wissen und Erleuchtung?
Lehrer: Wenn du Wissen besitzt, nimmst du ein Licht, um den Weg zu erkennen. Wenn du erleuchtet bist, wirst du selbst zum Licht.
Gebe Gott, dass sein Licht der Liebe und Barmherzigkeit uns erleuchte, von uns ausstrahle, auf dass wir immer tiefer und leichter zum Licht der Liebe Gottes werden, AMEN.