(Vorbemerkung)
„Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr…“ haben wir gerade gesungen. Und so ist es auch.
Es ist aber kein versteckter Hinweis darauf, dass mir keine Predigt eingefallen ist. Es ist vielmehr eine Warnung davor, dass ich mir nichts einbilde darauf, was mir eingefallen ist…
Liebe Gemeinde,
kennen Sie diese eigentümliche „Suche“ nach etwas, ohne genau zu wissen, wonach eigentlich…?
Dieses eigentümliche „Getrieben-Sein“: aber was treibt mich denn an?
Das wäre Stoff für einen Roman: „Der Mensch, der nicht satt werden konnte“.Oder auch: „Der Mensch als Raupe ‚Nimmersatt'“!?
Freilich ohne Schmetterlings-Garantie.
Diese eigentümliche Suche. Suche und Sucht: etymologisch hängen beide Worte miteinander zusammen. Im Duden wird „Sucht“ als „krankhafte Abhängigkeit“ definiert.
Sehn-Sucht wäre dann eine krankhafte Abhängigkeit … wovon?
„Sehnen“ , mittelhochdeutsch „senen“, heißt: „sich härmen, liebend verlangen…“
Ja, aber was wird denn liebend verlangt? Und passt das zusammen: lieben und verlangen oder begehren?
„Was willst du wirklich?“ fragt Luzifer mit funkelnden Augen in der gleichnamigen Serie. Was sind deine geheimsten Wünsche. So geheim, dass du sie vor dir selbst versteckst?
„39 Ihr erforscht die Schriften, weil ihr meint, in ihnen (ewiges) Leben zu haben, und (in der Tat), sie sind es, die Zeugnis über mich ablegen. 40 Doch ihr wollt nicht zu mir kommen, um ewiges Leben zu haben.“
Damit beginnt eine längere Predigt des sogenannten „Christus des Johannesevangeliums“. Gerichtet ist diese Predigt an das das jüdisch-religiöse Establishment, also die sogenannten „Schriftgelehrten“, die theologischen Lehrer der damaligen Zeit. Die Rede stellt eine massive Polemik gegen eben diese „Lehrer“ dar, die als Autoritäten in Glaubens- und Lebensfragen gelten. Der Vorwurf Jesu besteht darin, dass sie nicht sehen (können), was doch da ist, was vor Augen steht: „Jesus ist der Gesalbte Gottes, der ersehnte Messias (Christos).“
Oder auch: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben…“ (Johannes 14, 6).
Aber: Wer ist dieser „Ich“?
Wir Christen bekennen ihn als „Jesus Christus“. Das ist eine Definition. Aber was bedeutet sie?
Zunächst einmal bedeutet sie etwas Negatives. „In den Schriften werdet ihr nicht finden, was ihr sucht!“ (Mit Schriften ist sind die Texte gemeint, die wir heute als Altes Testament bezeichnen. Das Neue Testament gab es noch nicht!)
Das ließe sich als Aphorismus, als Lebensweisheit formulieren:
„In den Büchern wirst du nicht finden, was du suchst“.
Hier könnten wir eine Analogie sehen zur Mystik des Taoismus:
„Sag bar das Dao, doch nicht das ewige Dao,
nennbar der Name, doch nicht der ewige Name“ (Laotse, Tao-Te-King)
(Dao heißt „Weg“ im Sinne von „Methode“.)
Beiden, der Mystik des Johannesevangeliums wie der des Taoismus ist gemeinsam die Annahme: Es gibt einen Weg, es gibt eine Wahrheit, es gibt ein Leben …
Der Gegenspieler hierzu ist nicht ein anderes Verständnis von Wahrheit.
Der Gegenspieler hierzu ist die Zerstörung von Wahrheit und sich selbst an ihre Stelle zu setzen.
Beispiel: Bei den jüngsten Demonstrationen in Amerika gegen das Trump-Regime lautete ein Slogan: „Amerika ist von Migranten gegründet worden und nicht von Milliardären.“
Der Gegenspieler ist die populär-populistische Meinung: Unsere Rettung bestünde darin, sich selbst, das eigene Denken und Handeln absolut zu setzen.
In unserem Predigttext wird das so ausgedrückt: 40 Doch ihr wollt nicht zu mir kommen, um ewiges Leben zu haben. 41 Ich nehme keine Ehre von Menschen.“
Genau das ist die Frage: Wofür verwendet jemand sein Denken? Um sich in der Bewunderung seiner Mitmenschen zu spiegeln? Dann nimmt er „Ehre von den Menschen.“ So etwas wie Wahrheit interessiert ihn nicht. Ihn interessiert nur, was ihn selbst groß und bedeutend machen könnte. Und natürlich reich. „Wer zahlt, schafft an!“ So einfach ist das.
Eine radikal andere Haltung zum Leben ist, seine Energie dafür zu verwenden, zu erforschen, was „wirklich“ ist, was „wirklich“ stimmt, worauf ich mich in der Tiefe verlassen kann. Welcher Boden mich wirklich trägt.
Nüchterne Antwort: Das ist der Boden der Wahrheit. Der Boden dessen, was da ist.
Das ist etwas sehr Nüchternes. Thích Nhất Hạnh hatte sein erstes Erlebnis von Erleuchtung beim Reinigen der Latrine seines Klosters.
Erleuchtung ist wesentlich auf Gemeinschaft bezogen. Ansonsten ist sie ein narzisstisches Irrlicht.
Wer Bewunderung von Anderen sucht (Sucht!) lebt in Abhängigkeit von eben diesen Anderen Er ist verführbar. Er ist verführbar von solchen vermeintlichen Führern, die es lieben, sich bewundern zu lassen. Es sind die Führer mit den großen Verheißungen, die an der Realität zerschellen wie Seifenblasen, die auf den harten Boden der Tatsachen fallen. „Wenn ich Präsident bin, werde ich an einem einzigen Tag den Krieg zwischen der Ukraine und Russland beenden.“ … Von wegen!
Die Frage ist: Suchen wir einen Führer, der uns von unseren belastenden Gefühlen und Gedanken „erlöst“ – oder vertrauen wir uns einem Führer an, der uns vorlebt, wie das geht, Verantwortung zu übernehmen und fürsorglich für sich und für Andere zu leben. Der uns vorlebt, dass Belastungen, Schmerzen, Trauer, alles sogenannte „Unangenehme“ auszuhalten sind.
„Ich nehme keine Ehre von Menschen“ ließe sich auch übersetzen im Sinne: „Ich sammle keine Anerkennung von Menschen.“ Heißt: Ich gründe den Sinn meines Lebens, meinen Selbstwert nicht darauf, wie andere mich sehen. Vielmehr: Ich bleibe gelassen. Wer mich bewundern will, möge es tun, wer mich abwerten, schlecht finden will, möge es auch tun. Und wer mit all dem, was ich sage, gar nichts anfangen kann – das ist schade, aber das ist dann halt auch so. Dies alles trifft mich in der Tiefe nicht, weil ich mir darüber im Klaren bin: Es handelt sich ohnehin nur um Projektionen der Anderen auf mich.
Aus dieser nüchternen und ernüchternden Freiheit heraus fährt Jesus fort:
„…ich habe euch durchschaut: Ihr habt die Liebe Gottes nicht in euch.“
Das ist schon mutig, vielleicht auch ein bisschen vermessen, dies seinen Zuhörern auf den Kopf zuzusagen: „Ihr habt die Liebe Gottes nicht in euch!“
Und es sind ja nicht irgendwelche Zuhörer. Gemeint sind wie gesagt die religiösen Führungspersönlichkeiten der damaligen Zeit.
Wie meint er das?
„Ich bin im Namen Gottes gekommen, die mir wie Vater und Mutter ist, und ihr nehmt mich nicht an; wenn jemand anders im eigenen Namen kommt, den werdet ihr annehmen.“
Whow! Ist das aktuell! Wir leben in einer Zeit, in der die populistischen Verführer hoch im Kurs stehen. Die nicht für Inhalte stehen, sondern für Großartig-Sein. Verbunden mit der Botschaft: „Schließe dich mir an, dann mache ich dich auch so großartig!“
Und weiter: „Wie könnt ihr (an Gott) glauben, wenn ihr Anerkennung voneinander sammelt, statt nur die Anerkennung von Gott, der einzigen, zu suchen?“
Ich liebe diesen Jesus. Er spricht mir so was von aus dem Herzen.
Und das ist natürlich gefährlich.
Ich muss mich damit auseinandersetzen, dass es mir in meinem Leben (auch?) nicht möglich gewesen ist, innerhalb des Establishments – sei es des religiösen, sei es des psychoanalytischen – einen guten Platz zu finden. Ich bin (nur) Pfarrer im Ehrenamt; ich bin ein unbekannter Wald-und-Wiesen-Therapeut. Und niemand trägt daran Schuld. Aus dem Blickwinkel von „Karriere machen“ ist aus mir nichts geworden. Aus diesem Blickwinkel heraus bin ich gescheitert.
Gott sei Dank ist dies aber nicht der einzige Blickwinkel. Es gibt so viele Perspektiven, mit denen man auf sein Leben zurückschauen kann. Der Blickwinkel, die Perspektive, die Christus anbietet, ist die Perspektive Gottes. Für ihn ist das Leben seines Sohnes eine „Weisheit“ und keine „Torheit“ (Paulus). Diesen Gott hat Jesus so tief verinnerlicht, dass er dies alles benennen kann und dabei gelassen bleibt:
„45 Glaubt nicht, dass ich euch vor dem Vater anklagen werde. Mose ist euer Ankläger, auf den ihr hofft. 46 Denn wenn ihr Mose glauben würdet, würdet ihr auch mir glauben. Denn jener hat über mich geschrieben. 47 Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie könnt ihr (dann) meinen Worten glauben?“
„Ich klage euch nicht an!“
Vielmehr Mose ist euer Ankläger.
Übersetzt heißt das:
Die Wirklichkeit ist, was sie ist.
Solange ich Menschen anklage, erreiche ich gar nichts. Außer, dass ich ein bisschen von meinem Unmut loswerde. Was in der Regel dazu führt, dass sich die Fronten noch mehr verhärten.
Der einzige mir bekannte Weg ist der Versuch, den Anderen zu verstehen. Und es kann nicht mehr als ein Versuch sein. Nicht wenige Menschen wollen gar nicht verstanden werden.
Verstehen bedeutet nicht, dem Anderen Recht zu geben. Ich finde es gut, Petitionen zu unterschreiben oder zu initiieren. Ich finde es wichtig, an Demonstrationen für die Bewahrung unserer Demokratie teilzunehmen, Geld zu spenden für Greenpeace oder Campact, oder Weact, ich würde eine Initiative „Opas gegen rechts“ sofort unterstützen … um dann wieder loszulassen.
Ansonsten vermiese ich nur mein eigenes Leben und das Leben meiner Mitmenschen.
Teresa von Avila wusste, wovon sie sprach, als sie in ihrem Gebet vom Älter-Werden formulierte:
„Bewahre mich davor, ein alter Griesgram zu werden. Er ist das Krönungswerk des Teufels.“
Für mich heißt das: „Gott, bewahre mich davor zu verbittern. Schenke mir die Kraft, die Wirklichkeit so hinzunehmen, wie sie nun einmal ist. Und schenke mir die Kapazität, auszuhalten, wie schwer mir, wie schwer uns Menschen wirkliche Veränderung fällt. Denn jede Veränderung beginnt mit und bei mir selbst.
Im Tao-Te-King heißt es:
„Wer die Menschen kennt ist klug; wer sich selbst erkennt ist erleuchtet!“
Erleuchtung ist aber kein Ziel, sondern nur eine Etappe auf unserem Lebensweg.
Jakobus, der Namenspatron unserer Kirche, benennt das Ziel mit dem wunderbaren Satz: „Seid aber Täter des Wortes und nicht Hörer allein; sonst betrügt ihr euch selbst.“ (Jakobus 1, 22) Oder in anderer Übersetzung: „Folgt dem Wort, das in euch wirkt, indem ihr es in die Tat umsetzt. Sonst betrügt ihr euch selbst.“ (Sie finden den Satz unterhalb der Orgelpfeifen in unserer Kirche.)
„Sonst betrügt ihr euch selbst.“
„Lasst eure tiefen Erkenntnisse wirksam werden; das, was ihr in der Tiefe schon immer gewusst habt, macht es stark, bringt es auf die Welt – sonst macht ihr euch euer Lebtag etwas vor.“
„Und dann wundert ihr euch, dass ihr mit Depressionen zu tun habt“, füge ich hinzu.
Der Selbstbetrug besteht darin, dass nicht gelebt wird, was gesagt wird.
Was zählt, ist nicht, was jemand sagt. Was zählt, ist, was jemand tut.
Und deshalb höre ich jetzt auch auf zu reden.
Oder, auf bayrisch: „Mehr sog i ned!“ AMEN.
Nachbemerkung:
Ein alter chassidischer Rabbi fragte seine Schüler, woran man den Zeitpunkt zwischen dem Ende der Nacht und dem Anfang des Tages erkennen könne. Denn das ist die Zeit für bestimmte Gebete. „Ist er gekommen?“ schlug ein Schüler vor, „sobald man erkennen kann, ob eine in der Ferne gesehenes Tier ein Schaf oder ein Hund ist?“ „Nein“, antwortete der Rabbi.
„Ist er gekommen, sobald man auf der Handfläche die Linien klar erkennt?“ „Oder wenn man von einem Baum in einiger Entfernung sagen kann, ob es ein Feigen- oder ein Birnbaum ist?“ „Nein“, antwortete der Rabbi jedes Mal. „Wann ist er gekommen?“, fragten die Schüler.
„Er ist da, wenn du deine Mitgeschöpfe, Pflanzen, Tiere, Menschen als deine Brüder und Schwestern erkennen kannst. Bis dahin ist es noch Nacht…“