Predigt über Römer 12, 17 -21 am 4. Sonntag nach Trinitatis

„Überwinde Böses mit Gutem!“

Liebe Gemeinde,

vermutlich kennen das die meisten von uns: So ein Gefühl diffusen Gereizt-Seins. „Ich bin gestresst!“ sagt man dann. Oder „Ich bin nicht in meiner Mitte!“ Wer es wagt, genauer dahin zu spüren merkt: Ich bin ziemlich aggressiv. Aber warum eigentlich? Es ist ein Gefühl, als würde nichts passen. „Knatschig“, sagt man bei kleinen Kindern. Vielleicht ist es das Wetter. Oder der Mond. Oder beides.

Gibt man diesen Gefühlen mehr Raum, stellt sich oft heraus, dass die Möglichkeit fehlt, die Wirklichkeit, wie sie gerade ist und auf mich einwirkt zu akzeptieren. Die Sonne ist zu heiß, der Wind zu kalt, die Frisur passt auch nicht. Und überhaupt. „Ich fühle mich nicht wohl in meiner Haut!“ Was gänzlich fehlt ist die Freude am Dasein – ein kräftiges, heiteres „Ja – so ist es – und es ist gar nicht so schlecht, wie es ist!“

Die Texte unseres heutigen Sonntags handeln davon, wie Freude ins Leben kommen kann. Allerdings erst auf den zweiten Blick. Auf den ersten Blick sind sie typische fordernde Vorwurfs-Texte:

Seid barmherzig, wie Euer Vater barmherzig ist!“

Geht barmherzig mit Euch selber um!“

Richtet nicht!“

Lernt Euch kennen – schaut auf den Balken im eigenen Auge!“

Dies Kunst ist, das alles ohne auch nur den Hauch eines Vorwurfs zu erleben. Mit liebevollem Blick. Barmherzig eben.

Das klingt gut – und ist viel leichter zu predigen als zu leben.

Und noch leichter ist es, dies dem Anderen zu predigen – und sich selbst dabei wegzulassen. Das sind die Sätze, die irgendwie mit „sei doch so oder so …“ angehen.

Oder auch: „Wenn du anders wärst, dann könnte ich auch …“

Oder: „Ich verstehe nicht, dass du …“

In diesen Sätzen bleibe ich an den Anderen gebunden, halte an der Abhängigkeit zu ihm fest. Sie entstammen dem Gefühl, den Anderen in einer bestimmten Weise für mich zu gebrauchen. Es wäre doch schön, wenn der Andere genauso denkt und lebt wie ich. Es ist die Sehnsucht nach Harmonie oder gar Gleichklang. In der Gregorianik galt als vollendeter Ton die „Prim“. Das heißt, das Intervall, der Zwischenraum ist aufgelöst. Es gibt keinen Unterschied zwischen dem Einen und dem Anderen. „Wir sind alle eins!“ Oder: „Wir sprechen mit einer Zunge.“ Oder: Wir sind völlig im Einklang. Wer Kammermusik macht, im Chor singt oder vierhändig spielt, weiß, was ich meine. Nur – wie ist das mit dem Einklang im Alltag des Lebens? In einer Partnerschaft, mit Kindern, im Kirchenvorstand, in der Schule, im Beruf?

Es gibt Eltern, die meinen, sie täten ihren Kindern etwas Gutes, wenn sie „mit einer Zunge redeten.“ Wer als Kind so aufwächst, kann nicht lernen, dass Unterschiedlichkeit, Meinungsvielfalt nichts Böses ist, nicht zum beleidigenden Streit führen muss. Sondern zu lebendiger Diskussion, gegenseitigem Austausch in aller Verschiedenheit. Politisch ausgedrückt: Je größer die Sehnsucht nach Einheitlichkeit, desto unwichtiger sind jene Tugenden, auf denen Demokratie aufgebaut ist. Und desto unerbittlicher wird der/die „verfolgt“, der die Sehnsucht nach Harmonie stört. Er/sie gilt als „Störenfried“ – als Störer des Friedens. Dies gilt auch für religiöse Institutionen. Da heißen die Störenfriede „Ketzer“.

Die große Frage ist: Handelt es sich um einen echten Frieden, oder um einen faulen? Im Sinne von: „Friede, Freude, Eierkuchen!“ Im Sinne von: „Wir sind uns darin einig, dass alles gut ist. Und dem gnade Gott, der Widersprüchlichkeiten aufdeckt, der uns in unserer Sehnsucht nach Harmonie verunsichert!“ So entstehen die „geschlossenen Gesellschaften“. Anders-Denkende, diese Harmonie in Frage Stellende, sind unerwünscht! Werden ausgeschlossen – früher durchaus auch mal gekreuzigt, oder wenigstens verbrannt. Heute werden sie exkommuniziert – oder ganz einfach ignoriert. Manchmal auch erschossen. Jedenfalls gilt: Weg damit! In Beziehungen heißt das: „Wenn du so bist, will ich nichts mit dir zu tun haben! Du hast so zu sein, wie ich dich brauche!“

Natürlich macht sich einer nicht beliebt, der zu so einer geschlossenen Gesellschaft sagt: „Kann denn ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen?“ (Lukas 6, 39) Aus der Sicht der Gruppe ist das eine einzige Unverschämtheit! Sie will festhalten, bewahren. Gruppen, Institutionen sind wesentlich konservativ: Es gehört zu ihrem Wesen zu bewahren. Aus der Sicht der Gruppe ist der, der es wagt, ihre Werte, ihre Axiome in Frage zu stellen, böse. Wenn einer aufsteht und den Mut hat, laut zu sagen: Wie könnt Ihr nur so einem Führer hinterher laufen – der kann auch schon mal sein Leben riskieren. (Von daher unterlasse ich es an dieser Stelle, Namen zu nennen.)

In unserem heutigen Predigttext – ein Abschnitt aus dem Römerbrief – spitzt Paulus diese Gedanken zu auf die Frage: Was soll ich denn als Christ machen, wenn ich Unrecht und Unterdrückung sehe, oder wenn ich mich selbst unterdrückt und ungerecht behandelt fühle?

17 Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. 18 Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. 19 Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben (5.Mose 32,35): »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.«20 Vielmehr, »wenn deinen Fend hungert, so gib ihm zu essen; dürstet ihn, so gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln« (Sprüche 25,21-22). 21 Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.

Ich glaube, wer sich ernsthaft mit diesen Gedanken beschäftigt, der wird schnell zu der Einsicht kommen: Was für mich „gut“ und was für mich „böse“ ist – das gilt nur für mich, ist also höchst subjektiv. Es hängt von meinem Weltbild, meiner Haltung zur Welt ab. Für den Löwen ist die erbeutete Gazelle gut: Sie sichert sein Weiterleben. Für die Gazelle ist der Löwe „böse“ – er nimmt ihr nämlich ihr Leben.

Freilich: Das sind meine menschlichen Gedanken. Es ist meine menschliche Haltung, oder mein menschlicher Blickwinkel. In der Natur geht es anders zu. Da gilt: Es ist, was es ist. Der Löwe muss sein Löwe-Sein leben und die Gazelle ihr Gazelle-Sein. Der Traum vom Paradies, in dem Löwe und Lamm nebeneinander liegen, ist Ausdruck jener starken Sehnsucht nach Harmonie, von der ich vorhin sprach. Diese Sehnsucht ist eine spezifisch menschliche!

Für die jeweilige Gruppe ist der Störenfried ein Böser. Er stört ihren Zusammenhalt, ihren Wunsch nach harmonischem Beieinandersein. Je mehr er versucht aufzudecken, Defizite zu benennen, desto größer wird der Widerstand der Gruppe sein. Sie wird versuchen, ihn „einzufrieden“ (Martin Luther wurde das Amt eines Kardinals angeboten) – oder ihn „auszuscheiden“. (Früher hieß das, jemand ist „vogelfrei“ – das heißt, wer ihn tötet, muss keine Konsequenzen befürchten.) Die Gruppen, die ich persönlich kennen gelernt habe, sei es in der Psychotherapie, sei es in der Kirche, hatten wenig bis kein Interesse daran, sich selbst ernsthaft in Frage zu stellen. Es gab und gibt einen unhinterfragten Gruppenkonsens. (Bei psychoanalytischen Therapeuten wird bereits das Wort „Spiritualität“ vermieden. Sie scheinen es zu fürchten, wie der Teufel das Weihwasser. In kirchlichen Gruppen wiederum ist ernsthafte Selbsterfahrung, die notwendig schmerzhaft ist und Ängste erzeugt, nicht sehr hoch im Kurs.)

Es ist nämlich so: Jede Art des In-Frage-Stellens verunsichert, macht Angst: Und wer die Fundamente, die Basics einer Gruppe in Frage stellt, macht sehr große Angst.

Aktuelles aber harmloses Beispiel: In Pullach gibt es die Gruppe der Hundehalter. Für sie ist das Zusammenleben mit dem eigenen Hund schön. Für den oder die, die zur Zeit in Pullach giftige Köder auslegen, sind Hunde und wahrscheinlich insbesondere ihre Hinterlassenschaften eine ärgerliche Störung. Da sie offenbar vor Gewalt nicht zurück schrecken, legen sie giftige Köder aus, um die Quelle des Ärgernisses zu beseitigen. Wer dies tut, ist zum Untertan seines Hasses geworden. Der Hass will, dass die Störung verschwindet. Diesen Hass verbreiten die populistischen Führer. Sie und ihre Anhänger sind im Hass auf das Störende, Fremde verbunden. „Das darf man sich nicht bieten lassen!“ heißt es. „Vergebung – niemals!“ Vergebung, Nachsicht, Barmherzigkeit macht mich schwach. Es macht ihnen zu viel Angst, diese Haltung in Frage zu stellen. Es ist kaum zu glauben, aber es ist so: In den Propagandisten der Macht wohnen völlig verunsicherte, eingeschüchterte Kinder!

Und genau da kommt der Gedanke von Paulus ins Spiel: „Das Böse mit Gutem zu überwinden.“ Das heißt nämlich, darauf zu verzichten, die nahe liegenden Impulse der Rache und Strafe auszuleben. Das heißt nicht: Danach zu trachten, das Böse aus der Welt zu schaffen, zu vernichten. Das ist die Falle der moralisch anständig Lebenden: Ihre hohe Moral für Empörung und Hass auf die in ihren Augen Nicht-Moralischen zu verwenden. Ich habe mich bei der Fantasie ertappt, wenn man den erwischt, der die Giftköder ausgelegt hat, dann sollte man ihn zwingen, einen seiner Köder – es sind wohl vergiftete Toastbrote – selber zu essen. Diese Fantasie bereitet mir Genugtuung – und wahrscheinlich erlebe ich dabei ganz ähnliche Gefühle, wie sie derjenige hatte, als er die Köder ausgelegt hat. Anders ausgedrückt: Ich werde selber zu einem, der den Anderen vergiften möchte. Ich habe mich mit Hass infizieren lassen.

Nüchterne Erkenntnis: Indem ich versuche, den Hass zu vernichten, bleibe ich sein Untertan! Dies gilt auch für Paulus, der einen anderen Weg des Umgangs mit Hass, Rache und Vergeltung vorschlägt: Überlasse das Gott. Indem er das AT zitiert mit dem Satz: „Die Rache ist mein spricht der Herr …“ verschiebt er den Rache-Gedanken auf Gott. So entsteht ein strafender, richtender Gott. So entstehen Gedanken wie: „Den Corona-Virus hat uns Gott geschickt in seinem Zorn über die gottlose Party-Kultur.“ Oder, noch schlimmer: „Das Leiden der Juden ist eine Strafe Gottes dafür, weil sie seinen Sohn hingerichtet haben.“ In diesen Gedanken wirkt der Hass. Sie werden dann richtig gefährlich, wenn sich Menschen dazu aufgerufen fühlen, „im Namen dieses rächenden Gottes“ zu handeln. Diese Menschen haben Religion in Misskredit gebracht – ähnlich den Hundehaltern, die nicht bereit sind, den Kot ihrer Vierbeiner zu entsorgen!

Heißt das: Es ist zwar ein schöner Gedanke, das Böse mit Gutem zu überwinden, aber leider ist er unrealistisch? Ich glaube, was wirklich unrealistisch ist, das ist die Idee, das „Böse“ abschaffen zu wollen.

Es ist schon sehr viel erreicht, wenn es gehalten wird. Oder eingedämmt. Dazu ist im ersten Schritt nötig, das Böse als Böses zu benennen: Es ist ein Verbrechen, Hunde zu vergiften. Es ist ein Verbrechen, Gewalt gegen Kinder und Jugendliche anzuwenden: Sei es sexuelle Gewalt, sei es körperliche Gewalt. Ja – das ist böse. Vor kurzem hörte ich in den Nachrichten, dass jedem zweiten Kind Gewalt angetan wird. Und dass neun von zehn Kindern in Ländern leben, in denen dies nicht verboten ist. Es also nicht als ein Verbrechen gilt, Kindern Gewalt anzutun. So wie es Länder gibt, in denen sogenannte „Straßenhunde“ einfach erschossen werden!

So ist das. So sind wir Menschen.

Barmherzigkeit, Güte, Einfühlung muss man sich leisten können!

Das gilt auch für die Hundehalter, die keine Verantwortung für ihre Tiere übernehmen. Auch ich ärgere mich, wenn ich auf dem Weg zu meinem Auto in einen Hundehaufen trete. Das geht gar nicht anders.

Die Frage ist: Was folgt aus meinem Ärger?

Es bedarf einer starken Seele, mit dem Täter, genauer mit der „Täter-Seite“ des Täters in Kontakt zu kommen. Dies geht nämlich nur indem ich bereit bin, auch meine eigenen Täter-Seiten kennen zu lernen. Das wiederum kann ich nur, wenn ich differenziert genug bin. Wenn ich anerkennen kann, dass niemand nur Täter und niemand nur Opfer ist. Es sind vielmehr Beziehungen, die in eine Täter- und eine Opfer-Seite zerfallen sind. Man könnte auch sagen: Es sind Beziehungen, in denen Macht und Ohnmacht, Liebe und Hass, entmischt worden sind. Es sind Beziehungen, die in Dualität zerfallen sind.

Indem ich mich dem „Guten“ so zuwende, indem ich versuche, Böses mit Gutem zu überwinden, versuche ich, den „Zerfall“ in gut und böse gleichsam wieder rückgängig zu machen. Versuche ich zu „verbinden“, was auseinander gebrochen ist. Dies ist ein mühsamer und anstrengender Weg. Viel leichter ist es, sich in die Opfer einzufühlen und die Täter zu exkommunizieren. Damit aber werde ich selbst zum Täter. Leider fehlen diese weiterführenden Gedanken gänzlich in der Diskussion über sexuellen Missbrauch in der katholischen wie evangelischen Kirche. Es ist scheint zu gefährlich zu sein, auch Verständnis für die Täter-Seite aufzubringen – müsste ich mich doch unweigerlich dann auch mit meiner eigenen Täter-Seite beschäftigen.

Das Verleugnen der eigenen Täter-Seite führt bei Paulus zu einer ganz besonders raffinierten Variante der Rache: »Wenn deinen Feind hungert, so gib ihm zu essen; dürstet ihn, so gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln« (Sprüche 25,21-22). Übersetzt heißt das: „Du wirst den Anderen durch Freundlichkeit beschämen.“ Auch dieser Gedanke dient dazu, den eigenen Hass unterzubringen. Indem ich den Anderen mit meiner Freundlichkeit beschämen will, missbrauche ich diese für Vergeltung.

Der Weg raus, der Weg in die Freiheit, lautet: Sich des eigenen Bösen, des eigenen Hasses bewusst zu werden. Erst dann kann ich ihm Einhalt gebieten, ihn quasi einfrieden. Und erst dann habe ich die Chance, frei zu werden!

Für einen freien Mensch gilt: „Wenn deinen Feind hungert, so gib ihm zu essen; wenn ihn dürstet, so gib ihm zu trinken – ganz einfach deshalb, weil du einer bist, der so und nicht anders leben will! Weil du aus deiner Freundlichkeit und deiner Liebe heraus so – und nicht anders – mit deinem Nächsten umgehen möchtest!“

Für mich ist das die Haltung eines freien, besser befreiten Christen-Menschen. Um sie zu erlangen, benötigen wir die innere Verbindung mit einem starken, freien und liebevollen Gott – der es gerade nicht nötig hat, etwas zu vergelten oder gar, sich zu rächen. In diesen Gott sind wir hinein getauft, in diesem Gott verbinden und verbünden wir uns in der Feier des Heiligen Abendmahles. Und dieser Gott wirkt in uns immer dann, wenn wir uns unserer Fähigkeit zu lieben, zuwenden. Böses mit Gutem überwinden ist nichts weiter als eine mögliche Handlungsanweisung des Doppelgebotes der Liebe: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft. Und: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mk 12, 29)

Gebe Gott, dass wir täglich stärker und freier dafür werden, unseren Alltag nach diesen Worten auszurichten – so dass es immer selbstverständlicher und leichter wird, „Böses mit Gutem zu überwinden“, AMEN.

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