Predigt zur Ernennung als Pfarrer im Ehrenamt über 1. Petrus 2,18-25

Predigt zur Einführung in das Amt des „Pfarrers im Ehrenamt“
am Sonntag Misericordias Domini in der Jakobuskirche in Pullach
(25. April 2004) über 1. Petrus 2,18-25

Gnade sei mit Euch und Friede – von Gott unserem Vater und Jesus Christus unserem Henrren.

Liebe Gemeinde,

als ich mit Herrn Pfr. Bordon den heutigen Sonntag vereinbarte, an dem ich als Pfarrer i.E. in die Gemeinde eingeführt werden sollte, freute ich mich sehr. Ich schlug sofort nach, um welchen Sonntag nach Ostern es sich handeln würde: Misericordias Dei – die Barmherzigkeit Gottes!  In der jüdischen Tradition wird das große Hallel (Ps. 126) gesungen – der die Wunder der Schöpfung Gottes preist – mit dem Refrain: „Preist Jahwe, denn er ist gut, in Ewigkeit währt sein Erbarmen.“ Jahwe, der barmherzige Gott. Das ist der gute Hirte, verdichtet in Ps. 23 und von uns Christen in besonderer Weise auf Jesus Christus angewandt. Ein Sonntag fast zum Jubeln also (Halleluja heißt ja jubeln, jauchzen). Wie von selbst kamen mir Melodien ins Ohr, aus Haydns Schöpfung irgendwie vermischt mit  „Morning has broken“ von C. Stevens. – Jetzt noch ein schöner Preditgttext dachte ich mir – dann kann eigentlich nichts mehr passieren!

Und wie das so ist im Leben, folgen auf Hochgefühle gerne Ernüchterungen. Und das gelang dem heutigen Predigttext aus dem 1. Petrusbrief mühelos – mich zu ernüchtern, mich ratlos zu machen, mich stark zu verunsichern. Es geht schon damit los, dass man sich nicht einigen konnte, ab wo der Text angehen sollte: in der alten Predigtreihe beginnt er bei Vers 21, in der neuen bei Vers 21 b – und liest man die Kommentare von Neutestamentlern, so erfährt man verblüfft, dass alle der Meinung sind, nur wenn man auch noch die Verse 18 und 19 hinzu nimmt, ist der Text in seiner Ganzheit zu verstehen. Wenn also schon formal solche Probleme sind – um welchen Inhalt muss es sich dann erst handeln? Kurz noch ein Wort zur Geschichte des Textes: der 1. Petrusbrief wurde wohl zwischen 80 und 100 n.Chr. in Rom als theologisches Rundschreiben  verfasst; sein Verfasser bediente sich der Autorität des Heiligen Petrus, um diesem Schreiben Gewicht zu verleihen. Das Schreiben sucht Hilfestellungen für den Alltag der Christen zu geben – in unserem Abschnitt wendet sich der Verfasser explizit an die Sklaven unter den Christen, um an deren Schicksal seine Auffassung über die Nachfolge Christi zu veranschaulichen.
Und jetzt: hören Sie selbst: 1. Petrus 2, 18-25.

„Ihr Sklaven sollt in allem Respekt euren Herren untergeben sein, und zwar nicht nur den Guten und freundlichen, sondern auch den unguten. Denn das ist Gnade, wenn jemand in der Bindung an Gott Schweres hinnimmt und ungerecht leidet. Welcher Ruhm liegt nämlich darin, wenn ihr für Verfehlungen Mißhandlungen zu ertragen habt? Aber wenn ihr Gutes tut und deshalb Leiden ertragen müßt, das ist Gnade vor Gott. Dazu seid ihr ja berufen, weil auch Christus für euch gelitten hat und euch ein Vorbild hinterließ, damit ihr seinen Spuren folgt. Er hat keine Sünde getan, und man fand keine Falschheit in seinem Mund; er wurde beschimpft und schimpfte nicht zurück, mußte leiden und drohte nicht, sondern überließ (alles) dem gerechten Richter. Er selbst hat unsere Sünden an seinem Leib aufs Holz hinaufgetragen, damit wir den Sünden absterben und der Gerechtigkeit leben. Durch seine Strieme seid ihr geheilt. Ihr irrtet nämlich umher wie die Schafe, aber jetzt seid ihr umgekehrt zum Hirten und Beschützer eures Lebens.“

Einerseits: Jubel über die Schönheit der Schöpfung, die Wunder des Lebens, die Barmherzigkeit des Schöpfers, die Güte des Hirten – das ist der Eingangsakkord des Sonntags –
und dann diese Modulierung: Ungerechtigkeiten, Unterordnungen vielleicht sogar Demütigungen, bis hin zu Gewalt und Grausamkeiten („Striemen“ ) sind hinzunehmen, ja gelten als Ausdruck von Gnade.
Wie geht das zusammen? Das ist die entscheidende Frage. Denn: bleiben die beiden Seiten zerrissen, dann bleiben auch die Menschen in zerrissenen Gefühlen stecken: einerseits im manischen Triumph des „mir kann nichts passieren, ich stehe über den Dingen“ und andererseits im Essigtopf des: „jetzt ist es zu spät, es hat doch eh alles keinen Sinn, man muß halt das Leben über sich ergehen lassen.“

Der Autor unserer Briefstelle stellt folgende, höchst aktuelle These auf: Nur wer sich traut, durch den Schmerz (das Leiden) zu gehen, der bekommt auch wirklich am Leben Anteil. Vorbild und Vermittler dieses Geschehens ist kein anderer als Jesus Christus selbst. In dem Sinne ist er der „gute Hirte“, weil in seiner Art und Weise mit Leiden umzugehen, die Barmherzigkeit Gottes offenbar geworden ist, er sie uns offenbart hat. Was aber war die Besonderheit seines Umganges mit Leid? Er hat – wie der Neutestamentler Norbert Brox so schön schrieb, „die Multiplikation des Bösen“ durchbrochen. Indem er nicht Hass mit Hass, Ungerechtigkeit mit Ungerechtigkeit vergolten hat. Also nicht mehr Auge um Auge. Aber mehr noch: und  das ist der bleibende Stachel des Lebens Jesu und seines Evangeliums (der eigentliche „Skandal“) – jedenfalls nach meinem Verständnis: Er hat nicht nur Ungerechtigkeit nicht mit Ungerechtigkeit vergolten – er hat sie auch nicht mit Recht vergolten. Er hat Ungerechtigkeit überhaupt nicht vergolten! Er hat sie „erlitten“ in des Wortes ursprünglicher Bedeutung – er hat sie geschehen lassen – aber nicht so, dass er depressiv eingebrochen wäre, sondern so, dass er in seiner Passivität seine Aktivität und Vitalität ganz neu entdeckt hat: nämlich sein nicht brechbares Vertrauen in seinen Gott. Sogar in diesem harten, scheinbar verzweifelten Satz des „mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“, wendet er sich an seinen Gott! Sterben müssen ist die Herausforderung für das Vertrauen in Gott – einer Herausforderung, die ich umgehe, wenn ich vorschnell den Gedanken der Auferstehung hinzunehme: Jesu Besonderheit ist seine Fähigkeit, sich der „dunklen Nacht Gottes“ – wie der Heilige Johannes v. Kreuz so schön schreibt – zu überlassen. Das heißt sich nicht aus dem Vertrauen an den barmherzigen Gott bringen zu lassen – gerade dann, wenn kein Licht am Ende des Tunnels leuchtet!
Das hat der Verfasser von 1. Petrus verstanden – und deshalb eignen sich die Sklaven in ganz besonderer Weise dafür, um  seine Anschauung der Bedeutung der vita Jesu deutlich zu machen – deutlich zu machen für alle Christen! Es wäre ein großes Mißverständnis und ein Mißbrauch unseres Textes, ihn in irgendeinerweise politisch auszuschlachten. Darum geht es nicht.

Der theologische Schlüsselsatz unserer Textstelle und des ganzen Briefes ist Vers 19 – den man nicht weglassen sollte: „Denn das ist Gnade, wenn jemand in der Bindung an Gott Schweres hinnimmt und ungerecht leidet.“

„Gnade“ (Charis – wörtlich: Anmut, Schönheit, dann Geschenk, nicht zu Machendes) und „Leiden“ (Paschein – wörtlich erleben – Angenehmes wie Unangenehmes) gehört untrennbar zusammen.
Wir leben in einer Zeit und in einer Gesellschaft, in der Leiden, Schmerz und Tod hinter sterilen Glasfassaden abgeschirmt, betäubt und entkeimt wird. Welche Kreativität hat die Menschheit jedenfalls in unserer westeuropäischen Kultur darauf verwandt, sich mit Tod, Krankheit, Schmerz, Trauer, Schwäche nicht konfrontieren zu müssen. Dabei ist in Vergessenheit geraten, was in unserem Brief zusammengehalten wird: Anmut und Schönheit – Gnade – zu erleben heißt sie zu erleiden. Wer verlernt hat aus der Tiefe heraus zu weinen, kann sich auch nicht aus der Tiefe heraus freuen. Und wer „Leiden“ als Kränkung für die eigene vermeintliche Stärke und Unverwundbarkeit erlebt, kann auch nicht mehr sagen: „es tut mir leid!“ Ein weitgehend aus der Mode gekommenes Wort – das eine so wohltuende und versöhnende Wirkung haben kann, wenn es wirklich so erlebt wird.
In dem schönen alten Wort „Wachstumsschmerzen“ ist das Wissen um die Zusammengehörigkeit erhalten: zu wachsen, körperlich wie seelisch, tut immer auch weh, weil wachsen, sich entwickeln ein nicht Machbares und in diesem Sinn ein zu Erleidendes ist. „Wachsen“ „Entwicklung“ geschieht.

Das sich drein fügen in den Schmerz (auch der Ungerechtigkeit) setzt allerdings eine Intuition dafür voraus, dass der Schmerz, das Leiden ja der Tod nicht das letzte Wort haben. Denn Schmerzen bloß um der Schmerzen willen auf sich zu nehmen – hat eher mit Masochismus als mit Wachstum zu tun. Durch die dunkle Nacht der Unsicherheit, des Schmerzes zu gehen, setzt eine Vorahnung von „Leben“ voraus – und zwar: und jetzt scheine ich mir selbst zu widersprechen: jenseits von Krankheit, Schwäche Tod und  Schmerz! Ich meine mit jenseits des Schmerzes etwas, was in unserer Briefstelle in einem Bild ausgedrückt wird: „Ihr irrtet nämlich umher wie Schafe, aber jetzt seid ihr umgekehrt zum Hirten und Beschützer eures Lebens.“ Dieses Bild ist die Veranschaulichung dafür, warum es Gnade ist, „wenn jemand in der Bindung an Gott Schweres hinnimmt und ungerecht leidet“. Ich möchte diesen Zusammenhang mit Hilfe eines eigenen Traumbildes verdeutlichen, das zu einem Traum gehört, den ich in der Zeit der Vorbereitung auf diesen Gottesdienst träumte:
„Ich predige in einem Raum, der so aussieht wie diese Kirche, aber auf einer Seite ist eine große milchige Wand, wobei unklar ist, ob es eine Milchglasscheibe ist, oder Nebel. Es sind vornehmlich ältere Menschen im Raum und wir blicken gemeinsam auf dieses diffuse Etwas. Während ich rede – ich weiß nicht mehr worüber – lichtet sich der Nebel und man sieht ein herrliches Bergpanaorama, mild  erleuchtet von den letzten Strahlen einer rötlichen Abendsonne. Wir schweigen gemeinsam, sind angerührt von dem wunderbaren Blick. Und ehe wir uns versehen, ist die Sonne am Untergehen und wird abgelöst von einem sternenklaren Himmel. Und jemand sagt vorwurfsvoll: das hat doch alles keinen Sinn – was nützt es, die Sonne zu sehen, wenn sie eh gleich untergeht. Lieber hätte ich sie nicht gesehen! Und jemand anderes sagt: wer die Sonne gesehen hat, hält die Nacht leichter aus. Und vielleicht wird morgen ja wieder ein schöner Tag. Und überhaupt: schau doch, wie schön diese Nacht ist.“

Die Stimme die sagt: es tut mir zu weh, die Sonne zu sehen, weil ich nicht aushalten kann, dass sie untergehen wird; lieber bleibe ich im Nebel, das tut wenigstens nicht weh – das  ist die Stimme des vermeidenden Schmerzes. Sie sagt: „Warum muss gerade jetzt die Sonne untergehen?“ „Warum habe ich das nicht früher gesehen – überhaupt: warum gerade ich?“ Diese Stimme verweigert sich der Hingabe an das Jetzt – paradoxerweise auch dem Genießen der Schönheit – aus Angst vor dem Schmerz der Vergänglichkeit. Dem Schmerz der Trennung.
Die zweite Stimme ist wachstumsfördernd und lebensbejahend. Sie sagt: auch wenn die Sonne nicht mehr scheint, gibt es eine Erinnerung daran – und eine Hoffnung auf einen neuen Tag. Und ein Sich-Einfügen in das was jetzt ist: nämlich Nacht. Diese Stimme hat gelernt, darauf zu vertrauen, dass es Wandlungen und Verwandlungen gibt. Die Gegenwart ist nicht festgeschrieben, sondern ist selbst im Werden. Diese Stimme hat gelernt, dass Trennungen zum Leben gehören, ja lebensdienlich sind. Diese Stimme hat erlebt und erlitten, dass sich Neues nur einstellen kann, wenn Altes freundlich verabschiedet worden ist. Und das tut weh. Wir können dies übrigens mit jedem Atemzug wahrnehmen: indem ich ausatme, den verbrauchten, alt gewordenen Atem loslasse und die dunkle Nacht des Nicht-Atmens wage, erlebe ich, wie aufs Neue die Luft das Leben in meine Lungen strömt: es atmet mich.
Aber was ist, wenn kein freundlicher Abschied möglich war – was ist, wenn das kleine Kind seine Mama oder seinen Papa durch einen Unfall verliert? Was ist, wenn man – warum auch immer, die eigene Heimat verlassen muss – und nicht ohne weiteres zurückkehren kann. Was ist, wenn der Freund, den man so gern mochte, der Führer, dem man so viel zu verdanken hat als Straftäter hingerichtet wird? Was ist, wenn Trennung verklebt ist mit Gewalt, mit Unrecht, ja mit Verbrechen? Das ist das Schicksal der Hinterbliebenen Jesu – seiner ersten Jüngerinnen und Jünger Jesu – ihr geliebter Rabbi wurde in ihren Augen völlig ungerecht hingerichtet. Und das ist die Keimzelle des Evangeliums, der frohen Botschaft – die Idee, dass der Tod nicht das letzte Wort hat, dass sich Hass verwandeln lässt in Liebe, Angst verwandeln lässt in Vertrauen, Sterben verwandeln lässt in Leben. Das ist eine ganz andere Botschaft als die, man dürfe Ohnmacht nicht hinnehmen, man darf sich Ungerechtigkeit nicht bieten lassen, man muß das Böse ausrotten.

Liebe Gemeinde,
Jesus hat als Christus vorgelebt, dass sich Leiden, ja der Tod verwandeln läßt. Durch Jesus  – und so wurde er zum Christus – ist der völlig neue Gedanke auf die Welt gekommen, dass Leiden, Schmerzen auch Schuld nicht abgespalten, nicht exkommuniziert werden müssen – sondern ertragen werden können in dem Vertrauen auf ihre Verwandlung. Dieses unbedingte Vertrauen hatte Jesus zu seinem Gott, dieses Vertrauen ist die „Bindung an Gott“ unserer Briefstelle und dieses Vertrauen lässt sich in keine Todesgruft einsperren. Psychologen haben herausgefunden, dass gut an ihre Eltern gebundene Kinder die besten Chancen für ein freies und zufriedenes Leben haben. Gut gebunden sein, heißt, sich trennen zu können, ohne den anderen zu verlieren. Gut in Gott gebundene Menschen fühlen sich von ihrem Gott wie von einem guten Hirten begleitet – einem Hirten, dem es um das Wohlergehen seiner Schafe geht und nicht um deren Gängelung oder Knechtung. Jesus hat zu diesem Gott „abba“ gesagt und bis in die Gealt seines Todes hinein vertraut, dass dieser Gott barmherzig ist: ein Herz hat gerade für die Verwirrten und Verzagten, gerade für die, die  Schmerzen erleiden und ungerecht behandelt werden, gerade für die, die sich verlassen – mutterseelen allein – fühlen.

So ist Jesus zum Christus geworden, zum guten Hirten und „Beschützer“ unseres Lebens. In  dem Vertrauen auf diesen Christus und in der Bindung an diesen Gott des Lebens können wir neu zurückkehren zu unserem Ausgangspunkt: durch den Schmerz hindurch gegangen können wir jetzt neu mit dem Psalmisten singen: Das Leben ist schön – preist Jahwe, den Schöpfer und barmherzigen Gott, durch ihn und mit ihm und in ihm lebt und webt seine Schöpfung – und wir haben daran Anteil – welch eine Gnade!

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Sinne in Christus Jesus Amen.

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