Liebe ökumenische Gemeinde,
ich weiß nicht, wie es mir jetzt erginge, wenn ich an Ihrem Platz, als ganz normaler Gottesdienstbesucher, heute mit dabei wäre. Ich vermute, der Text aus dem AT, Jesaja 42 – dass er das geknickte Rohr nicht brechen und den glimmenden Docht nicht erlöschen wird – würde bei mir Befremden auslösen. Was wäre das denn für ein Gott, der das ohnehin schon geknickte Rohr bricht, den ohnehin nur noch glimmenden Docht auslöscht? Ein Sadist?
Und das Evangelium: na ja, das ist die bekannte Ermahnung, „seid bereit, denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, da ihr’s nicht meint.“ Und zur Ermahnung gehört die Androhung der Konsequenzen: gut verpackt in dem „selig sind die Knechte, die wach sind!“ Es bleibt uns überlassen, sich auszumalen, was mit den Knechten passiert, die eingeschlafen sind. Jedenfalls sind sie nicht selig! Heißt genauer: die haben Pech gehabt. Selber schuld, wenn sie schlafen! Und das Kommen des Messias verpennen. Kann man ihnen auch nicht helfen.
Ein freundlicher Messias ist das für mich auch nicht. Ein freundlicher, liebevoller Messias, der würde doch die schlafenden Knechte aufwecken – um dann mit allen gemeinsam am Tisch zu sitzen und zu Abend essen? Oder etwas nicht?
Mir ist aufgefallen, dass in den von mir recherchierten Predigten zu diesem Text kein einziger Prediger diese naheliegende Frage stellt: warum weckt denn der Messias, der doch angeblich Ausdruck der unendlichen Geduld, Barmherzigkeit und Liebe Gottes ist, die schlafenden Knechte nicht auf?
Wahrscheinlich darf man als evangelischer Pfarrer oder als katholischer Priester so nicht denken.
Als jüdischer Rabbi schon eher: „Will der Messias in Ruhe kommen, dann mag er kommen; wir warten sehnsüchtig auf ihn. Will er aber im Sturm kommen und Leid und Not über die Welt bringen, dann soll er überhaupt nicht kommen, dann bedürfen wir seiner nicht und verzichten auf ihn!“ So hat sich Rabbi Meir einmal geäußert. Ganz schön mutig!
Wenn uns Christen nichts anderes einfällt, als die bekannte Botschaft: „wenn du nicht brav bist, dann mag dich der liebe Gott nicht“, dann ist es gut, wenn das Christentum allmählich ausstirbt. Diese Botschaft kann getrost entsorgt werden.
Ja und dann?
Haben wir dann noch etwas zu sagen?
Ich denke doch. Freilich etwas anderes. Etwas radikal anderes.
Der alte Karl Rahner hat einmal gesagt: „Das Christentum der Zukunft wird ein Mystisches sein, oder es wird nicht mehr sein!“
Was heißt das?
Ich werde Ihnen veranschaulichen, was ich darunter verstehe, indem ich mich dem vorhin gehörten Texten neu zuwende.
Die entscheidende Frage ist, wofür ich die Gedanken, die ich denke, die Texte, die ich lese, verwende. Eine verbreitete Verwendung von Religion ist es, den eigenen Hass, den eigenen Neid so in Predigtgedanken und Textauslegungen unterzubringen, dass die Welt zerfällt in die Falschen und die Richtigen, in die Bösen und die Guten. Und der, an den ich glaube, der Messias, oder Mohammed, oder wer auch immer, der ist natürlich auf meiner Seite: er gehört – wie ich, wie wir – zu den Richtigen, den Guten!
Nun geht es in unserem Evangelium – um damit zu beginnen – aber überhaupt nicht um richtig oder falsch: es geht um eine bestimmte Haltung zum Leben. „Seid auch ihr bereit!“ Das ist die Botschaft unseres Textes. Im Griechischen heißt das: „Ginesthe hetoimoi!“ „Hetoimoi“ heißt „bereit“. „Ginesthe“ kommt von „ginomai“ (altgriechisch „gignomai“) und das heißt in seiner Grundbedeutung: „zum Dasein gelangen, werden, entstehen!“
Das heißt, es wäre ungefähr so zu übersetzen: euer Bereit-Sein ist eines, das im Werden, im Entstehen ist. Ihr könnt es genau nicht machen! (Das gilt übrigens auch für den „Sinn“, von dem wir meinen, er wäre machbar: „das macht Sinn!“ Was wir machen können, ist höchstens Un-Sinn. Aber auch das stimmt nicht. Michel aus Lönneberga wusste es: „Unsinn“ oder „Unfug denkt man sich nicht aus. Unfug wird’s von ganz allein. Aber dass es Unfug war, weiß man erst hinterher.“ „Dann, wenn Papa Miichel schreit“, sagte Ida. )
Was können wir dann machen? Wir können versuchen, uns etwas bewusst zu machen. Um mir etwas bewusst machen zu können, muss ich aus der Selbstverständlichkeit und Routine meines Lebens ein bisschen aussteigen. Ich muss die Kraft haben, meine Gedanken, mein Tun in Frage zu stellen. Dies erfordert Kraft, weil damit eine Verunsicherung einhergeht. Gängigerweise quillt meine Sicherheit daraus, dass etwas so ist, wie ich es sage, sehe, meine.
„Seid bereit!“ hieße dann: versucht in einer Haltung zu leben, in der ihr offen/bereit für das Unerwartete, für die Überraschung seid. Dies ist eine Haltung in der ich mich von meinem Vorher-Wissen: „wie es denn sein wird“ distanziere. Einfaches Beispiel: was Sie mit diesen Gedanken, die ich hier äußere, machen, darauf habe ich keinen Einfluss mehr. Indem ich dies anerkenne, entsteht zwischen Ihnen und mir Freiheit. Aber eben auch Ungewissheit.
Und eben diese Ungewissheit tut so gut.
Solange sie nicht zu viel Angst macht. Angst ist ein großer Gegner der Ungewissheit. Die Kraft, die Angst mildert, heißt Vertrauen. Hierher gehört unser Text aus dem AT: „Er wird das geknickte Rohr nicht brechen!“ Das geknickte Rohr – das bin ich in meinen Ängsten, in meiner Zaghaftigkeit, in meiner Unsicherheit. „Der glimmende Docht“ – das bin ich in meiner Dunkelheit, in meiner Müdigkeit, in meinem Abgebrannt-Sein.
Je mehr mich meine Ängste umfangen und einschließen, desto erschöpfter werde ich sein. Desto weniger Platz für Aufmerksamkeit, Wachsamkeit, Achtsamkeit finde ich in mir. Desto mehr ziehe ich mich in meine Welt hinein zurück und versuche so durchzukommen, dass ich nichts und niemand mehr an mich wirklich herankommen lasse. Da kann dann selbst der Messias an meiner seelischen Türe klopfen – ich werde ihn nicht hören. Ich will nämlich nur mehr eines: „meine Ruhe!“
Wer sich auf den Messias wirklich einlässt, dessen „Ruhe ist hin“. Zumindest an der Oberfläche. Wer den Messias in sich hinein lässt, der lässt das Leben in sich hinein. Das Leben aber ist nichts Perfektes, nichts Abgeschlossenes. Leben ist immer vor-läufig, voller Überraschungen. Und das sind durchaus nicht nur schöne Überraschungen.
Und weil Leben so ist, habe ich aufgegeben, mir gute Vorsätze zu machen. Selbst die besten Vorsätze sind hausgemacht. Ich will in 2015 eine Haltung finden, die sich in unseren Texten ausdrückt: die Haltung der Achtsamkeit für mich und all jene und jenes, womit ich zu tun habe. Ich weiß, dass diese Haltung eines starken Vertrauens bedarf. Auch dieses finde ich in den Texten der Bibel. Und ich hoffe, dass ich es täglich neu geschenkt bekomme. Und mit Michel aus Lönneberga bin ich der sicheren Überzeugung: was es war, was es bedeutete, was ich da zu erleben habe – davon bekomme ich immer erst im Nachhinein eine Ahnung oder manchmal auch ein Wissen. Leider gibt es keinen Papa mehr, der „Miichel“ schreit – woran man sich dann orientieren könnte.
Zur Veranschaulichung meiner Gedanken und zum Abschluss meiner Silvesterpredigt noch eine Geschichte – von Anthony de Mello mit leichten eigenen Abwandlungen:
„Der Priester gab bekannt, dass Jesus Christus selbst am nächsten Sonntag in die Kirche kommen würde. Die Gemeinde kam in großer Zahl um ihn zu sehen. Jedermann erwartete, dass er predigen würde. Jeder bot ihm Gastfreundschaft für die Nacht an, besonders der Priester, aber er lehnte höflich ab. Er sagte, er wolle die Nacht in der Kirche verbringen.
Am nächsten Morgen schlich er sich früh davon, noch ehe die Kirchentore geöffnet wurden. Und zu ihrem Entsetzen entdeckten der Priester und die Gläubigen, dass ihre Kirche mutwillig beschädigt worden war. Überall an den Wänden stand geschrieben: „Gebt Acht!“ Kein Teil der Kirche war verschont geblieben, Türen und Fenster, die Säulen, die Kanzel, der Altar, nicht einmal die Bibel auf dem Pult. „Gebt Acht!“ In großen oder kleinen Buchstaben war es eingekratzt mit Bleistift, Feder, in jeder nur denkbaren Farbe hingemalt. Wohin das Auge blickte, sah man die Worte: „Gebt Acht, gebt Acht, gebt Acht, gebt Acht!“
Erschreckend, aufreizend, verwirrend, faszinierend, furchterregend. Worauf sollten sie Acht geben? Das stand nicht da. Es hieß nur „Gebt Acht!“ In einer ersten Regung wollten die Leute jede Spur dieser Schmiererei, dieses Sakrilegs wegwischen. Nur der Gedanke, dass Jesus selbst es getan hatte, hielt sie davon ab.
Nun begann dieses geheimnisvolle „Gebt Acht!“ in das Innere der Menschen einzusinken, wenn sie die Kirche betraten. Sie begannen auf die Heilige Schrift achtzugeben und lernten daraus für ihren Alltag. Sie begannen auf die Sakramente zu achten und lernten daraus für ein ganzheitliches Leben. Der Priester begann darauf acht zu geben, was die Bedürfnisse seiner Gemeinde sind und wie er mit ihnen in Kontakt kommen könnte. Und jedermann begann auf die eigene Religion zu achten in liebevoller Toeleranz für die anderen Religionen: denn wer nicht Acht gibt wird leicht selbstgerecht. Sie begannen die Gebote zu achten, sodass sie gesetzestreu wurden und barmherzig blieben gegenüber denen, die sich damit schwer taten. Sie begannen auf das Gebet achtzugeben; sie leierten es nicht mehr herunter und entdeckten so die alten Gebte ganz neu. Allmählich verwandelte sich sogar ihre Vorstellung von Gott: indem sie sich bewusst wurden, was sie mit „Gott“ verbanden, erkannten sie Gott immer häufiger außerhalb der Kirche – im Alltag ihres Lebens.
Schließlich schrieben sie das aufrüttelnde Wort über den Eingang ihrer Kirche, und wenn man in der Nacht vorbeifährt, kann man es in mehrfarbigem Neonlicht über der Kirche leuchten sehen: „GEBT ACHT!“
Gebe Gott, dass diese Neue Jahr unsere Achtsamkeit schärft. Gebe Gott, dass unsere Bereitschaft, uns auf Unerwartetes und nicht Vorhergesehenes einzulassen, wächst. Gebe Gott, dass unser Vertrauen alltäglich unsere Ängste besiegt, so dass wir die eigentümliche Färbung der vielen Lebensaugenblicke, die uns noch geschenkt werden, dankbar und innig empfangen dürfen. Gebe Gott, dass aus unseren Augen seine Liebe ausstrahle und unsere Handlungen vom Geist seiner Barmherzigkeit durchweht werden, AMEN.