Sonntag Judika (2010)

Predigt über Hebräer 5, 7-9 in Pullach Sonntag Judika 2010
Von Lothar Malkwitz
Gott zur Ehre

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen, AMEN.

Liebe Gemeinde,

Sie haben es sicher schon gemerkt: Karfreitägliche Klänge geben diesem Gottesdienst seine besondere Tönung: „Ehre sei dir Christe, der du littest Not, an dem Stamm des Kreuzes, für uns bittren Tod!“ Dazu passend das Violett der Paramente: Violett: die Farbe des Leids, aber auch der Spiritualität, der Transzendenz, des Übergangs.

Das Evangelium weist auf Probleme des Übergangs hin: Der Streit der Jünger um die besten Plätze im Reich Gottes – eine aufschlussreiche Geschichte über die Probleme des jungen Christentums: war es doch entstanden, weil Jesus die Hierarchie der vorhandenen religiösen Gruppe reformieren wollte. Unsere Geschichte macht deutlich: wo Menschen zu Gruppen werden, wo Menschen sich gruppieren, entstehen unweigerlich Probleme von Macht und Einfluss, von oben und unten, von Hierarchie eben. Jesus löst diese Probleme nicht: er verweist auf Schranken, gibt narzisstischen Sehnsüchten Einhalt: „Die Plätze zu meiner Rechten und Linken zu vergeben steht nicht in meiner Hand“ ist seine unnarzisstische, „negative“ Antwort. Und, „positiv“: „Wer unter euch groß sein will, muss Diener, wer unter euch der Erste sein will, muss aller Knecht sein.“ Dabei verweist er auf sein eigenes Schicksal: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele.“

„Schau hin nach Golgatha!“ – das sollte die Blickrichtung derer sein, die ernsthaft sich auf Jesus und seine Botschaft einlassen wollen.

Und inmitten dieser Passions-Motive steht der heutige Predigttext, ein kurzer Abschnitt aus dem Hebräerbrief, wo es heißt:

7 Er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Gebete und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen dem dargebracht, der ihn vom Tod erretten konnte; und er ist auch wegen seiner Gottesfurcht erhört worden.
8 Und er lernte, obschon der Sohn seiend, an dem was er erlitt Gehorsam,
9 und als er vollendet war, ist er allen, die ihm gehorsam sind, der Urheber ewigen Heils geworden.

Unser Predigttext beginnt mit dem irdischen Leben Jesu, das auf Golgatha endete: „Er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Gebete und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen dem dargebracht, der ihn vom Tod erretten konnte.“

Dies ist ein Satz darüber, dass der, den wir Christus nennen, ein Mensch war. Ein Mensch aus Fleisch und Blut. Ein Mensch, dem „Versuchungen“ nicht fremd sind, wie es wenig früher heißt. Ein Mensch, der weint, der zweifelt, der fleht, der bittet – kurz: ein Mensch, der lebt. Arm dran ist nicht der, der weint, der leidet, der hofft, der liebt, der fehlt – arm dran ist der, dessen Tränen versiegt sind, der in einem steinernen Käfig ohne Gefühle Leben muss.

Und wenn es weiter heißt: dieses sein Mensch-Sein hat er „dem dargebracht, der ihn vom Tod erretten konnte“ dann heißt das: Jesus lebte sein Leben in Beziehung – in Beziehung zu seinem Gott! Jesus lebte sein Leben als frommer Jud’ könnte man sagen, in Gottesfurcht und Gehorsam zu seinem Gott, den er Vater nannte. Jesus weinte, schrie, flehte, betete nicht ins Leere hinein – sondern in die lebendige Beziehung zu diesem seinem Vater.

„Und er ist wegen seiner Gottesfurcht erhört worden.“ Man könnte auch übersetzen: „er ist aus seiner Angst heraus erhört worden.“ Die erste Übersetzung betont mehr die Ursache des Erhört-Werdens, die Gottesfurcht („weil er Gott in Ehren hielt“ übersetzt Luther), die zweite Übersetzung betont mehr die Folge des Erhört-Werdens: die Befreiung von der Angst. Beides sind aber nur verschiedene Seiten derselben Medaille: aus der Furcht, wörtlich „Scheu“ gegenüber Gott geschieht das „Erhört-Werden“ – und umgekehrt: das Erhört-Werden führt zu einer Er-Lösung, Befreiung von der Angst.

Was aber heißt Erhört-Werden? Erhört werden heißt: gehört werden. Meine Stimme ruft nicht ins Leere. Meine Stimme wird weder von der Stille verschluckt, noch tönt sie als leeres Echo auf mich zurück. Erhört werden heißt: meine Stimme findet ein Gegenüber, einen anderen, der mich hört. Erhört-Werden heißt: mein Leben geschieht in Beziehung: in Beziehung zu mir, zu meinen Mit-Menschen, zu meinem Gott. Solange ich mich in dieser Beziehung fühle, muss ich keine Angst haben. Und wieder gilt: arm dran ist nicht der, der schreit und fleht, der jammert und klagt – arm dran ist, wer sich aus dem Leben zurückgezogen hat, wer sich in unerreichbares Schweigen zurückgezogen hat. Arm dran ist, wer in seinen Gedanken um sich selbst kreist, wer unerreichbar geworden ist für den anderen. Nur wer ruft, hat die Chance gehört zu werden. Aber riskiert natürlich auch, überhört zu werden. Dieses Er-Leiden erspart sich, wer sich dem Leben, wer sich der Beziehung entzieht.

„Und er lernte, obschon der Sohn seiend, an dem was er erlitt, Gehorsam.“

Welch’ ein beruhigender Gedanke: jeder muss lernen, auch der Sohn Gottes selbst. Er kam nicht als erleuchteter Guru auf die Welt, über allem stehend. Wir glauben nicht an einen Supermann, sondern an einen Menschen aus Fleisch und Blut! Lernen müssen ist keine Schande, sondern eine Notwendigkeit. Und das heißt natürlich auch: Fehler machen ist keine Schande. Fehler sind dazu da, daraus zu lernen. Natürlich ist es schön, keine Fehler zu machen. Natürlich ist es gut, sich Mühe zu geben. Aber wir sind alle Menschen – und zum Mensch-Sein gehört das Fehler-Machen dazu.

So gesehen gäbe es überhaupt keinen Grund, sich über die Fehler anderer lustig zu machen. Ich sage bewusst gäbe, weil wir alle wissen, wie verführerisch es ist, sich über die Fehler und Schwächen der anderen zu erheben. Es ist ein Gefühl des Triumphes, auf das zu verzichten gar nicht so leicht ist. Die Kehrseite dieses Triumphes ist ein Gefühl der Kränkung: je weniger ein Mensch in seinem Selbst- und Gottvertrauen gefestigt ist, desto verletzender erlebt er es, wenn er einen Fehler macht, wenn ihm etwas misslingt. Es fehlt ihm eine gütige innere Stimme, die zu ihm sagt: „Ist doch nicht so schlimm! Jetzt geht es halt an der Stelle weiter.“

Wer keine Fehler machen darf, der hat es auch schwer mit dem Lernen aus Erfahrung. Der muss sich seine Erfahrungen so hinbiegen, dass der „Fehler“, dass das, was nicht glückte, ganz bestimmt nicht an ihm lag. Und er wird sich zurückziehen. Denn in der Einsamkeit kann man keine Fehler machen. Aber eben auch nichts lernen. Im um mich selbst kreisenden Rückzug gibt es keine Stimme, die mir wohlwollend zugewandt sagt: „Ist doch nicht so schlimm!“

Nur wer sich eingesteht, sich täuschen zu können, sich irren zu können, der kann auch lernen. Wobei dieses Lernen immer mit Schmerzen verbunden ist: es ist schmerzhaft, erfahren zu müssen, dass es nicht so ging, wie man es sich vorstellte. Ohne Leiden, ohne die Fähigkeit des Er-Leidens – geschieht kein Lernen aus Erfahrung. Es ist nötig „durch den Schmerz hindurch zu gehen“ – nicht um des Schmerzes willen, sondern um des Lernens, des Sich-Entwickelns willen!

Aus der Erfahrung seines Leidens hatte Jesus zu lernen – und zwar Gehorsam zu seinem Gott! Das Leben in Gottesfurcht ist also nicht nur keine Garantie für ein schmerzfreies Leben. Schlimmer noch: gerade erst im Schmerz, im Er-Leiden wächst, entwickelt sich der Gehorsam.

„Er lernte an dem, was er erlitt, Gehorsam.“ In „Gehorsam“ steckt „hören“. Heißt also freier übersetzt: „Er erlernte über sein Leiden das Hören – das Hören auf den Vater, das Hören auf Gott.“ Er lernte auf Gott zu hören in seinem Weinen, in seinem Ringen mit Gott. Er hörte so sehr auf Gott, dass er – obschon der Sohn seiend – zu seinem eigenen Sohn wurde.

Was heißt das? Wenn wir aufhören, Gott als alten Mann mit weißem Bart zu verniedlichen, dann bedeutet das Ringen mit Gott: das Ringen mit dem Leben selbst. Das Ringen mit dem Leben, so wie es mir geschickt wurde – das Ringen mit meinem Schicksal. Ich vermute, nahezu jeder von uns, die wir hier zusammen sind, könnte etwas beitragen zu dem Thema: „So habe ich  mir mein Leben nicht vorgestellt!“ Ich vermute, auch Jesus hat sich sein Leben anders vorgestellt. Er hatte gehofft, die Menschen zu erreichen mit seiner Predigt von der Liebe. Er hatte sich solche Mühe gegeben zu überzeugen. Und er hatte überzeugt. Viele waren ihm zugetan. Aber er hatte nicht mit der Macht des Establishments gerechnet. Das fühlte sich von seinen Gedanken, von seiner Lehre im Kern bedroht. Das Establishment ist wesentlich konservativ – und hierarchisch.  Jesus war ein Angreifer, ein Provokateur. Sicherlich auch aus Liebe. Aber auch aus Leidenschaft zur Wahrheit und zu seinem Gott. Und wohl auch aus Hass auf die religiösen Erstarrungen, repräsentiert durch die führende religiöse Schicht: durch die Pharisäer. Jesu radikale Gedanken brachten ihn neben der Zustimmung der Menge den vernichtenden Hass des religiösen Establishments ein. Die Denk-Gefäße des Establishments zerbrachen an der Wucht der Gedanken dieses Mannes aus Nazareth. So musste er hingerichtet werden. Seine Botschaft von der bedingungslosen Liebe Gottes, die keine Unterschiede macht zwischen arm und reich, oben und unten, Mann und Frau, Jude und Heide  sollte mit ihm sterben!

Jesus hatte also lernen, dass seine Entdeckung der Botschaft von einem nahen, von einem liebenden Gott nicht mit Jubel begrüßt wurde. (Das ist im übrigen das Schicksal vieler Entdecker und Neuerer, dass ihre Entdeckungen gerade nicht bejubelt werden) Und er musste lernen, dass dieser Gott, den er als seinen Vater verstand, ihm nicht machtvoll zur Seite stand. Er musste seine Ohnmacht und die Ohnmacht seiner Vaters aushalten. Und den Verrat durch seine engsten Freunde: Judas, aber auch Petrus. Jesus musste lernen, wie sich Verlassenheit anfühlt – bis hin zum „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Dieses Allein-Sein muss aushalten, wer es wagt, eigene Wege zu beschreiten. Wer eine Passion (eine Leidenschaft) hat, der riskiert, darin abgelehnt zu werden. Und wer als Passion die Predigt von der bedingungslosen Liebe Gottes hat, und erwartet, dass die anderen Menschen dieselbe Passion entwickeln, der muss sich eigentlich nicht wundern, dass er sich unbeliebt macht. Jesus ist seiner Passion treu geblieben. Darin ist er seinem Gott treu geblieben. Das ist seine „Leistung“, das ist das, weshalb wir „Ehre sei dir Christe!“ beten und singen – nicht für die Qualen der Kreuzigung, nicht für sein Märtyer-Sein – nein: für seine unerschütterliche Treue zu Gott, zu seinem Vater: auch in der Stunde größten Schmerzes, tiefster Ohnmacht. Und diese Treue zu Gott, dieses ganz tiefe Vertrauen zu Gott ist es, was ihn „vollendet hat“.

Der Weg des Gehorsams, des Hörens auf Gott und auf seine Gebote, führt zwar nicht zu schmerzfreiem Leben, aber es führt zu einem „vollendet werden“, zu einem „ganz werden“, zu einem „heil werden“. Der Weg Jesu führt zwar in die Schmerzen tiefer Verlassenheit, aber er führt gerade so darüber hinaus. Er führt zu einem neuen Heil, einer neuen Ganzheit, die wir als „Auferstehung“ bezeichnen.

Die „Auferstehung“ Jesu erscheint mir als die kopernikanische Wende seiner Gottesbeziehung. Wurde er in seinem irdischen Leben nicht müde, auf Gott hin zu predigen und zu leben – was ihn schließlich ans Kreuz führte, so lebte er nach der Katastrophe, nach der Vollendung seines Kreuzweges, von Gott her. Für den Auferstandenen ist die Last des Kreuzes abgefallen, sein Leben ist leicht und ruhig, sein „Joch ist sanft“ geworden. Er muss Gott nicht mehr gehorsam sein, weil er zum Gehorsam Gottes selbst geworden ist. Er muss keine Liebe mehr predigen, weil er zur Liebe selbst geworden ist. Er muss keinen Tod mehr fürchten, weil er zum Leben selbst geworden ist.

Und wenn es heißt: „so ist er allen, die ihm gehorsam sind, der Urheber ewigen Heils geworden“ – dann sind damit wir gemeint. Trauen wir uns, seiner Botschaft denselben unbedingten Gehorsam zu schenken, wie er seinem Vater gehorchte? Trauen wir uns, nicht nur über Liebe zu reden, sondern zu Liebenden zu werden? Trauen wir uns, eigene Wege zu beschreiten, Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit zu uns selbst und zu unseren Mitmenschen wichtiger zu nehmen als die Frage, ob wir dafür Anerkennung bekommen? Trauen wir uns, die unweigerlichen Schmerzen des Allein-Seins, des Nicht-Verstanden-Werdens zu ertragen? Trauen wir uns, von dem auferstandenen Gekreuzigten her zu leben?

Ich denke, diese Frage kann man nicht ein für allemal beantworten. Zum Glaube gehört der Zweifel, zum Leben gehört der Tod, zur Kreuzigung gehört die Auferstehung. Wenn wir dies in der Tiefe unserer Seele bejahen können, dann kann uns nicht mehr so viel passieren. Denn dieses Ja zum Leben gibt uns die Kraft, jeden Tag, der sich uns eröffnet, auch wirklich zu leben, neugierig darauf, was uns dieser Tag schenkt, und was wir vielleicht gerade zu lernen haben. Merken Sie den Passiv? Passiv und Passion hängen zusammen. Der Tag kommt auf uns zu und das beste, was wir machen können, ist, sich  ihm hinzugeben! Das vergessen wir so leicht, wenn wir in unser alt-vertrautes Gefühl des Sich-Abstrampelns kommen – so als müssten wir unser Leben neu erfinden! Müssen wir aber gar nicht! Und können wir auch gar nicht!

Und wenn der Tag dann zu Ende geht, dann können wir ihn freundlich loslassen, und ihn zurück legen in Gottes ewigen Schoß. Dankbar darüber, dass wir an dem Wunder des Lebens Anteil bekommen durften und das getan und gelassen haben, was uns eben gerade möglich war. Wenn wir das ehrlichen und treuen Herzens vor uns selbst und vor Gott tun – dann wirkt Jesu Gehorsam in uns weiter und wir können vertrauensvoll und zufrieden uns der dunklen Nacht überlassen. Und so „vollendet“ sich in den vielen Tagen, die uns geschenkt sind, unser Leben bis hin zu jenem unwiderruflich letzten Tag – an dem wir, wenn wir Glück haben, vielleicht noch einmal beten können:
„Ehre sei dir Christe, der du littest Not,
an dem Stamm des Kreuzes, für uns bittren Tod,
lebest mit dem Vater in der Ewigkeit,
führst uns arme Sünder zu der Seligkeit.“                                                                   AMEN.

Und die Liebe Gottes, die höher ist als all unsere menschliche Vernunft bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus AMEN.

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