Eine buddhistische Ostergeschichte

Die Begegnung – eine buddhistische Ostergeschichte

Der Mann hat die Mitte seines Lebens hinter sich. Er ist noch nicht wirklich alt, aber man sieht ihm an, dass er einen langen Weg gegangen ist. Der Mann ist allein. Sein Schritt ist fest, sein Gang aufrecht. Er scheint zu wissen, wo er hin will. Auch wenn ein Weg so recht nicht erkennbar ist. Die Landschaft ist eine Steppenlandschaft; steinig mit wenigen verdorrten Grasbüscheln. Dazwischen bräunlicher Sand.  Dem Auge stellt sich nichts in den Weg: kein Haus, kein Baum, nichts zum Sich-Festhalten.

Da sieht er ganz in der Ferne zunächst einen Punkt, dann eine Gestalt, schemenhaft erkennt er, es ist ein Mensch, ein Mann, der geradewegs auf ihn zu kommt. Irgendwie kommt er ihm bekannt vor, unendlich bekannt mit seinem langen lockigen braunen Haar, seinem eher spärlichen Bart der aus einem ausgemergelten Gesicht sprießt. Ein Gesicht, das viel Leiden gesehen, viel Schmerzen erlebt hat. An der Stirn sieht man Abdrücke, kreisrund, als hätte er einen Kranz mit Dornen getragen. Die warmen braunen Augen richten sich unverwandt auf den Mann.

 „Du bist Jesus“, sagt der Mann. „Dich habe ich mein Leben lang gesucht! Und jetzt, wo ich das Suchen aufgab, begegnest du mir!“ Jesus nickt lächelnd. „Ja, ich bin’s.“ Und schmun-zelnd fügt er hinzu: „Willst du mir nicht nachfolgen?“ Der Mann schüttelt den Kopf. „Jetzt nicht mehr“, sagt er leise. „Jetzt, wo ich weiß, wer ich bin und was ich zu tun habe“. Jesus schaut ihn unverwandt an. „Du kommst vom Berg.“ Der Mann nickt. „Ich bin dabei, nach Hause zu gehen.“  Seine Augen leuchten, als er dies sagt. Auch über das Antlitz Jesu huscht ein Strahlen.
„Endlich hast du verstanden“, sagt er.

Jetzt, wo der Mann seinem Jesus gegenüber steht, sieht er die Narben in seinem Gesicht und an seinen Händen. ‚Wie oft habe ich ihn verraten‘, denkt er sich, ‚ausgelacht, verspottet und verhöhnt‘. „Und gekreuzigt“, sagt Jesus, als hätte er seine Gedanken erraten. „Du hast dich so schuldig gefühlt. Das war unerträglich für dich. Und dann ging es wieder von vorne los. Ich musste viele Tode sterben und eben so oft auferstehen – bis wir heute uns begegnen können.“ Nach einer Pause fügt Jesus lächelnd hinzu: „Aber jetzt ist es gut!“ Der Mann nickt. „Gott sei Dank!“ Und mehr zu sich selbst murmelnd: „Ich kann es nicht fassen: ich bin wirklich frei. Deshalb muss ich dich nicht mehr töten.“

Die beiden Männer schauen einander schweigend voll Zuneigung in die Augen.
Sie haben das Gefühl, es ist alles gesagt.

„Schalom“, sagt Jesus, und er fügt hinzu: „mein Bruder“.
„Schalom mein Bruder“ erwidert der Mann.

Sie umarmen sich, küssen sich auf die Wange und gehen ihrer Wege.
Keiner schaut mehr zum anderen zurück.

Für kurze Zeit erinnern die Spuren im Sand noch an ihre Begegnung. Aber der Steppenwind hat sie schnell wieder verweht.      

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