Predigt über den Verrat des Judas am Sonntag Invocavit 2021 (Johannes 13,21-30)

Liebe Gemeinde,

die Dunkelheit der Nacht verbunden mit dem „Verrat“ führen in der Liturgie des christlichen Gottesdienstes zu seiner „heiligen Intimität“. Hier verlöschen die Suchscheinwerfer rationalen Denkens, die die Lebendigkeit im Dunklen vertreiben. So und nur so kann ein neues, ein aus einer anderen Welt leuchtendes Licht sichtbar werden und unsere Seele erhellen: „Der Strahl der Finsternis“ (Dionysius Pseudareopagita) erhellt die Dunkelheit so, dass das Leben vor ihm nicht flieht. Ja – mit ganz viel Geduld und etwas Glück wird Lebendigkeit im Dunkeln sichtbar.

Und es war Nacht“ – damit endet die Geschichte der Benennung des Verräters im Johannesevangelium. Die Nacht der Ernüchterung, der Enttäuschung: eben des Verrates. Jesus wurde „erregt im Geist“ – damit beginnt sie. Das Griechische „tarasso“ („erschüttern“) findet sich noch einmal in Johannes 11, 33 – auch hier in Verbindung mit heftigen emotionalen Turbulenzen. (Die Vulgata übersetzt das griechische „tarasso“ mit „turbare“.) Jesus, ein Mensch („ecce homo“), dem heftigste Gefühle nicht fremd sind. Wie es im Hebräerbrief heißt: „Denn er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen vor den gebracht, der ihn aus dem Tod erretten konnte“ (Hebr. 5, 7a). Und vorher: „Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir …“ (4, 15; vgl. 2, 18).

Es sind die Gefühle von Enttäuschung, die heftigste emotionale Turbulenzen in der menschlichen Seele auslösen. Und es ist zwar weise, schützt aber vor den zu erleidenden Gefühlen nicht, zu sagen: „Wie gut: Mit dieser Enttäuschung verlasse ich den Zustand der Täuschung!“ Je stärker ich meine Lebens-Sicherheit auf etwas „im außen“ gegründet habe, desto verzweifelter bin ich, wenn sich diese vermeintliche Sicherheit als Täuschung herausstellt. „Das habe ich nie von dir erwartet!“ „Ich bin so enttäuscht über dich!“ Wie viele Kinder, wie viele Eltern kennen wohl diesen Satz?

Der Gradmesser für die Belastbarkeit und damit für die Stärke von Beziehung ist, wie viel Enttäuschung in ihr Platz hat. Das heißt umgekehrt, je stärker eine Beziehung, desto mehr Raum ist in ihr für die Akzeptanz der Andersheit des jeweilig Anderen. In einer schwachen Beziehung hingegen wird Befriedigung erwartet: „Indem du meine Erwartungen befriedigst, stabilisierst du mich!“ Dies ist die Sollbruchstelle des Scheiterns von Beziehung. „Indem du meine Erwartungen enttäuschst, will ich nichts mehr mit dir zu tun haben.“ Die Geschichte, die uns heute zum Nachdenken anregen kann, handelt eben davon: vom Zerbrechen einer Beziehung. Erzählt wird sie aus der Sicht Jesu und seiner Jünger. Die Gefühle, Motive, emotionalen Turbulenzen des „Verräters“ finden keine Erwähnung. Es ist zu vermuten, dass auch Judas gequält war von Enttäuschung. Er hatte sich seinen „Herrn und Meister“ wohl anders vorgestellt. Wie genau, kann rückblickend nur spekuliert werden. Vielleicht war ihm Jesus zu „fromm“, zu unentschlossen, zu wenig bereit zum Handeln. Vielleicht war Judas der Meinung, über das Reich Gottes wurde genug gepredigt, jetzt muss es aber auch realisiert werden! Jedenfalls ist seine Beziehung zu Jesus an seiner Enttäuschung über ihm zu Bruch gegangen. Und zwar so, dass Judas sich nicht „im Guten“ von Jesus trennen kann. Im Verrat bleibt er an ihn gebunden: Es ist sein aus der Enttäuschung quellender Hass auf Jesus, der verhindert, dass Judas frei wird.

Dies ahnt der „im Geist erregte“ Jesus: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Einer von Euch wird mich verraten.“ Jetzt ist es ausgesprochen! Und alle sind verunsichert: Es wurde ihnen „bange“. Na klar – Misstrauen keimt auf: Er sagt einer von uns – aber wer jetzt genau? Einmal mehr ist es der pragmatische Petrus, der aus der Sprachlosigkeit heraus findet. Nicht so, dass er selbst mit einer klärenden Frage auf Lösung dringt, sondern er versucht über Johannes, den „Jünger, den Jesus lieb hatte“, Klarheit zu bekommen. Dies gelingt bedingt: „Der ist’s, dem ich den Bissen eintauche und gebe.“

Die Benennung des Verräters geschieht in der höchsten Intimität des gemeinsamen Mahles. Das ist an Grausamkeit schier nicht mehr zu überbieten. Hier kippt die leidenschaftliche Jüngerschaft. „Und nach dem Bissen fuhr der Satan in ihn.“ Es ist keine aktive Entscheidung: Judas ist der „Leidtragende“. Er stellt sich, seinen Willen, seine Überzeugungen dem Satan zur Verfügung. Jesus spürt dies: Der Bogen ist maximal gespannt. Es ist kaum mehr auszuhalten, auch nicht für Jesus. „Was du tust, das tue bald!“ Auf dass es vorbei ist. Die Jünger kapieren nichts. Versuchen Erklärungen aus der Welt des Alltäglichen. Auch Judas erträgt die Spannung nicht länger: „Als er nun den Bissen genommen hatte, ging er alsbald hinaus. Und es war Nacht.“

Hier ist es nicht die „dunkle Nacht der Seele“ (Johannes vom Kreuz) – es ist die dunkle Nacht des Selbstverrates. Judas verrät sich nämlich in der Tiefe selbst. Er verrät seine eigene Liebes-Beziehung zu Jesus, indem er ihn „ausliefert“ – und zwar an seinen eigenen Hass. Die Liebes-Beziehung ist zerbrochen. Damit verrät Judas alles, woran er bis dahin geglaubt hatte, was ihm wertvoll erschienen war.

Das deutsche Verb „verraten“ (griechisch „paradidomi“, lateinisch „tradere“, vgl. „Tradition“) schillert: Ich verrate jemandem (Dativ!) ein Geheimnis im Sinne von „ich ziehe ihn ins Vertrauen“ – oder eben ich „verrate“ jemanden (Akkusativ!), führe ihn ins Verderben. Und in der kabbalistischen Mystik wird die „Nähe“ der Schlange, Symbol des Satans, zum Messias betont: Beide, Schlange (nachasch) und Messias (maschiach) haben denselben Zahlenwert. Der Kabbala zufolge bedeutet dies, dass es beide Male um Erlösung geht. Der radikale Unterschied ist: Während die Erlösung durch den Messias eine „zu erleidende“ ist, ist die Erlösung der Schlange eine „zu machende“. Es ist der homo faber, der mit der Schlange im Bunde ist. Es ist der „Macher“, der sich von dem „Ihr werdet sein wie Gott“ verführen lässt. „Tu’s einfach“, flüstert der Satan. „Sei doch nicht so dumm! So eine Gelegenheit bekommst du nie wieder!“ Es ist das „Tun“ des ungehemmten Triebes. Dies kann der sexuelle Übergriff (Stichwort: „Missbrauch“) sein. Es kann die körperliche Züchtigung, die Ausübung körperlicher Gewalt sein. In jedem Falle gibt es kein „An-sich-Halten“ mehr. Die Triebnatur des Menschen bricht durch. Die Geschichte des Christentums ist auch die Geschichte einer unheilvollen Unterdrückung der menschlichen Triebe mit der logischen Folge zerstörerischer Triebdurchbrüche. Oder, einfacher formuliert: Es ist auch die Geschichte der Entmischung von Liebe und Hass!

Als Judas von Jesus das in den Wein eingetauchte Brot erhält, „fuhr der Satan in ihn.“ Nicht länger wollte er der Empfangende sein. Nicht länger wollte er „gefüttert“ werden. Er wollte im wahrsten Sinne des Wortes „mündig“ sein. Es gibt Babys, die statt von der Brust zu trinken in die Brustwarze beißen. Dies ist in der Regel der Ausdruck von: „Ich bin jetzt groß genug, ich möchte nicht länger gestillt werden, ich kann selber beißen“. Wenn dies als Aggression und Undankbarkeit fehl gedeutet wird, entsteht der Glaube, sich die Welt anzueignen, mündig und autonom zu werden, ist böse. Dies schürt Hass. Und Hass verhindert Abschied. Hass macht Trennung „im Guten“ unmöglich. Im Hass bleibt der Mensch gebunden an den Anderen. Die „Pseudotrennung“ im Hass ist der Verrat. Im Verrat übt der Verräter Rache an dem, was ihm seiner Meinung nach angetan worden ist. In Wahrheit wurde ihm nichts angetan, sondern er hat sich freiwillig auf eine Beziehung eingelassen, die ihn immer mehr enttäuschte. Lange Zeit wollte er sich seine Enttäuschung darüber nicht eingestehen, stattdessen hoffte er, dass der Andere schon noch im Sinne seiner eigenen Erwartungen sich verändern würde. Das Milieu des Verrates ist also eine Abhängigkeitsbeziehung. Aus Abhängigkeit kann weiterer Hass auf die Abhängigkeitsgefühle selbst quellen: „Ich hasse dich dafür, dass ich mich von dir derart abhängig fühle!“

In wechselseitiger Freiheit ist Verrat unnötig. Wechselseitige Freiheit und gegenseitige Freigabe ist das Milieu, in dem Liebe wächst. Wenige Verse nach der Geschichte des Verrates durch Judas heißt es: „Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe …“ (V. 34a) Dies ist Beziehung in Freiheit. Während Liebe loslässt und auf die Macht der Kontrolle verzichtet, klebt Hass fest. Es fehlt die seelische Kapazität, die Freiheit des Anderen mitzutragen. Dazu bedarf es die Bereitschaft, liebevoll und vertrauensvoll dem Anderen gegenüber zu stehen. Für den johanneischen Christus ist das das Kennzeichen von Kirche: „Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.“ (V. 35) Das „Untereinander-Liebe-Haben“ möge denen ihre Identität geben, die sich „Jünger Jesu“ nennen! Die Geschichte der christlichen Kirche(n) lehrt, wie schwierig, ja vielleicht unmöglich es ist, auf dem Boden gegenseitiger Liebe die Identität einer Gruppe zu gründen. Viel einfacher ist es, auf dem Boden kontrollierender Macht Identität zu stiften. Gegenseitige Liebe verzichtet auf Kontrolle. Sie führt in die Freiheit demokratisch-wertschätzenden Miteinanders. Sie anerkennt die Verschiedenheit des Anderen und nimmt sich zurück. Sich selbst, die eigenen Impulse nach Gleichschaltung des Anderen zu hemmen, ist eine Fähigkeit, die nur über das Erlernen von Liebe erlangt werden kann. Einer Liebe, die in geschwisterlicher Eintracht lebt mit Freiheit und Wahrheit. Wie schön wäre es, Jesu Jünger daran zu erkennen, dass sie untereinander Liebe üben, die Unerkennbarkeit der Wahrheit gemeinsam anerkennen und so sich gegenseitig voller Vertrauen in Freiheit begegnen. Ich weiß, das klingt nach einem Traum. Ebenso wie die Vorstellung, dass Judas letztlich doch den Weg ins Paradies findet. Dieser wahrlich revolutionäre „Traumgedanke“ ist übrigens in einem romanischen Kapitell in Vézelay in Stein gehauen! Das wäre ein anderer Aspekt von „dunkler Nacht“: In ihr keimt eine neue, sogar grausamen Verrat tragende und ertragende Barmherzigkeit, die auf jene „andere“ Welt verweist, die ab und an mit ihrem „dunklen Strahl“ in diese unsere „blendende“ Welt hineinleuchtet. Wer die Geduld aufbringt, seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen, wird ihn immer häufiger wahrnehmen können. AMEN.

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